Krise in Haiti: Eine Symbiose aus Politik und Verbrechen

Nr. 11 –

Kriminelle Banden haben mit einer Grossoffensive den Rücktritt von Premier Ariel Henry erzwungen. Ihre Macht ist nun grösser als je zuvor.

bewaffnete Männer an der Medienkonferenz mit Jimmy «Barbecue» Chérizier Anfang März in Port-au-Prince
Der mächtigste Bandenchef Haitis: Medienkonferenz mit Jimmy «Barbecue» Chérizier Anfang März in Port-au-Prince. Foto: Ralph Tedy Erol, Reuters

Jimmy Chérizier kann reden wie ein linker Guerillacomandante. «Der erste Schritt in unserem Kampf ist der Sturz der Regierung von Ariel Henry, das haben wir schon immer gesagt», verkündete er vor ein paar Tagen bei einer von ihm einberufenen Medienkonferenz in Port-au-Prince. «Dann werden wir dafür sorgen, dass das Land einen starken Staat mit einer starken Justiz bekommt, um gegen die Korrupten vorgehen zu können.» Er führe eine «bewaffnete Revolution» an, deren Ziel «ein anderes Haiti» sei.

Den ersten Schritt scheint Chérizier nun getan zu haben: Am Dienstag erklärte Ministerpräsident Henry, er werde zurücktreten, sobald sich ein provisorischer Regierungsrat konstituiert habe. Dieser soll dann Wahlen vorbereiten.

4000 Häftlinge befreit

Chérizier ist kein Guerillero, sondern der mächtigste Bandenchef Haitis. Der ehemalige Elitepolizist, der wegen mehrerer Massaker an wehrlosen Zivilist:innen entlassen wurde, ist als «Barbecue» bekannt. Er erhielt diesen Spitznamen, weil er seine Opfer bisweilen bei lebendigem Leib verbrennt. Er führt den von ihm gegründeten kriminellen Grossverband «G-9 mit Familie und Alliierten» an und schloss vor ein paar Tagen ein Bündnis mit der Konkurrenz, der «G-Pep». Zusammen verfügen diese beiden Verbände über 2000 bis 3000 Männer, die zum grössten Teil mit modernen automatischen Waffen ausgestattet sind. Das sind keine Strauchdiebe, das ist eine Armee.

Mit dieser Truppe hat Chérizier seit dem 29. Februar mehr als ein Dutzend Polizeistationen angegriffen, den internationalen Flughafen und den Hafen der Hauptstadt Port-au-Prince unter seine Kontrolle gebracht, zwei Gefängnisse gestürmt und dabei mehr als 4000 Häftlinge befreit. Mit dem Sturm auf den Flughafen hat er zudem verhindert, dass Ministerpräsident Henry aus Kenia zurückkehren konnte.

Henry sitzt seither in Jamaika fest. Er hatte in Kenia am 1. März ein Abkommen über die Entsendung von 1000 Polizisten unterzeichnet, die dem Unwesen der rund 200 haitianischen Banden ein Ende bereiten sollen. Chériziers Grossoffensive der vergangenen Tage sollte den Kenianern zeigen: Wenn ihr kommen wollt, wisst ihr, was euch erwartet.

Dass kriminelle Banden ein Instrument der haitianischen Politik sind, ist kein neues Phänomen. Schon François Duvalier, von 1957 bis zu seinem Tod 1971 diktatorisch regierender «Präsident auf Lebenszeit», hatte 1959 nach einem gescheiterten Militärputsch gegen ihn mit den sogenannten Tonton Macoute seine private paramilitärische Truppe geschaffen, die stärker und grösser war als die Armee. Der Name geht auf haitianische Erzählungen zurück und bezeichnet eine Figur, die nachts ungehorsame Kinder mitnimmt. Genau so gingen die Tonton Macoute gegen politische Gegner des Präsidenten vor.

Bis zum Sturz von Duvaliers Sohn und Nachfolger Jean-Claude im Jahr 1986 ermordete diese Miliz mehr als 30 000 Regimegegner:innen. 1995 löste dann der ehemalige Präsident und linke Hoffnungsträger Jean-Bertrand Aristide die Armee auf und bewaffnete dafür seine eigenen Banden. Diese nannten sich zunächst «baz», das haitianische Wort für Basis, und waren eine Art Bürgerwehr. Dann wurden sie unter dem Namen «chimères» zum persönlichen Stosstrupp Aristides. Bei der politischen Rechten sammelten sich ehemalige Tonton Macoute unter dem Namen «Bewaffnete revolutionäre Front für den Fortschritt Haitis».

Einschüchtern, erpressen, entführen

Seither verfügt jeder Politiker, der etwas werden will, über seine eigene bewaffnete Bande. Das Verhältnis zwischen Politik und Kriminalität sei dabei symbiotisch, erklärt der Menschenrechtsanwalt Patrick Pelissier. Der Vorsitzende des Haitianischen Instituts für Menschenrechte beschäftigt sich seit über einem Jahrzehnt mit den Banden. «Der Politiker stattet die Banden mit Waffen aus, und diese schüchtern im Gegenzug die Wähler seines Bezirks ein, sodass der Politiker garantiert in die von ihm angestrebten Ämter gelangt.» Mit ihren Waffen könnten sich die Kriminellen zudem mit Schutzgelderpressungen und Entführungen ein Einkommen verschaffen.

Bandenchef Chérizier und seine G-9 standen zunächst im Dienst des am 7. Juli 2021 getöteten Präsidenten Jovenel Moïse und räumten für ihn mögliche Rivalen aus dem Weg. Hinter dessen Ermordung stand denn auch mutmasslich eine Abrechnung innerhalb der politischen Elite.

Seit dem Tod von Moïse ist Chérizier ohne politische Führung. Aber er und auch andere Bandenchefs haben begriffen, dass dies ihrer Macht keinen Abbruch tut. Eher im Gegenteil: Die Unabhängigkeit macht sie noch mächtiger. Chérizier redet inzwischen selbst wie ein Politiker und hat auch entsprechende Ambitionen. Und er hat faktisch die Macht, zumindest in der von ihm in weiten Teilen beherrschten Hauptstadt. Eine Lösung der haitianischen Krise ist ohne Verhandlungen mit ihm und anderen Bandenchefs kaum denkbar.