Film: Glühwürmchen, glüh!

Nr. 38 –

Im letzten Teil der sehr menschlichen «Tier-Trilogie» von Ramon und Silvan Zürcher verheizen sich die Mitglieder einer Familie gegenseitig – bis etwas ganz anderes Feuer fängt.

Filmstill aus «Der Spatz im Kamin»: Karen (Maren Eggert) und ihre Familie in der Küche
Im Strudel von giftiger Kontrolle, Abgrenzungsnöten und transgenerationalen Traumata: Karen (Maren Eggert) und ihre Familie. Filmstill

Glühwürmchen erlöschen, wenn sie einen Geschlechtspartner gefunden haben: «Die Weibchen legen ihre Eier und sterben, die Männchen fliegen davon.» Seescheiden hingegen fressen ihr Gehirn auf, sobald sie sich niedergelassen haben. Was den Vorteil hat, dass sie ihre Entscheidung nicht bereuen können. Die Biologin Liv (Luise Heyer) weiss viel über das Paarungs- und Bindungsverhalten von Tieren, lebt selbst aber allein – seit ein paar Monaten im kleinen Waldhäuschen gegenüber von einem schönen alten Einfamilienhaus, mit dessen Bewohner:innen sie bald mehr als nur ihr biologisches Wissen teilt.

Ramon und Silvan Zürcher begannen ihre «Tier-Trilogie», wie sie ihre Filmreihe selbst nennen, vor elf Jahren: «Das merkwürdige Kätzchen» (2013) war eine hypersensible Betrachtung scheinbar banaler Interaktionen zwischen Menschen, Tieren, Küchenmaschinen, Gebrauchsgegenständen und Lebensmitteln in einer Wohnung im Lauf eines Wochenendtags. Dann folgte «Das Mädchen und die Spinne» (2021) über die flüchtigen, aber intensiven Beziehungen innerhalb einer Wohn- und Hausgemeinschaft aus der Perspektive ihrer dünnhäutigsten Mitglieder. Beide Filme wurden mehrfach ausgezeichnet und brachten Kritiker:innen reihenweise ins Schwärmen für ihre «wunderbare Fremdheit», wie Lukas Foerster im «Perlentaucher» schrieb.

«Der Spatz im Kamin» beschliesst nun die Trilogie, wobei die Ausgangslage ähnlich ist wie damals in «Das merkwürdige Kätzchen»: Die erweiterte Familie kommt zusammen, noch während die Vorbereitungen für ihre Zusammenkunft laufen. Im Gegensatz zum ersten Teil ist die Stimmung aber von Anfang an im Keller: kein Lachen, kein Spielen, kein Jauchzen, sogar Hund und Katze wirken bedrückt.

Mutter versprüht Gift

Im Zentrum der ganzen Lieblosigkeit steht Karen (Maren Eggert), die mit ihrer Familie im Haus ihrer verstorbenen Eltern wohnt. Sie liegt noch im Bett, als ihr Sohn Leon (Ilja Bultmann) sie daran erinnert, dass gleich die Gäste kommen. Karens Schwester Jule (Britta Hammelstein) reist mit Anhang an, um den Geburtstag von Karens Mann Markus (Andreas Döhler) zu feiern. Das Abendessen steht schon bereit, Leon, eigentlich noch zu jung für das Ausmass seiner Kochkünste, hat an alles gedacht. Seine kleine Cousine begrüsst er auch schon im strengen Tonfall seiner Mutter: «Deine Schuhe sind schmutzig, zieh sie aus!»

Beängstigend teilnahmslos und irritierend sanft versprüht Karen reihum ihr Gift in der Familie: Sie spottet über das medaillenverdächtige Müllrausbringen ihres Mannes, nennt ihre schwerpubertierende mittlere Tochter im Streit einen «Krüppel», und ihre dauergutgelaunte Schwester Jule ein «Monster». Sie werde immer mehr wie ihre verhasste Mutter, kontert diese, und irgendwann wünscht sogar der harmoniebedürftige Leon seiner Mutter den Tod.

Wo die Mutter schwächelt, glänzt die Nachbarin. Wie ein hungriges Glühwürmchen auf dem Haus einer Schnecke ergreift Biologin Liv jede Gelegenheit, sich ihrer Beute zu nähern: Sie führt den Hund aus, hütet die Kinder und schläft mit Markus. Die Seescheide, die sie Leon geschenkt hat, thront hirnlos, aber bedeutungsschwanger in einem Glas auf der Küchenanrichte. In der Mikrowelle zerspringt Grossmutters Goldrandteller, und über allem brummt das unheilvolle Schleudern der Waschmaschine.

Bis das Trauma in Rauch aufgeht

Mit «Der Spatz im Kamin» sind die Brüder Zürcher am dunkelsten Ende des Spektrums menschlichen Bindungsverhaltens angelangt – da, wo die Liebe vor lauter Einengung, Überbeanspruchung und Kontrolle in Hass umschlägt, der die ganze Familie vergiftet. Ramon und Silvan Zürcher sind Zwillinge. Ihre Zusammenarbeit – Ramon ist Regisseur, Silvan Produzent, die Drehbücher haben sie abwechselnd geschrieben – sei eng, so erklärten sie nach der Premiere ihres neuen Films in Locarno: nicht reibungslos, aber weitgehend «symbiotisch». Ihre Themen – Abgrenzungsnot, Bindungshemmung, Familiendynamiken – hätten viel mit ihnen selbst und ihrer Zwillingsbeziehung zu tun. Und die Mutter? Die beiden lachen. «Nicht autobiografisch.»

Humor ist eine gute Voraussetzung, um sich dem bizarren Kosmos der Zürcher-Brüder zu nähern. Besonders die «biopolaren» Mutterfiguren, Meisterinnen liebenswürdiger Bosheiten und boshafter Liebesbekundungen, wie Silvan sie im Zusammenhang mit «Das Mädchen und die Spinne» in einem Interview mit dem «Filmexplorer» beschrieb, sind nicht nur brutal traurig, sondern auch lustig brutal. Ähnliches gilt für all die kreuchenden und fleuchenden Metaphern und die Anleihen beim Genrekino. Sie sind übertrieben, klar, aber darin besteht gerade ihr Reiz. Mit ihnen steigern die Zwillinge ihr meisterhaftes Spiel mit innerer und äusserer Wahrnehmung ins Traum- und Wahnhafte, zu einer Kitsch-Positivity, die etwas Befreiendes hat – wie das Leuchtfeuer, in dem die Familie ihr transgenerationales Trauma am Ende erleichtert in Rauch aufgehen sieht.

Die vermeintliche Rabenmutter ist bloss ein Spatz im Kamin, gefangen im traditionellen Familienmodell mit seinen besitzergreifenden bürgerlichen Beziehungsnormen. Der letzte Teil der berückenden «Tier-Trilogie» von Ramon und Silvan Zürcher ist ein glühendes Plädoyer dafür, endlich die Klappe zu öffnen.

«Der Spatz im Kamin». Regie und Drehbuch: Ramon Zürcher. Schweiz/Deutschland 2024. Jetzt im Kino.