Fredric Jameson (1934–2024): Wenn die Toten nicht wissen, dass sie gestorben sind

Nr. 40 –

Wie man die Dinge manchmal auf den Kopf stellen muss, um sie richtig zu erkennen, und warum der Marxismus erst in der Psychoanalyse seine ganze Wahrheit entfaltet: eine Verabschiedung des US-amerikanischen Ausnahmetheoretikers Fredric Jameson.

Portraitfoto von Fredric Jameson
«Immer historisieren!»: Viele von Fredric Jamesons Sätzen wurden zu Memes. Foto: Duke University

Fredric Jameson war nicht nur ein intellektueller Gigant und das letzte wahre Genie im Denken der Gegenwart. Er war auch ein unvergleichlicher westlicher Marxist, der furchtlos die Gegensätze erfasste, die unseren ideologischen Raum definieren. Er war ein «Eurozentrist», dessen Werk in Japan und China grossen Widerhall fand; ein Kommunist, der Hollywood liebte, vor allem Hitchcock, und Krimis, vor allem Raymond Chandler. Er war ein Musikliebhaber, der in Wagner-Opern, Bruckner-Sinfonien und Popmusik gleichermassen eintauchen konnte. Cancel Culture mit ihrem steifen, falschen Moralismus war ihm und seinem Werk fremd. Man könnte argumentieren, dass er die letzte Renaissancefigur war.

Sein ganzes langes Leben hat er gegen das Fehlen eines «cognitive mapping», wie er es nannte, einer «rationalen Kartografierung», angekämpft: gegen unsere Unfähigkeit, unsere Erfahrungen in ein sinnvolles Ganzes einzuordnen. Die Instinkte, denen er folgte, täuschten ihn nie, etwa als er mit einem geschickten Seitenhieb gegen die in den Kulturwissenschaften modisch gewordene Zurückweisung jeder «binären Logik» eine «allgemeine Feier der binären Gegensätze» ausrief: Für ihn war etwa die Negierung der sexuellen Zweigeschlechtlichkeit dasselbe wie eine Ablehnung des Klassengegensatzes.

Immer noch schockiert über Jamesons Tod, kann ich hier nur ein paar beiläufige Beobachtungen teilen, die sich hoffentlich zu einer Kostprobe seines Denkens zusammenfügen.

Moden der Linken

Marxist:innen weisen heute in der Regel jede Art von Unmittelbarkeit scharf zurück: Sie sei ein Fetisch, der die soziale Verfasstheit von allem verschleiere. Doch in seinem Meisterstück zu Theodor W. Adorno entfaltet Jameson, wie eine dialektische Analyse ihre eigene Suspendierung enthält. In «Adorno oder Die Beharrlichkeit der Dialektik» zeigt er, wie Adorno inmitten einer komplexen Analyse von Vermittlungszusammenhängen plötzlich bei einer vulgären Geste des «Reduktionismus» Zuflucht sucht. Er unterbricht seinen raffinierten dialektischen Gedankenfluss mit einer simplen Bemerkung wie «Letztlich geht es eh um den Klassenkampf». Und genau so funktioniert der Klassenkampf innerhalb einer gesellschaftlichen Totalität. Er ist nicht ihr «tieferer Grund», nicht ihr darunterliegendes Strukturprinzip, das alle Einzelteile vereint, sondern etwas viel Oberflächlicheres: der Moment des Scheiterns der ganzen endlosen und komplexen Analyse, ein verzweifelter Sprung vorwärts zu einer Schlussfolgerung; der Moment, wenn wir resigniert unsere Hände gegen den Himmel heben und sagen: «Am Ende geht es immer um den Klassenkampf!»

Slavoj Žižek

Der slowenische Denker ist einer der weltweit bekanntesten Intellektuellen. «Elvis der Kulturtheorie» nannte man ihn auch schon oder den «gefährlichsten Philosophen des Westens». Was wohl vor allem damit zu tun hat, dass der 75-Jährige seit vielen Jahrzehnten auch politisch kein Blatt vor den Mund nimmt und oft das Gegenteil von dem sagt, was gerade in Mode ist. In seinen zahllosen und in viele Sprachen übersetzten Büchern und Essays kombiniert er auf unorthodoxe, komplexe und stets unterhaltsame Weise Philosophie, Popkultur, Marxismus und Psychoanalyse. Als Einstiegslektüre empfehlen sich «Die Tücke des Subjekts» und «Liebe Dein Symptom wie dich selbst!».

Was man nicht vergessen sollte: Dieses Scheitern einer Analyse ist der Realität immanent. So hält sich die Gesellschaft durch ihren grundlegenden Antagonismus zusammen. Mit anderen Worten: Der Klassenkampf ist die schnelle Pseudototalisierung, wenn eine korrekte Totalisierung scheitert; ein verzweifelter Versuch, den Antagonismus selbst als Prinzip einer Verknüpfung von allem mit allem zu benutzen.

Unter heutigen Linken ist es modisch geworden, Verschwörungstheorien als falsche oder allzu simple Lösungsangebote zurückzuweisen. Jameson hingegen hat schon vor Jahren klar festgehalten, dass im aktuellen globalisierten Kapitalismus Dinge geschehen, die sich nicht einfach mit einem vagen Verweis auf «die anonyme Logik des Kapitals» erklären lassen. Heute wissen wir zum Beispiel, dass der Finanzcrash von 2008 tatsächlich das Resultat einer gut geplanten «Verschwörung» einzelner Finanzkreise war. Die entscheidende Aufgabe einer sozialen Analyse muss es deshalb sein, herauszufinden, wie der zeitgenössische Kapitalismus zum Einfallstor für solche «verschwörerischen» Interventionen werden konnte.

Hartgesottene Sätze

Wie alle guten Marxist:innen war Jameson in seinen Literaturanalysen ein strikter Formalist. Über den US-Schriftsteller Ernest Hemingway hat er einmal geschrieben, dass dessen prägnanter Stil der knappen Sätze, die beinahe ohne Adverbien auskommen, nicht etwa dazu da sei, einen bestimmten Figurentypus formal zu untermalen, also etwa das für Hemingway charakteristische einsame, hartgesottene zynische Individuum. Genau das Gegenteil sei wahr: Hemingway hat seine literarischen Inhalte, seine Geschichten über verbitterte, harte Individuen nur deshalb erfunden, damit er eine bestimmte Art von Sätzen schreiben konnte – was von Anfang an sein eigentliches Ziel war.

In seinem bahnbrechenden Aufsatz «Über Raymond Chandler» entwickelt Jameson ein ähnliches Argument. Er beschreibt eine typische Technik von Chandler. Dieser arbeitet mit der klassischen Krimiformel, also mit einem Detektiv, der im Verlauf seiner Ermittlungen mit allen Schichten der Gesellschaft in Kontakt kommt. Diese Formel stellt ihm den Rahmen bereit, in den er seinen eigentlichen Inhalt füllen kann: all die sozialen und psychologischen Aperçus, die anschaulichen Charakterporträts und Einblicke in menschliche Abgründe. Das dialektische Paradox, das hier aufblitzt: Es wäre falsch zu fordern, der Schriftsteller solle die Krimiform doch gleich ganz aufgeben und uns stattdessen die reine Kunst anbieten. Wer das sagt, fällt einer perspektivischen Illusion zum Opfer. Er oder sie übersieht: Wenn der formale Rahmen wegfällt, verlieren wir auch den kostbaren «künstlerischen» Inhalt, den die Form des Krimis nur vermeintlich verzerrt.

Eine weitere von Jamesons einzigartigen Errungenschaften ist seine Lektüre von Karl Marx durch die Brille des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan. Ich erinnere mich immer noch lebhaft an den Schock, den Jameson uns an einer Konferenz über Lenin versetzte, die ich 2001 in Essen organisierte. Er überraschte alle, indem er Lacan als Interpreten eines Traums des russischen Revolutionärs Leo Trotzki ins Spiel brachte.

Trotzkis Traum

Am 25. Juni 1935 träumte Trotzki nachts im Exil vom toten Lenin, der sich besorgt nach seiner Krankheit erkundigte: «Ich antwortete ihm, dass ich bereits bei vielen Ärzten gewesen sei, und begann dann, ihm von meiner Reise nach Berlin zu erzählen; aber als ich Lenin anschaute, fiel mir plötzlich wieder ein, dass er ja tot war. Sofort versuchte ich, den Gedanken wieder zu verscheuchen, damit wir das Gespräch fortsetzen konnten. Als ich ihm von meinem therapeutischen Trip nach Berlin im Jahr 1926 erzählt hatte, wollte ich hinzufügen: ‹Das war nach Deinem Tod›; aber ich riss mich zusammen und sagte stattdessen: ‹Nachdem Du krank geworden bist …›»

In seiner Interpretation dieses Traums konzentriert Lacan sich auf die offensichtliche Verwandtschaft mit dem bekannten Traum von Sigmund Freud: Der Begründer der Psychoanalyse hatte geträumt, ihm sei sein verstorbener Vater erschienen, der aber nicht wusste, dass er tot ist. Was bedeutet es also, dass Lenin nicht weiss, dass er tot ist? Gemäss Jameson gibt es zwei radikal unterschiedliche Möglichkeiten, Trotzkis Traum zu deuten. Die erste Lesart besagt: Die so furchteinflössende wie lächerliche Figur des untoten Lenins «weiss nicht, dass das gigantische soziale Experiment, das er eigenhändig erschaffen hat (und das wir Sowjetkommunismus nennen), zu einem Ende gekommen ist. Er strotzt vor Energie, obwohl er tot ist. Nicht einmal die Schmähungen, mit denen ihn die heute lebenden Zeitgenoss:innen überziehen – dass er der Urheber des stalinistischen Terrors sei, eine aggressive, hasserfüllte Person, eine autoritäre Persönlichkeit, verliebt in Macht und Totalitarismus, sogar (und das ist womöglich das Allerschlimmste) dass er der Wiederentdecker des Marktes sei mit seiner Neuen Ökonomischen Politik –, können ihm den Todesstoss versetzen oder wenigstens den zweiten symbolischen Tod bringen. Wie ist es, wie kann es sein, dass er weiterhin denkt, er sei am Leben? Und was ist unsere eigene Haltung dazu – die zweifellos diejenige von Trotzki wäre, in seinem eigenen Traum von Lenin –, was ist unser Nichtwissen? Was ist der Tod, vor dem Lenin uns abschirmt?»

Aber Lenin ist gemäss Jameson noch in einem anderen Sinn weiterhin lebendig: Er lebt, indem er das verkörpert, was der französische Philosoph Alain Badiou die «ewige Idee» der universellen Emanzipation nennt: das unsterbliche Streben nach Gerechtigkeit, das weder Beschimpfungen noch Katastrophen ganz ersticken können.

Wie der Neidfalle entkommen?

Fredric Jameson war ein entschiedener Kommunist – wie ich. Aber er war auch ein Lacanianer. Er glaubte, dass Gerechtigkeit und Gleichheit immer auf einem Fundament aus Neid stehen: Neid auf ein Gegenüber, das etwas hat, was wir nicht haben, und es geniesst. In den ­Fussstapfen Lacans lehnte Jameson auch die dominante optimistische Sichtweise radikal ab, gemäss der wir im Kommunismus das Gefühl des Neids einfach hinter uns lassen können: als Überbleibsel des kapitalistischen Wettstreits, der nun durch solidarische Kollaboration ersetzt wird, durch reine Freude an den Freuden der anderen. Diesem Mythos erteilte er eine Absage. Er betonte im Gegenteil, dass im Kommunismus Neid und Missgunst sogar regelrecht explodieren würden, und zwar gerade weil es eine gerechtere Gesellschaft sei. Jamesons Lösung war so radikal, dass man sie wahnsinnig nennen darf: Die einzige Möglichkeit, wie der Kommunismus überleben könne, sei eine Art von universalem psychoanalytischem Fürsorgeangebot, das es den Individuen erlauben würde, dieser Neidfalle zu entkommen.

Ein weiterer Hinweis, wie Jameson den Kommunismus verstand, findet sich in seiner Lektüre von Franz Kafkas Kurzgeschichte über Josefine, die singende Maus, als soziopolitische Utopie – als Kafkas Vision einer radikal egalitären kommunistischen Gesellschaft. Mit der sonderbaren Abweichung, dass sich Kafka eine utopische Gesellschaft nur unter Tieren vorstellen konnte, da die Menschen für ihn auf ewig vom Schuldgefühl des väterlichen Über-Ichs geplagt werden.

Die Protagonistin von Kafkas «Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse» nimmt eine spezielle Stellung ein; wobei unklar bleibt, ob das wirklich daran liegt, dass sie als einzige Maus eine schöne Singstimme hat. Wie Jameson betont, muss man der Versuchung widerstehen, Josefines Verschwinden und ihren Tod als Tragödie zu begreifen. Denn Kafkas Text mache klar: Josefine werde nach ihrem Tod «fröhlich sich verlieren in der zahllosen Menge der Helden unseres Volkes» (Hervorhebung Žižeks). Ein Happy End.

Die Entdeckung der Seele

Mit der Theologie ist es dasselbe wie mit dem Kommunismus. Und obwohl Jameson ein resoluter Materialist war, benutzte er immer wieder theologische Begriffe, um neue Schlaglichter auf marxistische Begriffe zu werfen. Zum Beispiel erklärte er die Vorherbestimmung zum interessantesten theologischen Konzept für den Marxismus. Die Vorherbestimmung verweise auf eine retroaktive Kausalität, die auch jeden echten dialektischen historischen Prozess auszeichne.

Eine weitere unerwartete Verbindung zur Theologie findet sich in Jamesons Bemerkung, dass die Gewalt in einem revolutionären Prozess eine gleichwertige Rolle spiele wie der Reichtum in der protestantischen Legitimierung des Kapitalismus: Obwohl sie keinen Wert an sich hat (und deshalb um ihrer selbst Willen weder fetischisiert noch gefeiert werden sollte, wie das etwa im Faschismus der Fall ist), dient die Gewalt als Zeichen der Authentizität eines revolutionären Bestrebens: Wenn ein Feind sich widersetzt und uns in einen gewaltsamen Konflikt verwickelt, bedeutet das, dass wir seinen Nerv getroffen haben.

Jamesons vielleicht klarste theologische Interpretation findet sich in seinem wenig bekannten Text «Saint Augustine as a Social Democrat». Darin argumentiert er, dass die am meisten gelobte Errungenschaft von Augustinus, nämlich seine Erfindung einer psychologischen Tiefe in der Persönlichkeit der Gläubigen, inklusive der ganzen Komplexität von inneren Krisen und Zweifeln, historisch exakt korreliere mit der Legitimierung des Christentums als Staatsreligion: Es sind zwei Seiten derselben Medaille. Dieser Schritt zur Psychologie ist damit gleichbedeutend mit der Austreibung der letzten Reste einer radikalen Politik aus dem christlichen Gebäude. Dasselbe gilt für die antikommunistischen Renegat:innen aus der Zeit des Kalten Krieges. Ihre Abwendung vom Kommunismus ging stets Hand in Hand mit einer Hinwendung zu einem gewissen Freudianismus: mit der Entdeckung der psychologischen Vielschichtigkeit des Individuums.

Das Verdrängte kehrt zurück

Eine weitere Kategorie, die Jameson eingeführt hat, ist die des «vanishing mediator» zwischen Alt und Neu. Dieser verschwindende Vermittler benennt einen speziellen Effekt, wenn eine alte Ordnung durch eine neue abgelöst wird. Sobald die alte Ordnung zerfällt, geschieht Unerwartetes: Es entstehen nicht nur die morbiden Symptome, die Antonio Gramsci in seinem berühmten Merksatz erwähnt, sondern auch glänzende utopische Projekte und Praktiken. Ist die neue Ordnung erst einmal installiert, entwickelt sich auch ein neues Narrativ. Und in diesem neuen ideologischen Raum verlieren wir das vermittelnde Element aus dem Blick. Um das Phänomen zu erfassen, genügt ein Blick auf die Ablösung vom Sozialismus durch den Kapitalismus in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion.

Als die Menschen in den 1980er Jahren gegen das kommunistische Regime protestierten, hatte eine grosse Mehrheit von ihnen gar nicht den Kapitalismus im Blick. Was sie wollten, waren soziale Sicherheit, Solidarität, Gerechtigkeit in einem ganz rudimentären Sinn. Sie wünschten sich die Freiheit, ihr Leben ausserhalb einer staatlichen Kontrolle zu führen, sie wollten sich frei bewegen und zusammenkommen, frei sprechen. Sie strebten nach einem Leben in Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit, befreit von der herrschenden primitiven ideologischen Indoktrination und zynischen Verlogenheit. Kurzum: Die vagen Ideale der Protestierenden entsprangen mehrheitlich der sozialistischen Ideologie. Aber wie wir von Freud gelernt haben, kehrt das Verdrängte in einer entstellten Form wieder: Der damals im Aufstand gegen das sowjetische Regime verdrängte Sozialismus sucht Europa nun in Gestalt eines rechten Populismus heim.

Viele von Jamesons Formulierungen wurden zu Memes, wie etwa seine Aufforderung «Immer historisieren!» oder seine Charakterisierung der Postmoderne als kulturelle Logik des Spätkapitalismus. Ein weiteres Meme ist sein altes Bonmot (das manchmal fälschlicherweise mir zugeschrieben wird), das aktueller ist denn je: Es sei für uns einfacher, uns eine totale Katastrophe vorzustellen, die jedes Leben auf der Erde vernichte, als einen radikalen Wandel des kapitalistischen Systems; wie wenn der Kapitalismus nach dem Weltuntergang irgendwie einfach weiterexistieren würde. Warum also wenden wir diesen Satz nicht auf Jameson selbst an? Es ist einfacher, sich das Ende des Kapitalismus vorzustellen als den Tod von Fredric Jameson.

Aus dem Englischen von Daniela Janser.