Geschichte: Eine Frage des Prinzips
Gegen neokoloniale Geschichtsumdeutungen: In «Zeit der Finsternis» schildert der Schriftsteller und Politiker Shashi Tharoor mit Verve, was das Britische Empire auf dem indischen Subkontinent angerichtet hat.
Es ist wohl selten so, dass eine geschichtspolitische Diskussionsveranstaltung zum Internethit wird. Genau das aber geschah 2015, als die Oxford Union Society, ein traditionsreicher Debattierklub, in der englischen Universitätsstadt zur Diskussion der Frage lud, ob Grossbritannien seinen ehemaligen Kolonien Reparationen schulde. Redner war damals auch Shashi Tharoor. Der indische Schriftsteller und Politiker zeichnete dabei ein eindrückliches Bild vom britischen Imperialismus und führte mit sarkastischem Witz jene vor, die das europäische Herrschaftsstreben als Wohltat für die einst Kolonisierten umdeuten. Das Video von seinem Auftritt wurde millionenfach im Netz geteilt.
Tharoor, der für die säkular-liberale Kongresspartei im Parlament in Neu-Delhi sitzt, nahm das zum Anlass, seine Rede schriftlich auszuformulieren und dabei gründlich zu erweitern, woraus ein 2017 veröffentlichtes Buch entstand. Nun ist es als «Zeit der Finsternis. Das Britische Empire in Indien» auch auf Deutsch erschienen – mit sieben Jahren Verzögerung und doch noch immer zur richtigen Zeit: Gerade heute zählt die pauschale Verdammung postkolonialer Geschichtsschreibung zu den Leitmotiven rechtskonservativer Polemik.
Neue Perspektiven
Letzteres illustriert beispielsweise ein NZZ-Artikel vom Januar, dessen Autor unter dem Titel «Wir sind nicht an allem schuld» von den Früchten seiner Weihnachtslektüre berichtete. Deren Ergebnis: «Der wahre Grund für den Aufstieg des Westens war nicht Plünderung, sondern die genuin westlichen Institutionen: Rechtsstaat, freie Märkte, soziale Mobilität.» Aha, so ist das also gewesen!
Um solch intellektuell ambitionslose Geschichtsumdeutung geht es auch immer wieder explizit in Tharoors Buch – etwa dort, wo er sich mit dem rechten schottischen Historiker Niall Ferguson befasst. Seine Zielgruppe ist dabei nicht einmal primär ein Publikum im Globalen Norden, er richtet sich ausdrücklich auch an Inder:innen – im Vorwort schreibt der Autor, dass viele seiner Landsleute auf seinen Auftritt in Oxford so reagiert hätten, als wären sie überrascht von dem, was er ihnen da berichtete. Aber nicht nur den Nachfahr:innen der einst Kolonisierten dürfte «Zeit der Finsternis» neue Perspektiven eröffnen.
Das beginnt etwa damit, dass Tharoor schiefe Vorstellungen über die historische «Rückständigkeit» bestimmter Weltteile zurechtrückt. Als 1600 die East India Company gegründet wurde, die eine Schlüsselrolle bei der Unterwerfung Südasiens unter britische Herrschaft spielen sollte, fielen auf Indien 23 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung. Grossbritannien brachte es zu diesem Zeitpunkt nur auf 1,8 Prozent. Indien ist also keineswegs seit jeher «unterentwickelt» gewesen, sondern war schon früh eine Wirtschaftsmacht. Das gilt übrigens auch für China, was nachvollziehen lässt, warum in diesen Staaten die globale Machtverschiebung heute eher als überfällige Korrektur denn als etwas nie Dagewesenes begriffen wird.
Gezielte Deindustrialisierung
Dass die Brit:innen sich überhaupt auf dem Subkontinent breitmachen konnten, wurde durch die schwere Krise begünstigt, in die das dortige Mogulreich im 18. Jahrhundert geraten war. 1765 erzwang die East India Company vom Grossmogul das Recht, in Bengalen Steuern zu erheben – für Tharoor ein Schlüsselmoment: «Ein internationales Unternehmen mit einer eigenen Privatarmee und Fürsten vor Ort, die sich ihm zu fügen hatten, war damit offiziell zu einem Unternehmen geworden, das Steuern eintrieb. Indien war auf immer verändert.»
Bis dahin hatte das Land noch eine florierende Textilindustrie, die in Südasien produzierten Stoffe erfreuten sich in Europa grosser Nachfrage. Bald aber schnitten die Brit:innen Indien systematisch von Exportmärkten ab, liessen Webstühle bengalischer Weber:innen zerstören und erhoben hohe Zölle und Abgaben. Der Produzent wurde zum Importeur: Im 19. Jahrhundert vervielfachte sich die Menge der jetzt aus Grossbritannien nach Indien eingeführten Textilien.
Mitunter werde infrage gestellt, so Tharoor, wie schlimm es überhaupt gewesen sei, dass das Land gezielt deindustrialisiert wurde: «Verteidiger des Britischen Empire» würden anführen, dass die indische Textilproduktion sowieso früher oder später von der aufkeimenden Industrialisierung in Europa weggefegt worden wäre. Wäre es aber prinzipiell nicht genauso denkbar gewesen, fragt der Autor, dass sich Indien seinerseits modernisiert hätte, wäre es nicht unters koloniale Joch gezwungen gewesen?
Verräterische Etymologien
Dazu kamen unglaubliche Mengen an Reichtum, die durch mehr oder minder direkte Ausbeutung nach Europa strömten. Tharoor zitiert einen französischen Botschafter in London, der einmal bemerkte, dass «nur wenige Könige in Europa» vermögender seien «als die Direktoren der englischen East India Company». Darüber war man sich auch in London im Klaren. Der britische Schriftsteller und Politiker Horace Walpole stellte schon 1790 fest: «Was ist England heutzutage? Ein Abflussrohr für indischen Reichtum.» Vielsagend auch, dass sich das englische Wort «loot», plündern, vom Hindi-Begriff «lut» für gestohlenes Eigentum ableitet.
So erahnt man allmählich, wie es möglich war, dass ein kleines Inselkönigreich das grösste Imperium der Menschheitsgeschichte errichten konnte. Andererseits verweisen Fürsprecher:innen des Empire immer wieder darauf, dass man den Brit:innen zumindest zugutehalten müsse, die Ideen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit («rule of law») nach Südasien gebracht zu haben. Tatsächlich ist die heutige indische Verfassung nach westlichem Vorbild gestaltet. Tharoor aber hatte bereits in Oxford festgehalten, dass man Menschen «nicht 200 Jahre lange unterdrücken, versklaven, töten, verstümmeln und foltern kann, um dann den Umstand zu feiern, dass sie am Ende demokratisch sind».
Was die genannten Gräueltaten angeht, liefert Tharoor nun konkrete Zahlen nach. Allein die Zahl der indischen Hungertoten unter britischer Herrschaft schätzt er auf über 35 Millionen. Unter Berufung auf den Ökonomen Amartya Sen argumentiert er – auch das ein neue Sichtweisen eröffnender Gedanke –, dass Hungerkrisen grundsätzlich nicht etwa «aus einem Mangel an Nahrungsmitteln resultieren, sondern aus fehlendem Zugang zu Nahrungsmitteln». Hunger ist immer politisch, könnte man sagen. So verweigerten die Brit:innen aus wirtschaftsliberalem Dogmatismus wiederholt staatliche Gegenmassnahmen, im Glauben, dass «der Markt» schon von selbst «ein angemessenes Gleichgewicht wiederherstellen» würde.
Als etwa 1943 vier Millionen Bengal:innen an Hunger starben, liess die britische Regierung unter Winston Churchill weiter Nahrungsmittel exportieren, unter anderem, um europäische Vorräte in Griechenland aufzustocken: Der Tod der «ohnehin unterernährten Bengalen» sei «weniger schwerwiegend» als derjenige der «kräftigen Griechen», meinte Churchill, der bis zuletzt ein erbitterter Feind Mahatma Gandhis und der indischen Unabhängigkeitsbewegung war.
Ausführlich schildert Tharoor überdies die britische Politik des «Teile und herrsche», die darauf abzielte, Gräben zwischen Hindus und Muslim:innen zu vertiefen. Dies befeuerte politische Affekte, die in der Abspaltung von Pakistan und Bangladesch resultierten. Es lässt sich zumindest erahnen, dass auch der Vormarsch des Hindunationalismus in der jüngeren Vergangenheit mit der kolonialen Vergangenheit zu tun haben dürfte.
Liest man all dies, kann man nur staunen über einen Gegenwartsdiskurs, der mitunter den Eindruck vermittelt, das Hauptproblem am Kolonialismus wäre, dass man über ihn spricht. In seiner Oxford-Rede hatte Tharoor die Idee ins Spiel gebracht, Grossbritannien solle zwei Jahrhunderte lang jährlich ein Pfund als Wiedergutmachung an Indien zahlen. Es gehe nicht um die Höhe des Betrags, sondern darum, ganz grundsätzlich anzuerkennen, was der Kolonialismus faktisch war: ein Unrecht historischen Ausmasses. Das wäre wohl auch ein guter Ausgangspunkt für zukünftige Debatten.