Literatur: Seine Tankstelle heisst Heine
Jetzt mal schön der Reihe nach: Saša Stanišić spielt virtuos mit dem Erzählen als Möglichkeitsform und weicht so die Barrikaden auf, die Literatur nach Zielgruppen unterteilen.
Wer hat eigentlich so harte Grenzen zwischen Kinderbüchern und Literatur für Erwachsene gezogen? Gerade im deutschen Sprachraum müsste man es doch besser wissen. Schon die Gebrüder Grimm hatten schliesslich ihre Märchen nicht eigens für Kinder gesammelt – es war vor allem auch verlegerisches Kalkül, dass daraus ein Kinderbuch wurde. Soll sich jetzt also niemand darüber wundern, dass das patenteste neue Wort in deutscher Sprache in einem Roman mit Altersempfehlung «ab 11 Jahren» zu finden ist.
«Andersig» heisst dieses Wort; erfunden hat es Saša Stanišić in seinem Buch «Wolf» (2023). Darin landet ein Junge sehr widerwillig, weil er Natur generell ablehnt, in einem Ferienlager im Wald – und merkt dort, dass es solche gibt, die noch weniger dazugehören als er. «Natürlich sind wir alle anders, bla bla», meint der Ich-Erzähler da. Aber manche würden eben «von den anderen noch mal andersiger gemacht». Nicht Eigenschaft also, sondern ausgrenzende Zuschreibung: «Man kann jemanden nämlich absichtlich verandern. Sorry, mir fallen nur erfundene Wörter ein.»
Stanišić weiss, wie das ist, wenn man verandert wird. Es ist ein Motiv, das sich durch sein Werk zieht: etwa in «Herkunft» (2019), seinem autofiktionalen Roman über die Flucht seiner Familie aus Bosnien und ihre Ankunft in Heidelberg, und jetzt auch in seinem neusten Buch mit dem Gedächtnistrainingstitel «Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Giesskanne mit dem Ausguss nach vorne». Zum Beispiel, als der jugendliche Saša einmal von Polizisten angehalten wird, weil er mit seinem Kumpel im «falschen», also wohlhabenden Quartier unterwegs ist: «Ich mochte nicht, dass wir die Anwesenheit unserer Körper in diesem Land permanent erklären mussten. Ich mochte nicht, dass ich wegen einer Sprache, die ich unvollständig sprach, behandelt wurde, als sei ich unvollständig.» Oder eben: andersig.
Hochsitz auf Helgoland
«Der Hochsitz» heisst diese Geschichte, in der Stanišić auch davon erzählt, wie er Schriftsteller wurde. Denn so, wie er in «Herkunft» eine Aral-Tankstelle zu einer sozialen Utopie erhob, so dient hier der Hochsitz im Wald als Zuflucht, wenn der jugendliche Saša allein sein will. Das heisst, allein mit den Büchern: Franz Kafka, Hans Fallada und vor allem Heinrich Heine, dieser Revolutionär im Exil. In seinem Sommer mit Heine auf jenem Hochsitz, schreibt Stanišić, sei er wohl zum Schriftsteller geworden – im deutschen Wald, während er gleichzeitig auf Helgoland gesichtet wurde. Aber Moment mal, wie konnte einer seine Schulferien zugleich auf Helgoland und auf einem Hochsitz in der Kurpfalz verbringen?
Da wären wir nun allmählich bei dem hochgradig verspielten Zauber, der von diesem Roman ausgeht. Roman? Nun ja, wer wollte denn gleich wieder so harte Grenzen ziehen. «Bitte der Reihe nach lesen» lautet die Direktive, die Stanišić dem Buch als Motto vorangestellt hat. Muss man nicht restlos befolgen, aber es hilft: der Reihe nach, wie einen Roman eben. Die darin versammelten Geschichten stehen zwar für sich und stehen doch in oft unverhofftem Austausch miteinander. Die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit sind hier durchlässig, auch physikalische Regeln sind manchmal ausgesetzt: Für eine Figur bleibt buchstäblich die Zeit stehen, eine andere berauscht sich an Mückenvertilgungsmittel und deklamiert danach plötzlich klassische deutsche Lyrik.
Quasi als Rahmenhandlung schlagen ein paar Jungs im Sommer 1994 die Zeit tot, und dann hat einer von ihnen eine Idee: Wie wärs, wenn es einen Proberaum gäbe, in dem man verschiedene mögliche Zukünfte für sein Leben anprobieren könnte? Das ist lose angelehnt an das Motiv des Multiversums, aber hier aus der Perspektive migrantischer Jugend geboren: Wo finden wir die Parallelwelt mit der geilen Zukunft, die in dieser Gesellschaft für uns nicht vorgesehen ist?
Lieber kein Risiko mit Jazz
Oder dann die alte Witwe, für die sich jetzt, da sie allein ist, jeder Tag wie ein Dienstag anfühlt: Was stehen ihr noch für mögliche Zukünfte und neue Verbindungen offen? Sie könnte wieder mal in die Kulturkirche: «Ausser, es gab Jazz. Menschen, die Jazz hören? Gisel wollte lieber kein Risiko eingehen.» So weicht Stanišić nicht nur die Barrikaden auf, die Literatur nach Zielgruppen unterteilen (die eine oder andere Erzählung im Buch eignet sich ganz gut zum Vorlesen ab ungefähr zehn Jahren). Der Autor spielt vor allem auch – leicht im Ton, extrem komisch, hochkomplex – mit dem Erzählen als Möglichkeitsform.
Besonders virtuos tut er dies in der Erzählung mit sehr langem Gedichtzitat im Titel. Sie handelt von besagtem Ausflug nach Helgoland, wobei der Ich-Erzähler ständig kommentiert, was ihm der Autor in der Geschichte aufträgt. Etwa dass er im ersten Absatz ein Bier bestellt, weil der Autor das so geschrieben habe. Dabei hätte er doch lieber eine Limo, wie er gleich moniert: «Warum habe ich keine Limo bestellt?» So geht das weiter in dieser postmodernen Stilübung über ein geklautes Kneipenschild. Das ist dermassen selbstreferenziell verspiegelt, dass es fast wieder nervt – bis die Erzählung den traurigen Hintergrund dieser scheinbar manierierten Spielerei preisgibt. So viele doppelte Böden in diesem Text – und dann so bodenlos berührend.
Saša Stanišić: «Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Giesskanne mit dem Ausguss nach vorne». Luchterhand. München 2024. 256 Seiten. 34 Franken.
Saša Stanišić liest in: Basel, Literaturhaus, Fr, 30. August 2024, 19 Uhr (ausverkauft); St. Gallen, Raum für Literatur/Hauptpost, Sa, 31. August 2024, 20 Uhr.