Literatur: Delia ist Lyrik, Drama und Prosa zugleich
Expliziter Sex und humorvolle Dialoge: Hengameh Yaghoobifarahs neuer Roman «Schwindel» überzeugt durch seine formale Experimentierfreude.

Es ist bedrückend: Kaum ein Blick in die Zeitung vergeht ohne eine Krisenmeldung. Dieser Schwere setzt Hengameh Yaghoobifarah mit einem Roman über Verlangen und Sinnlichkeit den Taumel auf dem Dach eines Grossstadthauses entgegen. Dort haben sich vier queere Menschen versehentlich ausgesperrt, und die Spannung untereinander ist gross: Drei von ihnen haben eine romantische Beziehung zur Vierten.
«Schwindel» ist Yaghoobifarahs zweiter Roman. Die nonbinäre Person ist journalistisch tätig und befasst sich kritisch und scharfzüngig mit Rassismus, Polizeigewalt und Sex. Über mehrere Jahre schrieb Yaghoobifarah in der «taz» die Kolumne «Habibitus», 2023 wurden diese Texte im gleichnamigen Band veröffentlicht (siehe «wobei» Nr. 3/23). Zuvor hatte Yaghoobifarah nach einer «taz»-Kolumne, in der Polizist:innen als Müll bezeichnet wurden, deutschlandweite Bekanntheit erlangt. Infolge der Morddrohungen, die dieser Kolumne folgten, war Yaghoobifarah gezwungen, den Wohnort zu wechseln.
Die «Beziehungsmatrix» zerbricht
Ava, wie die Herzensbrecherin in «Schwindel» heisst, erinnert mit ihrem Beziehungsverhalten an eine queere Polyversion von Charlie Harper aus «Two and a Half Men»: Ihre Partner:innen wechseln schnell, vor allem dann, wenn es ernst wird. Vertrautheit und Geborgensein werden langweilig, Distanz und Ablehnung ziehen an. In ihrem Freundeskreis prahlt sie damit, dass sie mit einer «Milf» schläft, also einer Mutter, die man sexuell anziehend findet – obwohl die Frau, um die es geht, gar keine Mutter ist.
Dates kann Ava auch schon mal nahtlos aneinanderreihen. Normalerweise geht diese «Beziehungsmatrix», wie sie das nennt, auch auf. Nur dieses Mal hat sie Pech, und die Konsequenzen ihres Verhaltens holen sie ein. Erst kommt Delia nach dem Date nochmals zu Ava zurück, weil das Ladekabel liegen blieb; allerdings ist Robin, die nächste Affäre, schon da.
Als sei dieses Zusammentreffen zweier Liebhaber:innen nicht schon genug, poltert irgendwann auch Silvia herein, jene Milf, die von Ava, nachdem die erste Verliebtheit abgeflaut war, ohne ein Wort des Abschlusses ignoriert worden war. Drei Liebhaber:innen in einem Zimmer: Das überdehnt die Beziehungsmatrix; selbst Ava überfordert so viel Konfrontation, und sie rennt aus der Wohnung aufs Dach, wohin ihr die anderen folgen. Plötzlich fällt die Tür zu, aber niemand hat den Schlüssel. Willkommen in der Hölle: vier Menschen, die Liebe und das Unvermögen, sich selbst für sie zu riskieren.
Yaghoobifarah präsentiert mit «Schwindel» einen intimen Roman, in dem der Sex der Figuren ebenso explizit beschrieben wird wie die vielseitigen Beziehungsprobleme des polyamourösen Viererkonstrukts. Die Direktheit der Figuren und ihre Streitgespräche, in denen sich wechselnde Fronten gegen Ava formieren, sorgen für humorvolle Szenen. Dass Yaghoobifarah die Perspektive wechselt und aus der Sicht aller vier Figuren erzählt, gibt den Leser:innen das Gefühl, alles über das Quartett auf dem Dach zu wissen. Die Perspektivwechsel gehen auch mit sprachlichen Unterschieden einher: Wenn Delia erzählt, gibt es keine Gross- und Kleinschreibung, und ganz selbstverständlich setzt Yaghoobifarah die nonbinären Personalpronomen «dey» und «demm» ein.
In Rückblenden entfalten sich die Biografien der einzelnen Protagonist:innen – ähnlich wie in Fatma Aydemirs «Dschinns». Mit Aydemir gibt Yaghoobifarah die Literaturzeitschrift «Delfi» heraus, und vor fünf Jahren haben die beiden gemeinsam den rassismuskritischen Band «Eure Heimat ist unser Albtraum» veröffentlicht. Doch während in «Dschinns» die Perspektivität wie ein Geflecht die Verbundenheit einer migrantischen Familie herausarbeitet, stehen die vier Erzählstränge bei Yaghoobifarah parallel. Zwar kommen die anderen Figuren in den Rückblenden vor, aber ohne dass sie die Handlung vorantreiben würden, sodass Yaghoobifarah jeden der vier narrativen Fäden auch als einzelne Kurzgeschichte hätte aufziehen können. Die Romangegenwart bleibt inhaltlich arm, und gegen Ende wirkt der Handlungsverlauf unvorbereitet und abrupt. Doch schliesslich sorgt gerade der Schwindel auf dem Dach erzählerisch für jene notwendige Schwerkraft, die die Handlung zusammenhält.
Formale Experimentierfreudigkeit
Die Stärke des Romans ist seine formale Experimentierfreude: Yaghoobifarah bricht punktuell Gattungsgrenzen auf, indem Gedichte und Elemente konkreter Poesie in den Roman eingebaut werden. Spannenderweise kommen diese vor allem in denjenigen Passagen vor, in denen aus Delias Perspektive erzählt wird. Dass diese lyrischen Momente mit dem Blickwinkel der transmaskulinen Lesbe Delia zusammenfallen, schafft literarisch einen Raum, in dem nicht nur Gender-, sondern auch Gattungsgrenzen überschritten werden. Delia ist Lyrik, Drama und Prosa zugleich. Es ist eine interessante Pointe, dass die literarischen Stärken des Romans dort hervortreten, wo mit Delia aus der Perspektive der Figur mit den grössten Selbstzweifeln erzählt wird.

Hengameh Yaghoobifarah liest im Rahmen der Buchbasel am Fr, 15. November 2024, um 16.30 Uhr. buchbasel.ch