Zwei Jahre nach dem 7. Oktober: Kollidierende Realitäten
Immer mehr Stimmen weltweit werfen Israel vor, in Gaza einen Völkermord zu begehen. In Israel selbst wird darüber geschwiegen oder gespottet. Ein paar wenige versuchen, das zu ändern.

Eine Mall im Zentrum Tel Avivs Mitte September: Im Erdgeschoss suchen die Gäste einer Weinprobe die perfekte Flasche für die Feier zum jüdischen Neujahrsfest Rosch ha-Schana. Zwei Stockwerke über ihnen sucht eine Gesprächsrunde an diesem Abend die Antwort auf die Frage: Wie stoppt man einen Völkermord? Unten dröhnt aus Lautsprechern Madonna, oben prüft am Eingang ein Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation B’Tselem die Einladungen der rund 200 Teilnehmer:innen.
Die Besucher:innen haben den Veranstaltungsort neben dem Rabin-Platz erst Stunden zuvor erhalten, nachdem ihre Social-Media-Profile geprüft worden waren, eine Vorsichtsmassnahme. B’Tselem ist eine der international anerkanntesten israelischen Menschenrechtsorganisationen. Im eigenen Land ist sie verhasst, nicht erst, seit sie Ende Juli in einem 88-seitigen Bericht Israels Vorgehen in Gaza als Genozid bezeichnet hat.
«Wie widersetzt man sich einem Völkermord?», ist in grossen Lettern über die Bühne projiziert, auf der B’Tselem-Direktorin Yuli Novak den Abend eröffnet. Auf der Bühne sitzt Israels radikale Linke unter sich: Rula Daoud, die palästinensische Kodirektorin der jüdisch-palästinensischen Graswurzelbewegung Standing Together, Ella Kedar, eine Wehrdienstverweigerin, die nach dem 7. Oktober in ein von Siedlergewalt bedrohtes Dorf im Westjordanland gezogen ist, und Assaf David, Leiter eines Thinktanks.
«Wir haben diese Veranstaltung nicht so genannt, weil wir darauf eine Antwort hätten, sondern weil es die Frage ist, die wir stellen müssen», sagt die 43-jährige Novak. Es sei einfach, die Regierung von Benjamin Netanjahu oder radikale Siedler:innen zu kritisieren, aber dies verdecke, dass es die israelische Bevölkerung sei, die den Völkermord in Gaza begehe: «Es sind unsere Freunde und Familienmitglieder, die zur Armee gehen, unsere Medien, die das Vorgehen rechtfertigen.»
Eine Autostunde südlich rückt die israelische Armee mit Zehntausenden Soldat:innen nach Gaza-Stadt vor. Laut dem Al-Awda-Krankenhaus sind gerade 28 Menschen durch israelische Angriffe gestorben. In Tel Aviv füllen sich zum Beginn des Wochenendes die Bars und Restaurants.
Zurück ins Nachtleben
Ende Juli kam B’Tselem als erste grosse israelische NGO im Bericht «Unser Genozid» zum Schluss: Israels Reaktion auf den Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 mit mehr als 1100 Toten und 250 Verschleppten ist zu einem Völkermord geworden. Das Militär unternehme «koordinierte, vorsätzliche Schritte zur Zerstörung der palästinensischen Gesellschaft im Gazastreifen». Ende 2023 hatte Südafrika mit ähnlichen Vorwürfen Klage vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) eingereicht. Nachdem Israels Führung im Frühjahr monatelang eine Hungerblockade über Gaza verhängt hatte, kamen auch eine unabhängige Untersuchungskommission des Uno-Menschenrechtsrats und der spanische Regierungschef Pedro Sanchez zu diesem Schluss.

Weltweit bewegt das Leid in Gaza, zuletzt protestierten in Berlin Zehntausende gegen Israels Vorgehen. Ein Interview nach dem anderen hätten sie in den Wochen nach der Veröffentlichung des Berichts gegeben, sagt Yuli Novak: CNN, France 24, der «Süddeutschen Zeitung». In Israel hätten viele hebräische Medien überhaupt nicht darüber berichtet. «Ich glaube, 95 Prozent der Israelis haben noch nie davon gehört.»
Fünf Vergehen listet die Uno-Völkermordkonvention auf, vier von ihnen hat Israel den meisten Berichten zufolge begangen: Binnen zweier Jahre starben bei Angriffen der Armee laut Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza mindestens 66 000 Menschen, zwei Drittel von ihnen Frauen und Kinder. Mehr als 168 000 wurden verwundet. Lebenswichtige Infrastrukturen wie Spitäler, Schulen, Wasser- und Stromversorgung und Abwassersysteme wurden systematisch zerstört. Israel weist alle Vorwürfe mit dem gleichen Argument zurück: Schuld sei die Hamas.
«Der 7. Oktober, palästinensische Gewalt gegen Zivilist:innen, die Drohungen der Hamas, all das ist real», sagt Yuli Novak. Doch Israels Führung habe daraus eine Universalrechtfertigung für ihr genozidales Vorgehen gemacht.
Nach einer Stunde unterbricht Lärm die Veranstaltung: Telefone piepen, eine Sirene heult. Die Zuschauer:innen sind das gewohnt, fast täglich lösen Raketen der jemenitischen Huthi-Miliz Alarm aus, meist werden die Geschosse abgefangen. «Wir können sitzen bleiben, der Raum ist raketensicher», sagt der Moderator. Von draussen kommen einige Mallbesucher:innen herein, manche mit Cocktailgläsern in der Hand. Als sie sichtlich irritiert den Titel des Treffens lesen, kollidieren für einen Moment die israelischen Realitäten. Doch die meisten kehren nach ein paar Minuten einfach ins Nachtleben zurück.
Nach der Veranstaltung sagt Novak wenig überrascht: «Für die meisten Israelis ist der Genozidvorwurf so weit weg von ihrer Realität, dass sie ihn kaum ernst nehmen.» Sie selbst habe sich als Israeli und Enkelin von Holocaustüberlebenden oft gefragt, wie Menschen neben einem Massenmord weiterleben könnten. «Jetzt erlebe ich das in der Realität und bringe trotzdem morgens mein Kind in den Kindergarten.»
Zum Handeln verpflichtet
Auch der regierungskritische Journalist Oren Persico sagt, er habe lange gebraucht, um von Genozid zu sprechen. «Aber spätestens seit Israel im März die Waffenruhe gebrochen und alle Hilfslieferungen nach Gaza beendet hat, war für mich klar, dass es ihnen nicht mehr darum geht, den Krieg zu beenden.» Persico beobachtet seit Jahren für die israelische Investigativplattform «The Seventh Eye» die Presselandschaft.
Wer in hebräischsprachigen Medien die Armee kritisiere, erlebe oft heftige Reaktionen, sagt Persico. So warf Yair Golan, der Vorsitzende der linken Oppositionspartei «Demokraten», jüngst seinem Land vor, in Gaza Babys zu töten und gegen Zivilist:innen zu kämpfen. Zwei Tage später ruderte er zurück: Er habe damit nicht die Armee gemeint. 83 Prozent der Toten in Gaza sollen Zivilist:innen gewesen sein, berichteten der britische «Guardian» und das israelische Magazin «+972» jüngst unter Berufung auf interne Unterlagen der Streitkräfte.
Stimmen, die von Genozid sprechen, tauchen laut Persico gar nicht auf. Derweil bedienten prominente Journalist:innen regelmässig genozidale Narrative, etwa dass es in Gaza «keine Unbeteiligten» gebe. «Das Resultat ist, dass viele Israelis die zunehmende Isolation in der Welt nicht verstehen oder sie auf Antisemitismus schieben», sagt Persico. «Den gibt es natürlich, aber die Regierung bläst ihn zusätzlich auf, weil diese Wagenburgmentalität ihr politisch nützt.»
Dabei gäbe es durchaus prominente Stimmen für eine innerisraelische Debatte: Eine von ihnen ist Menachem Klein, emeritierter Professor der Bar-Ilan-Universität und ehemals Teil des israelischen Verhandlungsteams während der Camp-David-Treffen im Jahr 2000. Der 73-Jährige spricht aus seinem Arbeitszimmer in Jerusalem mit ausländischen Sendern, etwa dem US-Radiosender NPR. Dort nennt er Israel eine «genozidale Gesellschaft», die schon vor dem 7. Oktober jahrelang normalisiert habe, dass Palästinenser:innen in Gaza ohne Konsequenzen getötet werden könnten. «Jetzt sind wir blind für die Katastrophe, die wir dort anrichten», sagte Klein jüngst dem in Israel verbotenen Sender Al-Jazeera.
Dass seit zwei Jahren immer wieder Hunderttausende Israelis gegen den Krieg protestieren? «Den meisten dort geht es um die Rückkehr der Geiseln, nicht um die Palästinenser:innen», sagt Klein. Auch bis weit ins Lager der linken Zionist:innen sei Kritik an Israels Militär heute tabu, selbst wenn die politische Führung die Angriffe auf Gaza seit langem gegen den Rat der Sicherheitsbehörden weiterführt. Viele hätten Brüder, Schwestern und Kinder in der Armee. Auch ihm sei nach dem Massaker der Hamas vor zwei Jahren Kritik schwergefallen. Ein halbes Jahr danach aber las er von der künstlichen Intelligenz namens Lavender, die Israel laut Medienberichten einsetzt, um Zehntausende Palästinenser:innen als mutmassliche Hamas-Mitglieder und Ziele für Luftangriffe auszumachen. «Eine Massenmordmaschine», sagt Klein heute. Zusammen mit Äusserungen von einfachen Soldat:innen über Kommandeure bis zu Regierungsmitgliedern, dass niemand in Gaza unschuldig sei, «ist das für mich Völkermord».
Menschlichkeit bewahren
Einige Tage nach dem Treffen in der Mall sitzt Yuli Novak in einem Buchcafé in Jaffa im Süden von Tel Aviv und beantwortet die Frage der Veranstaltung selbst: «Wir können es nicht aufhalten.» Wenn sich eine Gesellschaft einmal entschieden habe, eine andere auszulöschen, sei das kaum zu stoppen.
Novak vergleicht viel: mit der Geschichte ihrer Grosseltern, die den Holocaust dank Belgiern überlebten, die sie versteckten. «Wir sollten wissen, dass etwas fundamental Richtiges darin liegt, sich solcher Gewalt zu widersetzen.» Als Schülerin besuchte sie Auschwitz und später Ruanda. «Auch beim Völkermord dort wurde die Gesellschaft darauf eingeschworen, dass nur die Zerstörung der anderen die eigene Sicherheit garantieren kann.» Die schlimmsten Verbrechen scheinen dann Selbstverteidigung.
Erstmals gedacht, dass es sich hier um einen Genozid handle, habe sie nach dem 7. Oktober, als einer ihrer palästinensischen Mitarbeiter aus dem Gazastreifen in einem Zoom-Meeting von der Vertreibung aus seinem Haus erzählte, der Suche nach Wasser und Essen für seine Kinder, dem Leben im Zelt. Novak dachte: Das klingt wie im Ghetto.
Sie habe viel Kritik bekommen, gerade liberale Israelis würden fragen: Warum von einem «Kampfbegriff» wie Völkermord sprechen? «Weil Genozid nicht nur ein Kriegsverbrechen ist, sondern eines, das für immer mit uns verbunden sein wird», sagt Novak. Und jede:n zum Handeln verpflichtet.
Ende September, einen Abend vor dem höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur, haben sich einige Hundert Menschen vor dem Nationaltheater in Tel Aviv versammelt. In einer langen Reihe hält jede:r schweigend das Foto eines Kindes: ein sechsjähriger Junge, eine Vierjährige. Unter den Bildern sind ihre Namen zu lesen: Muaman, Razan, Alma. «War und ist nicht mehr», steht unter jedem einzelnen.
«20 000 Kinder wurden seit dem 7. Oktober von der Armee getötet, mehr als 1000 von ihnen waren noch kein Jahr alt», ruft Mitorganisatorin Shahar Shillo zu Beginn der Aktion. «An Sukkoth geht es um Vergebung», sagt die 26-jährige Studentin. «Lasst uns daran erinnern, worum wir in diesem Jahr wirklich um Vergebung bitten müssen.»
Eine Stunde lang stehen sie schweigend auf dem Theaterplatz. Passant:innen bleiben stehen, lesen, manche werden wütend. «Diese Kinder werden einmal Terroristen», ruft einer vom Fahrrad, seinen Sohn im Kindersitz vor sich. «Nach Gaza sollte man euch bringen und verbrennen», schreit ein anderer. «Er kommt jede Woche, ich tippe auf posttraumatische Belastungsstörung», sagt Adi Argov. Die 59-jährige Psychologin mit den grauen Locken hat die Aktion im März nach dem israelischen Bruch der Waffenruhe mit ins Leben gerufen. Auf ihrer Website sammelt sie seit Monaten Bilder getöteter Kinder, jeweils mit Namen, Alter, Todestag und Todesursache.
Heute kommen jedes Mal Hunderte zur Kundgebung. Im Juli griffen mehrere Palästinenser:innen im Gazastreifen die Geste auf und posteten Fotos online, die sie mit ausgedruckten Bildern der von der Hamas getöteten Brüder Ariel (4) und Kfir Bibas (wenige Monate alt) zeigen. Die Kinder seien eine Brücke, auf die sich alle einigen könnten, sagt Argov. Die Mahnwachen sollen Menschlichkeit bewahren, weil «Entmenschlichung Genozid erst möglich macht». Und sie sollen wachrütteln. Reservistinnen, Kampfpiloten, die bei ihrem nächsten Einsatz an die Bilder denken müssen.
Doch selbst wenn die Aktionen wirken oder wenn der sogenannte Friedensplan von US-Präsident Donald Trump in den kommenden Tagen die Gewalt beendet: Die Aufarbeitung werde wahrscheinlich erst mit den kommenden Generationen beginnen können, sagt Argov. «Meine Grossmutter hat ihre Familie im Holocaust verloren und immer gesagt: Meine Generation kann den Tätern nicht vergeben, aber eure Generation muss einen Weg finden, Brücken zu bauen. Wie sollten die Palästinenser:innen uns vergeben, was wir ihnen angetan haben? Das werden vielleicht erst unsere Enkel erleben.»
Mitarbeit: Omri Baleli.
Zwanzig-Punkte-Plan für Gaza: Hoher Druck auf die Hamas
«Drei bis vier Tage» – das ist die Frist, die US-Präsident Donald Trump der Hamas am Dienstag setzte, um auf seinen Friedensplan für den Gazastreifen zu antworten. Sonst werde sie «in der Hölle dafür bezahlen». Der Druck auf die Hamas ist hoch – auch vonseiten arabischer und muslimischer Länder. Einer Runde von ihnen hatte Trump am Rand der Vollversammlung der Vereinten Nationen vergangene Woche seinen 21-Punkte-Plan für ein Ende des Krieges in Gaza und eine Rückführung der Geiseln nach Israel vorgestellt. Medienberichten zufolge war die Zustimmung unter anderem der Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabiens gross.
Im Vergleich zu vorherigen Vorschlägen Trumps enthält der aktuelle Plan explizit keine Vertreibung der Palästinenser:innen aus dem Gazastreifen: Der Krieg soll mit Beginn des Abkommens sofort enden, das israelische Militär sich anschliessend zurückziehen. Gazas Verwaltung soll dann eine palästinensische Übergangsregierung aus Technokrat:innen übernehmen, überwacht von einem internationalen Komitee, dem die USA gemeinsam mit arabischen und europäischen Partnern vorstehen. Ausserdem wird im Plan die Palästinensische Autonomiebehörde erwähnt, die Gaza «nach Fertigstellung ihres Reformprogramms» wieder kontrollieren soll. Hamas-Mitgliedern, die ihre Waffen abgeben, soll eine Amnestie gewährt werden.
Nach Trumps Treffen mit Israels Premier Benjamin Netanjahu am Montag blieben von den 21 Punkten des Plans noch 20 übrig – zum Unmut der zuvor konsultierten arabischen und muslimischen Staaten. Die Änderungen betreffen vor allem das Tempo, in dem sich das israelische Militär aus Gaza zurückziehen muss. Aber auch Punkt 18 des ersten Plans – in dem Israel sich bekennen sollte, keine Angriffe mehr in Katar durchzuführen – wurde komplett gestrichen. Dort hatte Israel Mitte September einen Luftangriff auf Hamas-Kader geflogen – sehr zum Ärger der Golfmonarchie, die versuchte, zwischen Israel und der Hamas zu vermitteln.
Nun ist die Hamas am Zug. Teile der israelischen Politik – etwa der rechtsextreme Finanzminister Bezalel Smotrich – hoffen indes, dass sie den Plan ablehnen wird. Und der Krieg im Gazastreifen weitergeht.