Derech Aza: Die Strasse des Protests
Lange vor Israels Staatsgründung war die Derech Aza Teil einer Strasse, die Jerusalem mit Gaza-Stadt verband. So deutlich wie kaum sonst wo treten hier die gegenwärtige Trauer, Wut und Zerrissenheit der israelischen Gesellschaft zutage.
Immer wieder setzt Shay Dickmann an diesem Abend Ende September zum Sprechen an. Doch nur ihr schweres Atmen ist aus den Boxen neben der Bühne zu hören. «Du bist nicht allein!», bricht eine Frau aus der Menge die Stille, andere Protestierende pfeifen der 29-jährigen Medizinstudentin ermutigend zu. «Ich bin die Cousine von Carmel Gat», spricht Dickmann schliesslich mit zitternder Stimme ins Mikrofon. So als kenne nicht längst ganz Israel ihre Geschichte und die ihrer älteren Cousine, die am 7. Oktober vergangenen Jahres von der Hamas aus dem Kibbuz Be’eri in den Gazastreifen verschleppt wurde.
Vor gut einem Monat barg Israels Armee die Leichen von Gat und fünf weiteren Geiseln aus einem Tunnel in Rafah – zwei oder drei Tage zuvor aus nächster Nähe erschossen, heisst es im Obduktionsbericht. Dass ein Einrücken in Rafah das Leben der Geiseln gefährden würde, davor habe ihre Familie immer wieder gewarnt, sagt Dickmann. «Die politischen Entscheidungsträger haben das gewusst», ruft sie den Hunderten Protestierenden zu.
«Schande, Schande!», schallt die Menge. «Bibi, ist es das, was Sieg für dich bedeutet?» Gemeint ist Benjamin Netanjahu, dessen Domizil in Westjerusalem nur wenige Gehminuten von der Bühne entfernt liegt: Rund 500 Meter trennen die Demonstrierenden auf der Derech Aza von der offiziellen Residenz des Premierministers, die gegenüber einem Spielplatz und einem Luftschutzbunker an derselben Strasse steht. Derech Aza – Hebräisch für «Gazastrasse». Sie heisst so, weil sie lange vor Israels Staatsgründung Teil einer historischen Strasse war, die die «Heilige Stadt» mit der Mittelmeerküste und Gaza-Stadt verband. An Bushaltestellen, Häuserwänden oder Laternenmasten: Überall finden sich politische Botschaften. An kaum einem anderen Ort in dieser ohnehin symbolträchtigen Stadt treten die gegenwärtige Trauer, Wut und Zerrissenheit der israelischen Gesellschaft so plakativ zutage wie auf diesem halben Kilometer Asphalt. Und das nicht nur an den Demonstrationen jeden Samstagabend.
Yoga gegen das Vergessen
Vor dem Terrorangriff der Hamas auf Israel und dem folgenden Krieg der israelischen Armee im Gazastreifen habe Politik in ihrem Leben keine Rolle gespielt. So erzählt es Dickmann in einem Café in Tel Aviv einen Tag vor ihrem Auftritt. Dickmann ist aus Jerusalem angereist, um an einer Yogasession im Kunstmuseum teilzunehmen. Nach dem bislang einzigen Geiseldeal vom November hatten Freigelassene erzählt, dass die vierzigjährige Gat sie mit Meditations- und Yogaübungen bestärkt habe, nicht aufzugeben. Seither findet der Kurs jede Woche statt, um an die rund hundert verbliebenen Geiseln zu erinnern, von denen zwei Drittel laut israelischen Angaben noch am Leben sein sollen.
«Für unsere Familie ist es zu spät», sagt Dickmann. «Aber für andere gibt es noch Hoffnung.» Auch wenn ihr mittlerweile klar geworden sei, dass das Überleben der Geiseln für die Regierung, von der sie sich verraten fühlt, keine Priorität habe. Der Druck auf die Politik müsse dennoch aufrechterhalten werden. Nur ein weiterer Deal und ein Waffenstillstand könnten zu einer Befreiung der Geiseln führen.
Michal Deutsch ist eine der Aktivist:innen, die die Familien der Geiseln seit Beginn des Krieges unterstützen. Die Dreissigjährige ist zu einem der bekanntesten Gesichter des Protests geworden. Rund zwanzig Mal wurde die Jura- und Umweltwissenschaftsstudentin in den letzten zwei Jahren festgenommen: zunächst bei Demonstrationen gegen den geplanten Umbau des Justizsystems, später beim Protest gegen den Gazakrieg. Damit hält Deutsch – die beteuert, sich gewaltfreiem Protest verschrieben zu haben – den nationalen Rekord.
Das war keineswegs vorgezeichnet. Aufgewachsen in einem «extremistischen Haushalt», habe auch sie lange rechten Narrativen angehangen, etwa dem religiös begründeten Anspruch auf die von Israel besetzten palästinensischen Gebiete. Ihr Einsatz für Tierrechte habe sie dazu gebracht, ihre Grundsätze zu hinterfragen, erzählt sie auf ihrem Balkon in Jerusalem. Dabei sei ihr klar geworden, dass sie sich nicht für die Belange von Tieren einsetzen könne, ohne gleiche Rechte für alle Menschen einzufordern.
Kompromisse gehörten zu den Protesten dazu, sagt Deutsch, allein der Austragungsort sei so einer. «Emotional betrachtet, ist die Derech Aza der richtige Ort für Protest, um unseren Schmerz rauszuschreien.» Strategisch gesehen, eher nicht: Die Polizei kann die enge zweispurige Strasse leicht abriegeln; in den vergangenen Monaten wurden zusätzliche Kameras und fest verankerte Absperrmöglichkeiten montiert.
Statt darauf zu hoffen, Netanjahu endlich zu einer Beendigung des Krieges bewegen zu können, suchen Deutsch und die Mitstreiter:innen der aktivistischen Gruppe Changing Directions nun den Kontakt zu anderen Likud-Politiker:innen. Diese könnten im Hintergrund Druck ausüben, hofft Deutsch. «Für mich ist die Forderung nach einer Geiselfreilassung mit einem Ende des Krieges verknüpft», sagt sie. Dies auf den Protesten klarer zu formulieren oder Aufmerksamkeit auch auf das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung in Gaza zu lenken, sei in der von Traumata geprägten Atmosphäre innerhalb der jüdischen Mehrheitsgesellschaft nicht leicht. Das sei auch einer der Gründe, warum sich den Protesten so wenige Palästinenser:innen anschlössen. Auch die Angst vor Polizeigewalt spiele eine Rolle.
Uneinigkeit unter Anrainer:innen
Tatsächlich sieht man Palästinenser:innen und andere nichtjüdische Minderheiten auf der Derech Aza erst auf den zweiten Blick: Sie sind als Taxifahrer oder Lieferantinnen unterwegs, arbeiten als Küchenangestellte. Ido Emanuel beschäftigt in seinem Café Sybaris mit dazugehöriger Rösterei zwei Palästinenser aus dem seit 1967 von Israel besetzten und 1980 annektierten Ostjerusalem. Er vertraue ihnen «zu hundert Prozent», wie der 29-Jährige beteuert. Wann immer er mit seiner Familie ins Ausland reise, passe einer der beiden Männer auf seine Wohnung in der Derech Aza auf und füttere seine Katze.
Ein Thema jedoch möchte er gegenüber den beiden nicht ansprechen, auch wenn sie ihn danach fragten: «Acht Monate lang spielte sich mein Leben zwischen Azastrasse und Gazastreifen ab.» Dort diente Emanuel als Reservist, kam nur ab und zu «noch mit dreckiger Uniform» nach Hause, um sich zu erholen. Zu seinen Aufgaben habe gehört, palästinensische Zivilist:innen zu verhaften, die am 7. Oktober nach Israel eingedrungen seien und denen vorgeworfen wird, sich an Plünderungen und Gewalt beteiligt zu haben. «In meinen Augen wurden sie damit auch zu Terroristen», sagt Emanuel. Er selbst habe zehn Freund:innen beim Terrorangriff verloren, fünf weitere seien als Soldat:innen in Gaza gefallen.
Zwar hätten die Proteste der vergangenen Jahre zu vielen Strassensperrungen geführt, und die Einnahmen seien zuletzt eingebrochen. An den aktuellen Demonstrationen aber stört er sich nicht. Im Gegenteil. Das «Bring them home»-Schild im Schaufenster habe er zu Beginn des Krieges angebracht, von dem er hofft, dass er baldmöglichst endet. Den Namen seiner Strasse zu ändern, wie es einige Anwohner:innen und Protestierende fordern, hält er für falsch, ja beinahe töricht. Er verweist dabei auf die lange Geschichte dieses Fleckens Erde. Und darauf, dass das Rehavia-Viertel, durch das die Derech Aza verläuft, erst rund hundert Jahre alt ist.
«Was mir an der Derech Aza gefällt, ist die kibbuzähnliche Atmosphäre», sagt Ido Emanuel. Mit der Zeit kenne jede:r jede:n. Für ihn fühle sich die Strasse wie Heimat an. Hier wolle er seine Kinder grossziehen und sein Geschäft bald um einen Delikatessenladen erweitern.
Unmut in den sozialen Medien
Aber nicht in allen Restaurants und Geschäften an der Derech Aza hängen Plakate, die die Forderungen der Protestierenden unterstützen. Die Inhaber eines neu eröffneten koscheren Restaurants etwa, von dessen Terrasse man auf das Zelt zum Gedenken an die Geiseln blicken kann, sagen, dass sie die Menschen lieber einfach zusammenbringen als über Politik streiten lassen möchten. Daran, dass in denselben Räumlichkeiten während der zweiten Intifada einer von zwei Selbstmordanschlägen an der Azastrasse geschah, würden sie lieber nicht denken.
In einer Seitenstrasse der «Aza» treffen wir Orit Itzak in ihrer kleinen Wohnung, die sie mit religiösen Symbolen dekoriert hat. Ja, auch sie wolle, dass die Geiseln lebend zurückkämen. Aber die Trauer der Angehörigen sei von linken Aktivist:innen gekapert worden, die Israels Gesellschaft spalten wollten, glaubt Itzak. Der Lärm, der am Samstag jeweils schon vor Sonnenuntergang und dem Schabbatende bei den Aufbauarbeiten der Bühne beginne, stört die 37-jährige angehende Musiktherapeutin – wie viele andere Bewohner:innen des Viertels, die ihrem Unmut im Internet Luft machen.
Einmal, im April, habe sie eine Anfrage des rechten israelischen Fernsehsenders Channel 14 erhalten, als Freiwillige die Proteste zu filmen. Itzak zeigt Videos auf ihrem Handy, die sie daraufhin machte. Darauf sind rennende Demonstrierende zu sehen und Polizist:innen auf grossen Pferden, von denen eines Itzak gefährlich nahe kommt. Ein Mann aus der Menge habe sie an diesem Abend beschimpft, worauf sie vor lauter Ärger auf ihrem Balkon die Musik laut aufgedreht habe. Einer der Songs habe von Gusch Katif gehandelt, einer israelischen Siedlung im Gazastreifen, die 2005 vom Militär geräumt wurde. Erst als die Polizei an ihre Tür klopfte, habe sie die Musik ausgemacht. «Was ihr in Europa nicht versteht: dass wir hier einen Kampf zwischen Gut und Böse führen», sagt Itzak. Der Gazastreifen gehöre unter israelische Administration – «Araber», denen das nicht passe, müssten das Gebiet eben verlassen. So sieht sie das.
Ein Jahr danach, frühmorgens
Am vergangenen Montag, dem 7. Oktober, zogen in der Morgendämmerung wieder Hunderte Menschen auf die Derech Aza. Nicht mit Trommeln und Sprechchören, sondern weitgehend still. Während im Hintergrund Sirenen aufheulten, hielten die Protestierenden um 6.29 Uhr unweit von Premier Netanjahus Haus inne – zu jenem Zeitpunkt, an dem vor einem Jahr der Hamas-Überfall begann. Auch Shay Dickmann ist an diesem Tag wieder dabei. Sie reckt ein Schild in die Höhe. Darauf zu sehen: das Gesicht ihrer Cousine Carmel.