Geflüchtete im Libanon: Am nächsten Tag: Krieg

Nr. 42 –

Mehr als eine Million Menschen mussten im Libanon vor den israelischen Luftangriffen fliehen. In Notunterkünften wie Beit Shabeb finden sie vorläufig Zuflucht.

Blick über die Dächer des zentrallibanesischen Dorf Beit Shabeb
Sicherer Hafen in katastrophaler Zeit: Eine Schule im zentrallibanesischen Dorf Beit Shabeb beherbergt rund 140 im eigenen Land Vertriebene.

Mit ihrer Schwester, ihrer Mutter und ihrem Bruder sitzt Malak, die nur ihren Vornamen nennen möchte, an einem Tisch, darauf ein Kännchen starker libanesischer Kaffee. Die drei Frauen teilen sich zwei Wasserpfeifen, der Bruder raucht eine Zigarette. Es könnte ein normaler Samstagnachmittag sein, tränke die Familie den Kaffee nicht aus Pappbechern statt aus Porzellantässchen. Und sässe sie anstatt auf ihrem Balkon nicht im Hof einer Schule, die über Nacht zur Notunterkunft für Binnenvertriebene umfunktioniert wurde, im zentrallibanesischen Dorf Beit Shabeb.

Die 31-jährige Malak und ihre Familie stammen aus Sour (Tyros), einer Stadt im Südlibanon etwa 25 Kilometer vor der Grenze zu Israel. Zu normalen Zeiten ist Sour ein beinahe idyllischer Ort: Am Hafen liegen Fischerboote, am Sandstrand sind oft kopftuchtragende Mütter, rauchende Jungs und Schwimmerinnen im Bikini anzutreffen. Im Zentrum reihen sich bunt gestrichene Häuser in engen Strassen aneinander, nahe dem Hafen bleibt der Weihnachtsbaum das ganze Jahr über stehen. Doch bei genauerem Hinschauen werden die Spuren der Hisbollah in der Stadt und um sie herum sichtbar: Die Fahne der libanesischen, vom Iran unterstützten Schiitenmiliz weht an Pfosten im Hafen. Und in den Strassen blicken für sie gefallene Männer von Märtyrerplakaten herab.

Malak und ihre Familie sind Ende September aus Sour geflüchtet, vor dem Krieg zwischen der Hisbollah und dem israelischen Militär. Seit einem Jahr hörten sie immer wieder die Explosionen der gegenseitigen Beschüsse. Dann, am 23. September, kam ihnen der Krieg auf einmal ganz nahe: Das israelische Militär intensivierte seine Offensive gegen angebliche Hisbollahstellungen im Südlibanon, viele Orte wurden zur Evakuierung aufgefordert, mehr und mehr Menschen flohen. Die Autobahn Richtung Beirut war verstopft, manche Flüchtenden brauchten für die achtzig Kilometer bis in die Hauptstadt einen ganzen Tag.

Malak hatte Glück im Unglück: Sie und ihre Familie entschieden sich frühzeitig zur Flucht. Es blieb ihnen Zeit, ihre Taschen zu packen: Kleidung, auch wärmere für den kommenden Winter, Make-up und die beiden Wasserpfeifen. Auch auf der Suche nach einer Unterkunft hätten sie Glück gehabt, erzählt sie. Als die Fluchtbewegung aus dem Südlibanon begann, wussten viele Menschen nicht wohin. Manche versuchten, bei Verwandten unterzukommen, andere landeten auf der Strasse. Am zentralen Platz der Märtyrer in der Hauptstadt Beirut und an der Strandpromenade schlafen auch fast vier Wochen später noch Menschen unter freiem Himmel. Bekannte hätten ihnen von der Schule in Beit Shabeb erzählt, sagt Malak. Als die Familie dort ankam, waren noch Plätze frei.

Volle Unterkünfte

Im Obergeschoss des Gebäudes lebt Malak mit ihren Verwandten in zwei Zimmern: eines für die Frauen und Mädchen, eines für die Männer und Jungs. Insgesamt sind sie zu neunt, darunter auch die Kinder von Malaks Schwester und der Ehemann ihrer Mutter, der an Krebs leidet und seine Tage im Bett verbringt.

Die Notunterkunft in Beit Shabeb ist eine von über tausend im Libanon. In ihnen haben rund 190 000 der mehr als einer Million Menschen, die in den letzten Wochen vertrieben wurden, Zuflucht gefunden. Laut den Behörden sind sie alle bereits voll belegt. Auch in Beit Shabeb gibt es keine freien Zimmer mehr, die etwa 140 Bewohner:innen haben sich auf alle Klassenzimmer verteilt. Das Dorf gilt als sicher: Es ist vor allem christlich besiedelt, die Hisbollah ist hier nicht präsent.

Der Alltag in der Notunterkunft ist durchorganisiert: Frühstück, Mittag- und Abendessen werden abwechselnd von der Caritas und der lokalen Kirchgemeinde geliefert. Die Bewohner:innen werden für Dienste eingeteilt, etwa zum Abwischen der Tische in der Aula nach den gemeinsamen Essen. Im Keller gibt es nun zwei Waschmaschinen, jede Familie bekommt ein Zeitfenster zum Waschen. Kleidung und Handtücher trocknen auf langen Wäscheleinen im Hinterhof. Auch behelfsmässige Duschen wurden installiert.

Mariam, die ebenfalls nur ihren Vornamen nennen möchte, hat sich gerade die Haare gewaschen und sitzt in Pullover und Jeans im Hof. «Naiman!», rufen ihr einige Bewohnerinnen zu. Der Ausdruck ist schwierig zu übersetzen. Man sagt ihn sich nach einer Dusche oder nach einem Haarschnitt – eine Art Segen für Sauberkeit. «Das Wetter ist schön heute», sagt Mariam und steckt ihre Haare mit einer Klammer zusammen, in der warmen Luft des Spätsommers trocknen sie schnell. Gemeinsam mit ihrer Familie ist die Zwölfjährige Ende September aus Dahieh geflüchtet, dies ist ein Sammelbegriff für die schiitisch geprägten südlichen Vorstädte Beiruts. «Ich hatte gerade all meine Schulsachen gekauft», sagt sie. «Und am nächsten Tag: Krieg.»

Am 27. September flog das israelische Militär Luftangriffe auf den Süden der libanesischen Hauptstadt. Es zielte damit auf den Hisbollahführer Hassan Nasrallah, der sich in einer Bunkeranlage unter Wohngebäuden in einem Viertel von Dahieh befand. Nasrallah starb beim Angriff, die Gebäude darüber stürzten ein. Die Detonation und die schwarze Rauchwolke, die sich danach ausbreitete, waren kilometerweit zu spüren und zu sehen. In der Nacht darauf intensivierten Israels Streitkräfte ihre Luftangriffe in Südbeirut und riefen die Bewohner:innen zur Evakuierung auf. Schon am Abend, an dem Nasrallah starb, und vor allem am Tag darauf leerten sich die Vorstädte. Wie zuvor aus dem Südlibanon flüchteten Tausende vor dem Krieg.

Einen Tag später kam Mariam mit ihren Eltern, einer Schwester und einem Bruder in Beit Shabeb an. Auch sie teilen sich ein Zimmer. «Es ist schön hier», sagt sie. Das Essen sei gut, und unter der gespendeten Kleidung fänden sich hübsche Stücke. Viel zu tun gibt es für Mariam allerdings nicht. Eine Schule besucht sie derzeit nicht, wie die meisten geflüchteten Kinder und Jugendlichen. Jüngst hatte der libanesische Bildungsminister angekündigt, das neue Schuljahr solle am 4. November offiziell beginnen. Auch zum Teil oder ausschliesslich online zu lernen, soll ab dann möglich sein.

Steht das Haus noch?

Es fühle sich an, als habe jemand ihr Leben pausiert, findet Malak. Sie stellt sich darauf ein, länger in Beit Shabeb zu bleiben. Vielleicht suche sie sich hier bald eine Arbeitsstelle, sagt sie – als Verkäuferin in einem Supermarkt, wie vor ihrer Flucht. Wie ihre Heimatstadt Sour aussehen wird, wenn sie dereinst dorthin zurückkehren kann, weiss Malak nicht – und auch nicht, ob ihr eigenes Haus überhaupt noch steht. Die Nachrichten verfolge sie kaum. In Beit Shabeb scheint der Krieg weit weg. Das Dorf liegt auf einer Anhöhe nordöstlich von Beirut. Blickt man ins Tal, glitzert unten das Mittelmeer. Nur ganz leise, sagt sie, seien ab und an in der Nacht die Explosionen der Bomben in Beirut zu hören.

Beit Shabeb wirkt auf den ersten Blick idyllisch: die Ruhe, die sich sanft im Wind wiegenden Blätter der Bäume, in der Ferne das Meer. Auch hier muss man genau hinblicken, um die Zeichen des Ausnahmezustands, in dem sich das ganze Land befindet, zu erkennen: die Schulstühle, auf denen die Menschen im Hof sitzen; die Matratzen und Bettgestelle in den Klassenzimmern; die Pappbecher anstelle von Tassen.