Der Kapitalismuskritiker: Vorwärts zur demokratischen Explosion
Er gilt als einer der originellsten, aber auch umstrittensten Intellektuellen der Gegenwart: Slavoj Zizek, Philosoph, Kulturkritiker und – nicht praktizierender – Psychoanalytiker. Der gebürtige Slowene hat die Theorien des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan in der postmodernen Medienkulturlandschaft verankert und sie gleichzeitig mit dem dialektischen Denken Hegels verknüpft. Er lehrt an verschiedenen Universitäten in Europa, war früher als Dissident in Slowenien aktiv und redet heute einem demokratischen Kommunismus das Wort.
Slavoj Zizek hat sich mit seinem neuen Buch «Auf verlorenem Posten» viel vorgenommen: Er will nichts weniger als die Umrisse einer neuen, linken Strategie skizzieren. Dafür untersucht er vor dem Hintergrund des Mauerfalls von 1989, der Anschläge des 11. September 2001, des Klimawandels und der Finanzkrise von 2008 die Herrschaftsverhältnisse, deren ideologische Koordinaten und Auswirkungen.
Sein Blick reicht von Island bis in den Kongo. Im zentralafrikanischen Staat entdeckt Zizek hinter einer Fassade ethnischer Konflikte die Konturen des globalen Kapitalismus. Die Folgen der Finanzkrise in Island und der seitdem rapide angestiegene Verbrauch von Antidepressiva auf der Insel sind ihm – wenige Seiten später – ein weiterer Beleg für die Auswirkungen des globalen Kapitalismus.
Modellstaat China
Zizek wechselt manchmal rasant das Terrain, um seine Kernthese zu belegen: Marktwirtschaft und Menschenrechte sind nicht vereinbar. Dabei räumt er mit Mythen auf, die heute in der veröffentlichten Meinung gang und gäbe sind: Demokratie und Freiheitsrechte seien erkämpft worden und nicht etwa «natürliche Folge kapitalistischer Verhältnisse». Diese These führt ihn nach China, denn die politische Situation dort ähnele dem Frühkapitalismus in Europa, wo die Bedingungen für die kapitalistische Wirtschaft ebenfalls von brutalen Staatsdiktaturen geschaffen worden seien. Angesichts der Krise repräsentativer Demokratien könne China künftig sogar zu einer Art «Modellstaat» für den autoritären Kapitalismus werden. Debatten in westlichen Ländern über die Legitimität von Folter und die Mauern an der US-amerikanischen Grenze zu Mexiko und rund um die Festung Europa sind ihm deutliche Anzeichen dafür.
Die repräsentative Demokratie ist für Zizek ohnehin nur «eine Form der bourgeoisen Diktatur». Sie wolle den Menschen heute eine «falsche Wahl» aufzwingen: Markt, Freiheit und Demokratie versus Fundamentalismus, Terrorismus und Totalitarismus. In diesem Widerspruchspaar werde die wahre Trennlinie verwischt. Die verlaufe zwischen den globalen Eliten der sich immer mehr isolierenden Superreichen einerseits und andererseits denjenigen, die von den Errungenschaften und Schutzrechten des bürgerlichen Staatsmodells ausgeschlossen sind, vor allem der wachsenden Anzahl der SlumbewohnerInnen in den Grossstädten. «Diese beiden Pole markieren die zwei Extreme der neuen, globalen Klassenteilung», schreibt Zizek.
Venezolanische Verbindung
Provozierend plädiert der Philosoph deshalb für eine neue «Diktatur des Proletariats», die er im Sinne Rosa Luxemburgs als Erweiterung der Demokratie begreift. Subjekt dieser «demokratischen Explosion» sei die Mehrheit der Ausgeschlossenen dieser Welt. Das Verhältnis zwischen institutionalisierter Staatsdemokratie und emanzipatorischer Bewegung sieht er dabei als ein dialektisches – und nicht notwendigerweise als ein konfrontatives wie viele zeitgenössische linke TheoretikerInnen. Er kritisiert, dass manche dieser Linken ausserdem eine «Kulturalisierung des Politischen» betrieben und statt einer fundierten Klassenanalyse oft eine «liberaldemokratische Perspektive übernehmen». Als positives Gegenbeispiel zitiert Zizek an mehreren Stellen Venezuela, wo unter Hugo Chávez eine organische Verbindung zwischen Regierung und Organisationen der SlumbewohnerInnen entstanden sei.
Durch die Klimaerwärmung und neue Technologien produziere der globale Kapitalismus immer mehr Opfer. Mithilfe der Biogenetik würden Menschen auf ein «beliebiges natürliches Objekt mit manipulierbaren Eigenschaften» reduziert. Folglich sieht der Autor eine sich erweiternde Basis für neue Bündnisse aus Ausgeschlossenen, ausgebeuteten Geistesarbeitern und kritischen Ökologinnen entstehen. Diese Bündnisse könnten schliesslich zum Subjekt im Sinne einer «demokratischen Explosion» werden.
Mit seiner jüngsten Veröffentlichung spitzt Zizek die politische Aussage seiner wissenschaftlichen Arbeit weiter zu. Dabei handelt es sich nicht um ein Manifest oder eine klar strukturierte Gebrauchsanleitung. Sein assoziatives Buch bietet aber wichtige Anregungen, die geeignet sind, den Rahmen des im Westen vorherrschenden alternativlosen Denkens zu sprengen.
Slavoj Zizek: Auf verlorenem Posten. edition suhrkamp. Frankfurt am Main 2009. 350 Seiten. Fr. 24.90
Slavoj Zizeks erstes Werk in deutscher Übersetzung war «Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien», erschienen im Merve-Verlag in Berlin 1991. Darauf folgten zahlreiche Bücher über Lacan, Film und die deutschen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Immanuel Kant.
Der Philosoph: Das Phänomen aus Ljubljana
Wenn Slavoj Zizek Hitchcock mit Lacan und Hegel erklärt, bleibt kein Auge trocken. Ein Blick hinter die Kulissen mit dem Zizek-Kenner Henry Taylor.
WOZ: Was kommt Ihnen als Erstes in den Sinn, wenn Sie an Slavoj Zizek denken?
Henry Taylor: Zizek ist sehr unterhaltsam. Er ist ein eigentlicher Entertainer, manche nennen ihn einen Trash-Philosophen. Tatsächlich liest man seine Bücher und stellt dann im Nachhinein fest, dass einem oft nur gewisse Anekdoten und Witze in Erinnerung bleiben. Manchmal hat man bei ihm schon den Eindruck, dass er vor allem darum bemüht ist, möglichst viele schmutzige Witze zu erzählen – auf einem quasiphilosophischen Niveau. Tatsache ist aber auch, dass er ungeheuer belesen ist, und das auf allen möglichen Gebieten. Man hat immer wieder erstaunliche Einblicke und Erkenntnisse und wird aufgefordert, die Dinge von einer andern Perspektive zu betrachten. Das ist vor allem eindrücklich, wenn man ihm beim Vortragen zusehen kann: Schwitzend, gestikulierend und mit stakkatohaften Sätzen schafft er es in einem zum Teil fast manischen Tempo, die unterschiedlichsten Bezüge herzustellen.
Das tönt wie eine Kurzzusammenfassung des Dokumentarfilms «The Pervert’s Guide to Cinema» von 2006, in dem Zizek die Filmgeschichte aus der Perspektive der Psychoanalyse durchforstet. Hat dieser Film seinen Kultstatus begründet?
Der Name Slavoj Zizek ist sicher zu einem Breitenphänomen geworden. Begonnen hat das aber damit, dass er seit den späten achtziger Jahren mit ungeheurer Energie eine richtige Kleinindustrie aufgezogen hat, eine One-Man-Show. Die Zahl seiner Publikationen mit allen Übersetzungen – und hier spreche ich nur von seinen Büchern – liegt mittlerweile wahrscheinlich im dreistelligen Bereich. Es gibt sogar «Zizek-Studies», eine universitäre Disziplin und internationale Fachzeitschrift. Gleichzeitig tritt Zizek auch in Talkshows auf und tut dort seine Ideen kund.
Wie tickt dieser «Trash-Philosoph» denn nun wirklich?
Zizek versteht es, «high» und «low» miteinander zu verbinden: Er setzt die wirklich anspruchsvolle Theorie – Hegel, Kant, Lacan – in Beziehung zur populären Trivialkultur, beispielsweise einem James-Bond-Film. Und schafft es dadurch, diesem Film quasi eine höherstehende Idee abzugewinnen. Im Grunde genommen gibt es bei Zizek diese Unterscheidung zwischen «high» und «low» gar nicht. Die verortet er in der Moderne, wo wir es, wie er sagt, mit Kunstwerken zu tun haben, die eigentlich unverständlich sind – bis ein Kritiker, Wissenschaftler oder Philosoph hinzutritt und die Kunstwerke für das Publikum interpretiert. In der Postmoderne, sagt Zizek, ist es genau umgekehrt: Sie beschäftigt sich mit popkulturellen Phänomenen – Hollywood, zum Beispiel –, von denen alle glauben, sie hätten sie verstanden. Und dann kommt Zizek und sagt: Aber nein, das kann man nicht wirklich verstehen ohne Bezug auf den Namen des Vaters, den Grossen Andern und die «Kastration». Mit andern Worten: Zizek benutzt nicht so sehr die Theorie, um etwa Filme zu erklären, sondern er bezieht sich auf Filme und Filmausschnitte, um seine Theorie stark zu machen, und das ist vor allem die Lacan’sche Psychoanalyse.
Sie beschreiben Zizek als postmodernen Theoretiker – sein neues Buch aber ist sehr politisch. Ein Widerspruch?
Nein, Zizek gilt ja auch als Postmarxist. Und er selbst ist vielleicht ein postmodernes Phänomen – aber ein postmoderner Theoretiker, das ist er nicht. Das wirkliche Problem in westlichen Gesellschaften heute ist der Zynismus, sagt Zizek: Im Grunde stellt man alles infrage, jede Ideologie – ausser den Kapitalismus. Wir haben heute alle möglichen Katastrophenfantasien, können uns problemlos den ökologischen Untergang der Welt vorstellen – und glauben gleichzeitig, dass die Marktwirtschaft dennoch irgendwie überleben wird. Dieser Zynismus funktioniert, weil die Logik des Markts an die Stelle von Normen getreten ist. Zizek hat einmal festgestellt, dass Philosophie gerade im englischsprachigen Raum weitgehend in die Cultural Studies abgewandert ist und dadurch an politischer Sprengkraft verloren hat. Eine Repolitisierung würde bedingen, dass man zu verbindlichen Normen wie Gerechtigkeit oder Vertrauen zurückfindet.
Und wie will Zizek die Linke wieder politisch handlungsfähig machen?
Wenn es um konkrete Vorschläge geht, die im Alltag umsetzbar sind, dann wird man bei ihm kaum fündig. Aber ich denke, dass Zizek durch seinen Bekanntheitsgrad zumindest etwas anstossen könnte. Auf Youtube gibt es ein Video, das einen Zizek-Auftritt an einer Universität in Buenos Aires zeigt: Da sieht man riesige Mengen von Leuten nicht nur im Hörsaal, sondern bis in die Gänge hinein stehen. Ich glaube, dass Zizek als charismatische, inspirierende Figur von daher schon politisches Potenzial hat.
Wie geht das denn zusammen: politische Analyse und Filmanalyse?
Ich denke nicht, dass Zizek die Unterscheidung von Politik und Kultur stützt. Filme lassen sich immer auch als symptomatische Gesellschaftsanalysen, als politische Analysen lesen. Wobei es bezeichnenderweise die populären Filme sind, die das eher leisten als das Kunstkino. Im Grunde gibt es aber schon zwei Schienen bei Zizek: Anfänglich war da vor allem die Trash-Philosophie-Schiene, in der er sehr anekdotisch und mosaikartig gedacht hat. In den letzten Jahren hat er eine zweite Schiene stärker verfolgt, wo er versucht – und das sehr anspruchsvoll –, verschiedene Philosophen wie Lacan, Deleuze, Kant und Hegel zusammenzudenken. Wobei er auch hier Beispiele aus der Populärkultur heranzieht, aber der Fokus liegt klar auf der Theorie. Diese Akzentverschiebung zeigt sich auch darin, dass er in angeseheneren Verlagen publiziert wird, wie etwa Suhrkamp im deutschsprachigen Raum.
Interview: Franziska Meister
Henry Taylor ist Filmwissenschaftler und lehrt an der Universität Zürich.