Literatur: Schweine im Ornat

Nr. 36 –

Weder Zeit noch Raum erweisen sich als verlässlich: Der dritte Roman von Isabel Waidner erzählt mit surrealen Bildern und derbem Humor von einem Hate Crime und der folgenden Rache – und das alles ohne Regeln.

Portraitfoto von Isabel Waidner
Literatur ist immer auch ein Labor: Isabel Waidner. Foto: Robin Silas Christian

Sterling, nonbinär und Migrant:in, wird im eigenen Wohnquartier in London von einer Gruppe Stierkämpfer:innen gewaltvoll attackiert. Stierkämpfer:innen in London? Dies ist erst der Anfang eines ereignisreichen Parforceritts, auf den Isabel Waidners Buch einen mitnimmt, durch queere Popkultur, Fussball, Überwachungstechnologien, Modetrends und die Skandale der Tory-Politik. Der Roman der englischen, nonbinären Autor:in mit dem leicht umständlichen deutschen Titel «Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken» ist ein wenig wie der Besuch eines Punkkonzerts: Man benötigt allenfalls einen Moment, um sich darauf einzustellen und sich dem schnoddrigen Ton, dem wilden Szenenwechsel hinzugeben. Und wenn der Sog des Textes einen dann doch reingezogen hat, ist man längst bereit zu akzeptieren, dass an diesem Ort andere Regeln gelten und manchmal gar keine. Dann wird es ziemlich schnell ziemlich gut. Und auch lustig.

Erzählt wird die Geschichte der Hauptfigur Sterling, die nach der Stierkampfattacke grundlos verhaftet wird und vor Gericht landet, sich dann aber mit der Unterstützung von Freund:innen am willkürlichen Justizapparat rächt. Angesiedelt irgendwo zwischen Franz Kafka, «Alice im Wunderland» und den Filmen von Ken Loach, schreitet das Geschehen voran und folgt dabei höchstens einer Art Traumlogik. Weder Zeit noch Raum erweisen sich als verlässlich, die Figuren bewegen sich in diesem Kosmos nach Belieben, wenns sein muss auch mit einem Raumschiff und in die Vergangenheit.

Wer kackt gelbe Pellets?

Als Sterling vor Gericht steht, klingt das so: «Der hohe Richterstuhl. Halb Thron, halb Toilette. Eine Person unter dem Hochsitz – eien Gerichtsreporterni? – kackt gelbe Pellets ins Loch, eine andere pisst hinein, die Hygiene ist im Gerichtssaal heutzutage ein Schlüsselthema.» Im Saal sitzen Schweine in Ordenskluft und halbe Körperteile mit Zweigen als Füsse – das Szenario ist so durchgedreht wie der ganze Roman.

Waidners Ton ist derb und voller Humor, die Themen, von denen der Roman handelt, aber bitterernst. Was heisst es, «unter von anderen diktierten Bedingungen zu existieren? In jemand anderes Gewaltfantasie?», fragt Sterling an einer Stelle den Richter. Und spricht an, worum es diesem Roman geht, nämlich um nichts weniger als die Ohnmacht marginalisierter Menschen in der Brexit-Nation. Mit unzähligen surrealen Bildern nähert sich Waidner den Strukturen, die rassistische, klassistische oder homofeindliche Gewaltfantasien erst hervorbringen.

«Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken», im englischen Original «Sterling Karat Gold», hat 2021 in Grossbritannien den renommierten Goldsmiths Prize erhalten, der für besonders unkonventionelle Literatur verliehen wird. Damit hat sich Waidner endgültig aus den experimentelleren Avantgardekreisen Englands in die etablierte Szene manövriert. Die Grenzen zwischen sogenannter E- und U-Kultur, die englische Verlagslandschaft und ihre Gatekeeper, aber auch queere Subkulturen in der Literatur und queeres Schreiben generell: Das sind Themen, die Waidner im eigenen (auch essayistischen) Schreiben beschäftigen. Auf Englisch ist bereits Waidners vierter Roman, «Corey Fah Does Social Mobility», erschienen; auch dieser wird in der britischen Presse geradezu euphorisch besprochen.

Zu fremd die Muttersprache

Isabel Waidner ist Mitte der neunziger Jahre, mit zwanzig Jahren, von Deutschland nach London gezogen und lebt dort als Autor:in und Kulturtheoretiker:in. Obschon also deutscher Muttersprache, schreibt Waidner auf Englisch – zu fremd sei die Muttersprache für ein künstlerisches Schreiben.

Mit Ann Cotten fand sich auch das ideale Gegenüber für die Übersetzung. Cotten, prägende Figur subkultureller deutschsprachiger Gegenwartsliteratur und ebenfalls an der Schnittstelle von Theorie und Kunst tätig, hat Waidners Sound gekapert und dem Roman mit Sprachspielereien und Assoziationen erkennbar den eigenen Stempel aufgedrückt; nicht zuletzt, indem sie in der deutschen Fassung mit dem «polnischen Gendering» , einer Form gendersensibler Sprache, gearbeitet hat, «in der alle für alle Gender benötigten Buchstaben in gefälliger Reihenfolge ans Wortende gelegt werden», wie es in einer Bemerkung zur Übersetzung heisst. Stierkämpfer:innen werden so zu Stierkämpfernnnie, die Gerichtsreporter:in eben zu Gerichtsreporterni, er, sie zu sier.

Das mag anfänglich etwas kompliziert daherkommen, und man stolpert beim Lesen über die ersten All-Gender-Wortbildungen, bis es erstaunlich schnell selbstverständlich wird. Im Übrigen: Solange in der deutschen Sprache offizielle Pronomen für nonbinäre Personen fehlen, kann nicht oft genug mit Formen des Genderns experimentiert werden. Die Literatur ist hier auch Labor.

Isabel Waidners Erzählen ist ein sich befreiendes Schreiben innerhalb eines politischen (und auch sprachlichen) Systems, das diese Freiheit permanent beschneidet und bedroht. Die Fiktion als Ort unbegrenzter Möglichkeiten wird dabei ernst genommen. Worüber sich Waidner jedoch selbst in der wildesten Fiktion keine Illusionen macht, sind die gesellschaftlichen Verhältnisse. Sexualität und Klasse: Sie bilden die Basis der Werke, von der aus Waidner die Figuren abheben lässt, manchmal in Ufos und ganz bestimmt immer in eine unerwartete Richtung.

Buchcover von «Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken»
Isabel Waidner: «Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken». Roman. Aus dem Englischen von Ann Cotten. Dumont Verlag. Köln 2024. 192 Seiten. 34 Franken.