Libanon: Der tägliche Wahnsinn

Nr. 39 –

Es begann mit Pagerexplosionen am Dienstag vor einer Woche. Und setzt sich fort mit Bombardements der israelischen Armee: Unsere Korrespondentin über die neue Realität in und um die libanesische Hauptstadt.

Freiwillige tragen in Sidon Matratzen für Geflüchtete zur Notunterkunft in einer Schule
Freiwillige tragen in Sidon Matratzen für Geflüchtete zur Notunterkunft in einer Schule. Foto: Mohammed Zaatari, Keystone

«Unsere Situation gleicht jener, bei der jemand aus dem Flugzeug fällt und dem Boden immer näher kommt. Jetzt sind wir kurz davor, auf dem Boden aufzuschlagen», sagt Schadi Nasr. Er sitzt auf einem Plastikstuhl vor seinem Café an der Corniche al-Masraa in Beirut und deutet die Strasse hinunter. «Schau, wie leer es hier ist», sagt er, «dabei ist heute Samstag.»

Der Aufschlag kam zwei Tage später. Am frühen Montagmorgen begann die israelische Luftwaffe, Dörfer und Strassen im Südlibanon zu bombardieren. Doch dieses Mal sind es nicht mehr einzelne Angriffe wie das ganze letzte Jahr über, seit die schiitische Hisbollahmiliz am 8. Oktober begann, Raketen Richtung Israel zu schiessen. Es ist ein Flächenbombardement, das bis in die Dörfer um die Stadt Sidon reicht, vierzig Kilometer südlich der Hauptstadt Beirut.

Es ist die Eskalation, vor der seit einem Jahr so viele warnen.

Wie schnell diese Tage vergingen. Zu schnell, um mit dem täglichen Wahnsinn mitzukommen, um die neue Realität in Echtzeit zu begreifen, die das Land seit Dienstag vor einer Woche erfasst hat, als Tausende Pager gleichzeitig in den Hosentaschen oder den Händen von Hisbollahmitgliedern explodierten – es dauerte Stunden, wenn nicht Tage, bis viele Menschen begriffen, was das zu bedeuten hatte. Zu unglaublich war das, was da passierte. Wie aus dem Drehbuch eines billigen Horrorfilms.

Menschen wie Geister

An jenem Dienstagabend fuhr Lama Dirani, nachdem sie von den Angriffen gehört hatte, mit ihrem Motorrad vom Ausgehviertel Mar Mikhaël, wo sie in einer Bar arbeitet, Richtung Süden. Noch am Morgen hatte sie mit ihrer Mitbewohnerin darüber gesprochen, einen neuen Fernseher kaufen zu wollen. Als sie Shiah erreichte, das Viertel, in dem ihre Eltern leben, hielt sie an. Ungläubig beobachtete sie die Szene auf der Strasse, die voller Autos und heulender Krankenwagen war. Die Menschen seien wie Geister umhergelaufen. «Man sah ihnen an, wie schockiert sie sind.» Am Abend redeten Dirani und ihre Mitbewohnerin nicht mehr über einen Fernseher, sondern darüber, Dosen und eingemachtes Gemüse zu lagern.

Es hiess, die mutmasslich von langer Hand geplante Attacke des israelischen Geheimdiensts habe gedroht aufzufliegen. Deswegen hätten sie die Pager in einem Moment gezündet, in dem die Eskalation noch immer erst vor der Tür stand. Dennoch zeigte sich am nächsten Tag, dass die Pagerexplosionen nur der Auftakt waren. Am Mittwoch explodierten Hunderte Walkie-Talkies, manche davon auf Beerdigungen jener Hisbollahmitglieder, die am Tag zuvor gestorben waren. Die Unsicherheit der Menschen wuchs zur Panik an.

Am Donnerstag, während der Rede des Hisbollahchefs Hassan Nasrallah, stellten viele ihre Handys ab und verstauten sie. Gerüchte kursierten, weitere Telefone könnten explodieren.

Das Surren der Drohnen

Am Freitag bombardierte die israelische Luftwaffe ein Haus im Dahieh, den südlichen Vororten Beiruts. Mindestens zehn hochrangige Hisbollahmitglieder wurden dabei getötet, dazu Dutzende Zivilist:innen. In der Nacht auf Samstag war über Beirut ununterbrochen das Surren israelischer Drohnen zu hören. Die Gespräche der Menschen unter ihnen sprangen hin und her: zwischen den Kleinigkeiten des Alltags, so wie er eben noch war – und dem Versuch, für das Unbekannte zu planen, das immer näher zu kommen scheint.

Dann kam der Montag. Und mit ihm der brutalste Angriff der israelischen Armee auf Libanon, in diesem Krieg, der inzwischen fast ein Jahr dauert. Die Zahl der Getöteten schoss im Lauf des Tages in die Höhe: Am Nachmittag meldete das Gesundheitsministerium über 100 Tote, am frühen Abend über 300, gegen Mitternacht fast 500. 500 Tote an nur einem Tag. Das ist fast die Hälfte der Zahl jener Menschen, die im vergangenen Krieg zwischen Israel und der Hisbollah 2006 innerhalb eines Monats getötet wurden.

Der Krieg hat die Menschen eingeholt, auch jene, die die Möglichkeit einer grossen Eskalation bisher verdrängten. Nun gibt es keinen Zweifel mehr, kein Entrinnen davor, dass das Land in einer neuen Realität angekommen ist.

Niemand weiss, wohin

Gegen Abend stauten sich am Montag Zehntausende Autos auf der Küstenautobahn vom Süden her Richtung Beirut. Koffer auf den Dächern. Vollgepackt mit Menschen, die vor den Bombardierungen fliehen. Dutzende Autos, die am Strassenrand stillstehen. Vermutlich, weil die Menschen darin nicht wissen, wohin sie fliehen sollen. Wer kein Auto hat, sitzt fest. Kaum ein Taxi wagt sich derzeit in die Dörfer in den südlichen Hügeln. Niemand weiss, wo die israelische Luftwaffe als Nächstes bombardiert.

Auf den Seitenstrassen im christlichen Achrafieh-Viertel Beiruts sind die Strassen an diesem Montagabend gespenstisch ruhig, nur an den Tankstellen stauen sich die Autos. Die Eltern haben ihre Kinder früh abgeholt, am nächsten Tag sind die Schulen geschlossen. Wer ein Zuhause hat, bleibt zu Hause. Freund:innen fragen herum, ob jemand jemanden kennt, der eine Wohnung hat. Die Bilder, die über den Fernseher flimmern, zeigen riesige Rauchpilze, die nach dem Donnern des Einschlags in den Himmel steigen.

Am Morgen des gleichen Tages, als die israelische Luftwaffe den Süden und den Osten des Landes bombardiert, steht Dschihad Saade in einem kargen Seiteneingang des Rafik-Hariri-Krankenhauses, des grössten öffentlichen Spitals des Libanon. Hier hat das Krankenhaus in den letzten Monaten die Notfallstation eingerichtet, wohin im Fall eines Grossangriffs die Dutzenden Verletzten gebracht werden.

Seit einem Jahr bereitet es sich auf diesen Moment vor, führt regelmässig Trainings durch. Man versucht, zusätzliches Pflegepersonal zu rekrutieren. Wegen der Wirtschaftskrise, die den Libanon vor fünf Jahren traf, fehlt dem Spital fast die Hälfte des Personals.

Die Vorräte, die das Spital lagert, reichten für zehn Tage – für den Fall, dass die Strassen blockiert sind und nichts mehr importiert werden kann. «Dabei rechnen wir mit fünfzig Patienten pro Tag», sagt Saade, der Spitaldirektor. «Aber wenn es plötzlich 500 pro Tag wären, dann würden die Vorräte nicht so lange reichen.»

Bisher waren das für den Direktor alles theoretische Überlegungen. «Bis jetzt dachte ich nicht, dass es zu einem grossen Angriff kommen würde», sagt er. «Doch das hat sich geändert.» Jetzt hat der Direktor ein Feldbett in sein Büro gestellt, um im Notfall rund um die Uhr im Spital bleiben zu können. Am selben Abend wird es dauern, bis die ersten Verletzten aus dem Süden eintreffen. Wegen des kilometerlangen Staus auf der Autobahn aus dem Süden nach Beirut kommen sie erst Stunden später in der Notfallstation des Rafik-Hariri-Spitals an.

Bald Bodentruppen?

Auch in Hamra, dem zentralen Geschäftsviertel Beiruts, stauen sich die Autos am Dienstag dieser Woche noch mehr als sonst. Ein Teil der Fahrbahn wird von geparkten Autos verstellt. Aus dem Akil Bros, einem grossen Hausartikelladen am Eingang des Viertels, kommen Frauen mit Decken und Kissen in Plastiktüten.

Die öffentlichen Schulen wurden zu Flüchtlingsunterkünften umfunktioniert. In manchen von ihnen gibt es auch am Dienstagabend noch keinen Strom, in anderen fehlen Matratzen. Aktivist:innen versuchen, über die sozialen Medien die Versorgung zu organisieren. Wenn es nicht Armeemitglieder sind, die an den Eingängen der Unterkünfte stehen, sind es die Mitglieder der politischen Parteien, die mit der Hisbollah verbündet sind. Journalist:innen ist der Zutritt zu den Unterkünften verboten.

Das Rollfeld des Flughafens Beirut ist ausgestorben. Fast alle ausländischen Fluggesellschaften haben ihren Betrieb nach Beirut eingestellt. Die Website der libanesischen Airline ist zusammengebrochen, die Flüge über Tage hinweg ausgebucht.

Am Mittwoch kündigt die israelische Armee an, dass sie bald Bodentruppen über die Grenze schicken könnte.