Krise in Haiti: Im Griff der kriminellen Banden

Nr. 43 –

Wie das karibische Land seit dem Mord an Präsident Jovenel Moïse immer tiefer ins Chaos stürzt.

Oft genug schon sah es so aus, als könne Haiti nicht mehr tiefer fallen, als sei das Land endgültig am Boden. Doch dann tut sich wieder ein neuer Abgrund auf, und so verbieten sich Prognosen, wie schlimm es noch werden könnte. Es ist schon viel zu schlimm.

Laut einem jüngst veröffentlichten Bericht des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen leiden 4,7 der 11,4 Millionen Haitianer:innen an Hunger. Sechzig Prozent der Hauptstadt Port-au-Prince werden von kriminellen Banden kontrolliert, Überlandfahrten sind seit Monaten wegen Strassensperren bewaffneter Gruppen so gut wie unmöglich. Es fährt ohnehin kaum ein Auto mehr, weil das grösste Tanklager des Landes seit über einem Monat von der grössten und mächtigsten Bande, der «G9-Familie und Alliierte», abgeriegelt wird. Weil die mit Dieselgeneratoren betriebenen Pumpwerke nicht mehr funktionieren, gibt es in den Armenvierteln kaum mehr Wasser. Auch Spitäler können ihre Notstromaggregate nicht mehr betreiben. Seit ein paar Wochen grassiert die Cholera, ebenfalls vor allem in den Armenvierteln und in den völlig überfüllten Gefängnissen. Es ist unklar, wie viele Tausend bereits infiziert wurden und wie viele gestorben sind. Niemand hat mehr den Überblick.

Verräterische Telefonanrufe

Die jüngste Krise begann am 7. Juli 2021. In der Nacht zu diesem Tag wurde Präsident Jovenel Moïse unter ungeklärten Umständen ermordet. Vieles deutet darauf hin, dass der derzeitige Staatschef, Premierminister Ariel Henry, etwas mit diesem Mord zu tun hat. Er hatte nachweislich kurz vor und kurz nach der Bluttat mit dem Mann telefoniert, der als Drahtzieher des Verbrechens gilt. Als Staatsoberhaupt hatte Moïse kurz vor seinem Tod Henry zum Premierminister ernannt, ihn aber nie vereidigt.

Auch Moïses Legitimität war umstritten. Offiziell war seine Amtszeit im Februar 2021 abgelaufen. Er hatte sie aber selbstherrlich um ein Jahr verlängert mit der Begründung, er habe sein Amt wegen Problemen mit seiner Wahl 2016 erst ein Jahr später antreten können.

«Die wahren Banditen sind diejenigen, die Anzüge tragen.»
Bandenchef Jimmy «Barbecue» Chérizier

Ein Parlament, das nach Moïses Tod für eine geordnete Übergangsregierung hätte sorgen können, gibt es seit 2019 nicht mehr. Moïse hatte die dafür nötige Wahl nicht abgehalten, er regierte lieber diktatorisch per Dekret. Henrys einzige Stütze ist nun die Regierung der USA, die in ihm wenigstens so etwas wie einen Ansprechpartner sieht. Der Vorschlag einer breit aufgestellten Übergangsregierung, wie ihn Gewerkschaften, Menschenrechtsorganisationen und andere Gruppen gemacht haben, wird dagegen standhaft ignoriert.

Es ist in Haiti seit zwanzig Jahren gang und gäbe, dass sich die schmale Politikerkaste nicht auf demokratische Wahlen stützt, sondern auf kriminelle Banden. Diese sorgen am Wahltag dafür, dass nur Anhänger:innen des sie bezahlenden Politikers an die Urnen gehen. Moïse stützte sich vor allem auf die G9, einen Zusammenschluss von ursprünglich neun Banden. Inzwischen sind noch weitere hinzugekommen. Der Chef dieser Vereinigung ist Jimmy Chérizier, genannt «Barbecue», ein ehemaliger Polizeioffizier. Er wurde entlassen, weil er an zu vielen Massakern an der Zivilbevölkerung beteiligt und deshalb untragbar geworden war. Er und seine Leute schüchterten für Moïse die politische Opposition ein. Seit dessen Tod wurde Chériziers Macht noch grösser.

Die Polizei kann der G9 und anderen Banden kaum etwas entgegensetzen. Sie zählt nur gut 10 000 Mitglieder und ist den Kriminellen, was die Ausrüstung angeht, heillos unterlegen. Diese versorgen sich mit neusten Waffenmodellen, die aus den USA ins Land geschmuggelt werden. Die Polizei dagegen hat nicht genügend Munition für ihre alten Waffen. Viele Polizist:innen gehen aus Angst nicht zum Dienst, andere arbeiten lieber gleich mit den Banden zusammen. Bei den Strassensperren rund um Port-au-Prince wurden zunächst Hilfslieferungen abgefangen, mit denen nach dem Erdbeben vom 14. August das Hinterland versorgt werden sollte. Inzwischen dienen sie der territorialen Kontrolle.

Zwanzig Franken pro Liter Benzin

Die Lage eskalierte vollends, als Premierminister Henry Mitte September die Subventionen für Benzin und Diesel abschaffte, weil dafür in der Staatskasse kein Geld mehr vorhanden sei. Der Preis für Treibstoff verdreifachte sich fast und trieb die Inflation, die schon vorher bei über dreissig Prozent lag, noch einmal an. Chérizier und seine G9 stellten sich an die Spitze der folgenden Massenproteste. Dann riegelten sie das Tanklager ab. Der Liter Benzin kostet heute auf dem Schwarzmarkt umgerechnet über zwanzig Franken. Chérizier fordert Henry ganz offen heraus. «Das System muss zerstört werden», sagte er in einem vor ein paar Tagen veröffentlichten Video. «Die wahren Banditen sind diejenigen, die Anzüge tragen.»

Henry verlangte in seiner Not vor drei Wochen vom Uno-Sicherheitsrat eine militärische Intervention. Dieser aber verhängte nur ein Reiseverbot gegen Chérizier und will seine internationalen Konten einfrieren. Der Bandenchef denkt nicht daran, Haiti zu verlassen. Konten im Ausland besitzt er nicht.