Banden in Haiti: Eine Stadt im Belagerungszustand
Weite Teile von Haitis Hauptstadt Port-au-Prince stehen unter der Kontrolle von kriminellen Gangs. Mehr als eine Million Menschen wurden von ihnen vertrieben. Besuch in einem Flüchtlingslager.

«Als wir sahen, dass sie kamen, begann auch schon die Schiesserei. Wir haben unsere Taschen geschnappt und sind losgerannt. Mein Bruder und der Vater meiner Kinder haben noch versucht, sie aufzuhalten. Sie wurden beide erschossen.» Judith, die ihren Nachnamen nicht nennen will, erzählt ihre Geschichte fast teilnahmslos, in knappen Sätzen und scheinbar ohne Emotionen. Die stämmige 45-Jährige in schwarzem T-Shirt und Jeans mit Löchern an den Knien war Strassenhändlerin in Solino, einem Stadtteil in den Hügeln von Port-au-Prince. Er galt lange als verhältnismässig sicher. Im Oktober vergangenen Jahres aber wurde er von «Viv ansanm» (deutsch: Zusammen leben) eingenommen, einem losen Zusammenschluss von über einem Dutzend krimineller Banden. Seither lebt Judith zusammen mit ihren vier Kindern in einem Flüchtlingslager.
Die Menschen in Solino haben sich lange gegen die Banden gewehrt. In diesem Stadtteil wohnten viele Polizist:innen, Militärs und Mitarbeiter von privaten Sicherheitsdiensten. Sie hatten eine Bürgerwehr aufgebaut, wie es sie in vielen Gegenden der Hauptstadt Haitis gibt, die noch nicht von Banden kontrolliert werden. Diese Gruppen nennen sich «Bwa kale», ein derber Ausdruck der Gassensprache, der sich frei mit «fick dich» übersetzen lässt. Sie riegeln nachts ihre Viertel ab, und wenn sie jemanden erwischen, den sie für ein Bandenmitglied halten, lynchen sie ihn. Sie erschlagen ihn mit Macheten, übergiessen die Leiche mit Benzin und zünden sie an. Solino wurde so über ein Jahr lang erfolgreich gegen Angriffe der Banden verteidigt. «Trotzdem waren wir alle auf eine Flucht vorbereitet», erzählt Judith. Es habe immer wieder Drohungen gegeben, man habe ihnen bedeutet, sie sollten verschwinden. «Nachts haben wir kaum geschlafen, und wir hatten unsere Kleider und die wichtigsten Papiere immer in grossen Plastiktaschen verpackt, um jederzeit wegrennen zu können.»
Plötzlich war die Polizei weg
Dann kamen die Polizei und die Armee mit zehn gepanzerten Fahrzeugen. Die Bürgerwehr von Solino konnte sich zurückziehen. Fast einen Monat lang. Was dann am 16. Oktober geschah, kann niemand richtig erklären. «Eines Morgens waren die Sicherheitskräfte samt ihren gepanzerten Fahrzeugen weg», erzählt Lario Clifford. Der vollbärtige 31-Jährige in ärmellosem rotem T-Shirt und knielanger Sporthose hat seine schwarzen Haare zu einer Igelfrisur geformt. Er hatte einen kleinen Laden in Solino und war Mitglied des Stadtteilkomitees. «Man erzählt sich, es habe Streit zwischen der Polizei und der Armee gegeben.» Die Armee untersteht dem Verteidigungsministerium, die Polizei dem für Justiz und öffentliche Sicherheit. Bei der Koordination der beiden Einheiten hapert es immer wieder. «Erst zogen die gepanzerten Fahrzeuge ab, dann folgten die Polizisten», sagt Clifford. «Sie fühlten sich alleine zu schwach, um einem Angriff standhalten zu können.» Anscheinend hatten die Banden nur darauf gewartet.

Solino war für Kriminelle kein besonders attraktives Quartier. Dort wohnten keine reichen Leute. Aber von Solino aus gelangt man in die hoch gelegenen Teile von Delmas, einem Stadtteil mit einer knappen halben Million Einwohner:innen. Unten in der schmalen Küstenebene wohnen die Armen in Hütten, und oben in den Hügeln, wo die Luft besser und kühler ist, sind hinter hohen Mauern grosse Anwesen mit Pool im Garten versteckt. Hier können Schutzgelderpressung und Entführungen viel Geld einbringen.
«Als alle Einwohner von Solino vertrieben oder tot waren, haben die Banden die Hütten angezündet und die solideren Häuser mit Gasflaschen gesprengt», erzählt Judith. Der Stadtteil ist heute ein Trümmerfeld. Der Weg nach Delmas ist frei.
Verbandelt mit der Politik
Rund 85 Prozent der Hauptstadt werden von kriminellen Banden kontrolliert. Mehr als eine Million der gut drei Millionen Einwohner:innen wurden aus ihren Häusern vertrieben. Die meisten öffentlichen Schulen wurden zu Flüchtlingslagern umfunktioniert. In den wenigen noch einigermassen sicheren Gegenden drängen sich die Strassenhändler:innen, dem chaotischen Verkehr bleibt oft nur eine Fahrspur. Seitdem im November drei Passagierflugzeuge beim Landeanflug von Banden beschossen wurden, ist der Flughafen geschlossen. Die Kriminellen kontrollieren zudem alle Zugangsstrassen zur Stadt. Gemüse und Obst, Reis, Bohnen und Fleisch kommen nur noch spärlich hinein. Die Preise steigen fast täglich, viele arme Leute können sich das nicht mehr leisten. Nach einer Erhebung des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen herrscht in neun von zehn Haushalten in Port-au-Prince Hunger. Viele essen nur einmal am Tag und an manchen Tagen gar nicht. Die meisten Botschaften sind längst geschlossen, die Bürgerwehren von Bwa kale versperren nachts die Eingänge zu den noch freien Wohngegenden mit Eisengittern, Schrottautos und Barrikaden. Von 21 Uhr bis 5 Uhr herrscht eine faktische Ausgangssperre. Port-au-Prince ist eine belagerte Stadt.
Kriminelle Banden sind kein neues Phänomen in Haiti. François Duvalier, Diktator von 1957 bis zu seinem Tod 1971, hat mit den von ihm aufgebauten Schlägertrupps der sogenannten Tonton Macoutes seine Macht abgesichert. Sie terrorisierten die Bevölkerung und ermordeten Oppositionspolitiker und Intellektuelle. Mindestens 30 000 Menschen wurden in seiner Regierungszeit und unter seinem ihm nachfolgenden Sohn Jean-Claude (1971–1986) umgebracht, Millionen retteten sich ins Exil. Das Beispiel der Tonton Macoutes machte Schule. Viele Politiker:innen arbeiteten und arbeiten immer noch mit kriminellen Banden zusammen. Sie haben diese Gangs oft selbst aufgebaut und mit Waffen ausgestattet. Die Kriminellen sollen Wahlsiege garantieren: Sie schüchtern die Wähler:innen ein, schalten gegnerische Kandidaten aus und fackeln bei einer drohenden Wahlniederlage die Urnen ab.

Der Politiker, der dieses grausame Spiel am besten beherrschte, war Jovenel Moïse, Präsident Haitis von 2017 bis zu seinem gewaltsamen Tod am 7. Juli 2021. In Armenvierteln, in denen gegen ihn demonstriert wurde, richteten seine Banden Massaker mit Dutzenden von Toten an. Einkaufszentren oder Autohäuser von Geschäftsleuten, die seinen eigenen Geschäftsinteressen im Weg standen, liess er von seinen Handlanger:innen niederbrennen. Führender Kopf dieser Banden war der ehemalige Elitepolizist Jimmy Chérizier, den man «Barbecue» nennt, weil er seine Opfer oft verbrennt. Der nächtliche Mord an Moïse in seinem Bett in der Präsidentenresidenz ist bis heute nicht aufgeklärt. Es kann aber als sicher angenommen werden, dass die Auftraggeber:innen unter einflussreichen Geschäftsleuten zu suchen sind, die unter den rabiaten Methoden des Präsidenten zu leiden hatten.
Mit Moïse hat Chérizier seine Geldquelle und seinen Auftraggeber verloren und arbeitet nun auf eigene Faust. Nicht nur seine, auch die meisten anderen Banden haben sich seither selbstständig gemacht. Chérizier war es, der nach blutigen Kriegen um Einflussbereiche den Zusammenschluss Viv ansanm geschmiedet hat. Die Kriminellen leben inzwischen von Schutzgelderpressung und Entführungen. Und weil Haiti mit seinen kaum bewachten Küsten ein wichtiges Durchgangsland für Kokain auf dem Weg von Kolumbien in die USA ist, wird auch mit Drogenhandel viel Geld verdient. Dazu gibt es Hinweise darauf, dass ein paar Banden internationale Mafias von Organhändler:innen beliefern.
Kinder als Schutzschild
Die Polizei ist den Kriminellen waffentechnisch und personell unterlegen. Die Zahl der Bandenmitglieder wird auf rund 12 000 geschätzt. Die Polizei kann im besten Fall 9000 Einsatzkräfte mobilisieren, und die sind lange nicht alle in der Hauptstadt konzentriert. Sie haben oft nur einfache Flinten und wenig Munition, die Banden dagegen moderne Sturmgewehre und Maschinenpistolen. Viele Einsatzwagen sind schrottreif. Der Polizei steht zwar eine von den Vereinten Nationen organisierte internationale Polizeitruppe unter der Führung Kenias zur Seite. Die aber hat nicht die vereinbarte Stärke von 2500 Mann, sondern gerade einmal knapp 1000. Ihre Zukunft ist ungewiss. Die Interventionstruppe wurde bislang mit freiwilligen Beiträgen finanziert, im Wesentlichen von der US-Regierung. Seit in Washington Donald Trump die Geschäfte führt, ist kein neues Geld mehr geflossen. Die Entsendung einer formellen Blauhelmtruppe, die dann über den Uno-Haushalt finanziert würde, scheitert an einem Veto von Russland und China.
Zwar gelingt es der Polizei immer wieder, gemeinsam mit den Bürgerwehren von Bwa kale in die Hochburgen der Banden einzudringen und dabei ein paar Dutzend ihrer Mitglieder zu erschiessen. Die staatlichen Sicherheitskräfte haben aber nicht die Stärke, um solche Gebiete dann auch zu halten. Oft wehren die Kriminellen Angriffe mit einer perfiden Strategie ab: «Sie zwingen die Kinder aus den Armenvierteln, als menschliche Schutzschilde voranzugehen», weiss Nadine Saint-Ilma, die sich für das regierungsunabhängige Haitianische Institut für Menschenrechte mit den Bandenkriegen befasst. «Kein Polizist will auf Kinder schiessen, aber die Banden schiessen hinter ihrem Schutz hervor auf die Polizisten.»
Flucht aufs Land
Lange waren die kriminellen Aktivitäten auf Port-au-Prince und das nördlich davon gelegene Artibonite-Tal begrenzt. In der Hauptstadt und im als Kornkammer des Landes geltenden Tal ist die wirtschaftliche Macht konzentriert. Dort sind Schutzgelderpressung und Entführungen lohnend. Im restlichen Land blieb es lange verhältnismässig ruhig. Seit ein paar Wochen aber gibt es Hinweise darauf, dass die Banden ihr Einflussgebiet vergrössern wollen. Es gab immer wieder Überfälle im Süden und im Zentrum des Landes. Die rund 200 000 Einwohner:innen zählende Provinzstadt Léogâne, rund dreissig Kilometer südwestlich der Hauptstadt, wird inzwischen auch teilweise von Banden kontrolliert. Viele Vertriebene sind aufs Land geflohen. Wer dort noch Verwandte hat, geht nicht in die überfüllten Lager der Stadt, sondern zurück in die alte Heimat. Die Grossfamilie als solidarisches Auffangbecken funktioniert in Haiti noch immer. Das war nach dem schweren Erdbeben von 2010 so, und so ist es auch heute im Bandenkrieg.
Wer nicht aufs Land geflohen ist, dem bleiben nur die Flüchtlingslager. Die meisten wurden nicht von der Regierung eingerichtet, die Vertriebenen haben sie besetzt. «Wir respektieren Privateigentum», sagt Lario Clifford. «Wir besetzen nur öffentliche Gebäude. Der Staat müsste sich eigentlich um uns kümmern. Wenn er das nicht tut, gehen wir in seine Gebäude, das ist unser Recht.» Er und sein Nachbarschaftskomitee hatten sich schon vorher die Grundschule République de Colombie im gleichnamigen Stadtviertel als mögliche Notunterkunft ausgesucht.
Sie besteht aus acht Klassenzimmern, die in zwei langgestreckten Gebäuden aneinandergereiht sind, dazwischen ein schmaler Gang; dazu ein Gebäude mit den Lehrer:innenzimmern und ein kleiner Schulhof. Überall hängt Wäsche zum Trocknen. Es gibt zwei Toilettengebäude, die man von weitem riecht; eines für Männer, das andere für Frauen. Der Boden ist betoniert. Die Gebäude haben ein Wellblechdach, unter dem sich die Hitze des Tages staut. Über dem kleinen Platz haben die Besetzer:innen Plastikplanen gespannt. Darunter spielen am Tag die Kinder. Am Rand sitzen ein paar Strassenhändlerinnen und haben ihre Ware ausgebreitet: Kekse und anderes Knabberzeug, Kartoffeln, Avocados und ein paar Mangos. «Ab und zu kommt irgendein Hilfswerk vorbei und bringt ein paar Säcke mit Reis und Bohnen», sagt Clifford. «Aber darauf können wir uns nicht verlassen.» Jeder müsse sich selbst um sein Überleben kümmern. Viele gehen deshalb am Tag auf die Strasse und suchen nach irgendeinem Gelegenheitsjob.
In den Abendstunden kommt es oft zu Wolkenbrüchen «Wenn es regnet, fliesst das Wasser in alle Zimmer», erzählt Clifford. «Wir müssen dann erst alles aufwischen, bevor wir schlafen können.» 1145 Menschen aus 415 Familien sind in der Schule untergekommen. In der Nacht, wenn alle da sind, ist es so eng, dass man Körper an Körper schläft. Manche haben eine Matratze, andere schlafen auf Decken oder Pappkartons. Vor dem Lehrer:innenzimmer stapeln sich weit über hundert weisse Plastikeimer. Wenn es Wasser gibt, werden sie gefüllt. Immer wieder bleiben die Leitungen in den Klohäuschen für ein paar Tage trocken.
Judith hat die erste Nacht nach ihrer Flucht mit ihren vier Kindern auf der Strasse verbracht. Sie und die beiden sechzehn und siebzehn Jahre alten Mädchen blieben wach, um ihre wenigen Habseligkeiten zu bewachen. Nur das dreijährige Mädchen und der sechsjährige Junge durften schlafen. «Am nächsten Tag habe ich dann erfahren, dass alle meine Nachbarn in dieser Schule sind.» Seither lebt sie mit ihrer Familie und vielen anderen in einem Klassenzimmer. An den Tagen nach ihrer Ankunft seien nach und nach die Leichen aus Solino in die Schule gebracht worden, auch die ihres Vaters und ihres Mannes. «Wir haben sie auf dem nächstgelegenen Friedhof begraben.» Judith hat sich in ihr Schicksal ergeben. Pläne für die Zukunft hat sie nicht. «Wir leben von einem Tag auf den anderen. Wenn es regnet, ist es besonders schlimm», sagt sie. Die Hoffnung, dass es eines Tages besser werden könnte, «die habe ich längst verloren».