Bandengewalt auf Haiti: Das Massaker der Grossen Kralle

Nr. 41 –

Auf Haiti verübte eine Bande den grössten Massenmord seit Jahren. Wie Politik und Gewalt miteinander verbandelt sind und warum eine internationale Intervention dagegen nicht in die Gänge kommt.

Sie kamen, bevor der Tag anbrach. Am Donnerstag vergangener Woche gegen drei Uhr morgens stürmten mehrere Dutzend schwer bewaffnete Männer der Bande Gran Grif (Grosse Kralle) den Ort Pont-Sondé im Westen von Haiti. Sie schossen um sich, brandschatzten und fackelten mindestens 45 Häuser und 34 Autos ab. Als der Morgen graute, lagen zahlreiche Leichen auf der Strasse; viele dieser Menschen waren mit einem Kopfschuss exekutiert worden.

Offensichtlich hatten es die Mörder auf Mitglieder der Bürgerwehr Jean Denis Coalition abgesehen. Diese will verhindern, dass kriminelle Banden Strassensperren errichten, an denen sie Passant:innen entführen und Wegegeld erpressen. Zehn Frauen und drei Neugeborene waren unter den mindestens 88 Toten und auch zehn Bandenmitglieder. Pont-Sondé liegt gut hundert Kilometer nördlich der Hauptstadt Port-au-Prince an der Nationalstrasse 1, die in Haitis zweitgrösste Stadt, Cap Haïtien, führt. Und im Ort gibt es eine Brücke über den Artibonite, den grössten Fluss des Landes – ein lohnender Punkt für Strassensperren.

Laut Recherchen des Nationalen Netzwerks zur Verteidigung der Menschenrechte kamen die Bandenmitglieder auf Booten in den Ort. «Damit ist es ihnen gelungen, die Selbstverteidigungskomitees zu überraschen», heisst es in einem Bericht des Netzwerks. Übergangspremierminister Garry Conille schickte eine Spezialeinheit der Polizei nach Pont-Sondé und versprach, man werde die Bandenmitglieder «verhaften, vor Gericht stellen und ins Gefängnis bringen». Das dürften ihm aber nur wenige glauben.

Fokus auf die Hauptstadt

Zwar ist seit Juni eine internationale Polizeitruppe im Land, die die unterbesetzten und schlecht ausgestatteten haitianischen Sicherheitskräfte im Kampf gegen kriminelle Banden unterstützen soll. Bislang aber hat diese von den Vereinten Nationen entsandte und von Kenia angeführte Einheit nur wenig erreicht.

Zum einen ist sie völlig unterfinanziert, weshalb bis heute nur 420 der versprochenen 2500 Polizist:innen in Haiti angekommen sind. Die Truppe ist auf freiwillige Zahlungen von Uno-Mitgliedstaaten angewiesen, und nur die USA und Kanada bezahlen.

Zum anderen konzentriert sich die Intervention ganz auf die Hauptstadt, von der rund achtzig Prozent unter der Herrschaft von Banden sind. Ausser einem Grosseinsatz im Armenviertel Bel Air hat man bislang nicht viel von der Truppe gesehen. Dass es neben Port-au-Prince entlang des Artibonite eine zweite Hochburg der kriminellen Banden gibt, spielte bislang in der Strategie keine Rolle. Das fruchtbare Tal ist die Kornkammer Haitis. Dort und in der Hauptstadt konzentriert sich der Reichtum des Landes.

Gran Grif gilt als die brutalste Bande des Artibonite-Tals. Ihre rund hundert Mitglieder sind mit Sturmgewehren und Maschinenpistolen ausgestattet. Sie haben schon eine Polizeistation in der Nähe von Pont-Sondé überfallen und dabei sechs Offiziere getötet. Das Spital der Gegend ist wegen mehrerer Überfälle seit Februar vergangenen Jahres geschlossen. Es ist eine Bande klassischen Zuschnitts: Sie wurde vom ehemaligen Parlamentsabgeordneten Prophane Victor aufgebaut und bewaffnet, um Wähler:innen einzuschüchtern und seine Wahl mit Waffengewalt abzusichern.

Diese Methode ist unter Politiker:innen der korrupten haitianischen Elite üblich. «So gut wie jede der rund 200 Banden hat einen Besitzer aus der Politik oder der Wirtschaft», sagt der Menschenrechtsanwalt Patrick Pélissier, der sich seit Jahren mit der Gewalt dieser Gangs beschäftigt. Victor ist nur deshalb heute kein Abgeordneter mehr, weil es kein Parlament mehr gibt. Die Legislaturperiode ist 2019 abgelaufen, Neuwahlen soll es frühstens Ende 2025 geben.

Medienkonferenz eines Bandenchefs

Ein Massaker wie das von Pont-Sondé hat es in Haiti seit 2018 nicht mehr gegeben. Am 13. November jenes Jahres überfiel eine Bande unter der Führung des Polizeioffiziers Jimmy Chérizier das Armenviertel La Saline in Port-au-Prince und ermordete 71 Menschen. Chérizier handelte im Auftrag des damaligen Präsidenten Jovenel Moïse. In La Saline hatte es heftige Proteste wegen dessen Verwicklung in korrupte Geschäfte gegeben. Chérizier wurde danach aus der Polizei entlassen, arbeitete aber als Bandenführer unter dem Spitznamen Barbecue weiterhin für Moïse.

In der Nacht zum 7. Juli 2021 wurde der Präsident unter nach wie vor ungeklärten Umständen in seiner Residenz ermordet – wahrscheinlich eine Abrechnung unter verfeindeten Teilen der Elite. Seither ist Barbecue eigenmächtiger Bandenführer und hat politische Ambitionen. Unter dem an eine Guerilla erinnernden Namen «Revolutionäre Kräfte der G-9 Familie und ihrer Alliierten» hat er viele ehemals eigenständige Banden zusammengeschlossen und beherrscht damit weite Teile der Hauptstadt. Er veranstaltet Aufmärsche seiner Truppen, gibt Medienkonferenzen und verspricht, er werde «Haiti von der korrupten Elite befreien». Der Uno-Vertretung in Haiti hat er – unter der Voraussetzung einer Amnestie – eine Verhandlungslösung für das Bandenproblem angeboten. Diese ist darauf nicht eingegangen, stellt aber auch nicht die Truppen, die nötig wären, um diese Banden zu bekämpfen.