Institutionelle Mitverantwortung: «Misogyne Mythen sind wahnsinnig wirkmächtig»

Nr. 9 –

Als Anwältin vertritt Asha Hedayati von Gewalt betroffene Frauen, die sich trennen wollen. Ein Gespräch über das Recht als Herrschaftsinstrument, systemischen Frauenhass und die Sache mit der Hoffnung.

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Portraitfoto von Asha Hedayati
«Gewalt gegen Frauen findet nicht in einem luftleeren Raum statt, die Gewalt wird von Strukturen begünstigt und von diesen nicht verhindert»: Asha Hedayati. Foto: Marlena Waldthausen, Agentur Focus

WOZ: Frau Hedayati, Sie haben ein Buch darüber geschrieben, wie Institutionen Gewalt an Frauen nicht nur nicht verhindern, sondern vielmehr Teil eines gewaltvollen Systems sind. Es heisst «Die stille Gewalt». Was ist damit gemeint?

Asha Hedayati: Damit ist nicht die Gewalt eines Partners oder Expartners gemeint, denn die würden wir sehr deutlich hören, wenn wir als Gesellschaft genau hinhörten. Ich spreche übrigens von Partnern und Tätern, weil ich primär Frauen vertrete und siebzig Prozent der Täter:innen Männer sind. Wenn wir uns Gewalt vorstellen, stellen wir uns häufig körperliche Gewalt vor, die sichtbare Wunden hinterlässt. Dabei existieren eben auch «stille» Formen der Gewalt, wie etwa psychische oder wirtschaftliche. Gleichzeitig ist damit auch die strukturelle Gewalt gemeint, die leise, aber wirkmächtig ist.

WOZ: Können Sie das weiter ausführen?

Asha Hedayati: Wir neigen dazu, Gewalt permanent zu individualisieren. Wenn wir von Gewalt gegen Frauen oder in Partnerschaften sprechen, sehen wir nur die einzelne Beziehung, den einzelnen Täter, die einzelne Betroffene. Womit wir Letzteren immer auch eine gewisse Portion an Verantwortung zuschieben: Sie hätte sich ja jemand anderen suchen können. Sie hätte sich ja früher trennen können. Und verkennen dabei, dass Gewalt gegen Frauen nicht in einem luftleeren Raum stattfindet, dass sich auch Femizide nicht in einem luftleeren Raum ereignen, sondern von Strukturen begünstigt und von diesen nicht verhindert werden.

WOZ: Welche Strukturen meinen Sie?

Asha Hedayati: Wir leben in einer diskriminierenden Gesellschaft. Ich rede dabei nicht nur von Sexismus, sondern etwa auch von Rassismus und Klassismus, die alle ihre eigenen Stereotype produzieren. Diese Diskriminierungsformen machen nicht Halt vor den staatlichen Institutionen. Das findet dann natürlich Ausdruck in Entscheidungen von Behörden und Gerichten, in Schriftsätzen von Anwält:innen und in einer gesamtgesellschaftlichen Haltung diesem Thema gegenüber.

WOZ: Wenn wir kurz beim Sexismus bleiben: Wie genau hängen Patriarchat und häusliche Gewalt zusammen?

Asha Hedayati: Etwa in der wirtschaftlichen Gewalt. Nehmen wir das Beispiel einer von Gewalt betroffenen Frau, die in einem weiblich typisierten Job arbeitet, der schlecht bezahlt ist. Hinzu kommt der Gender Pay Gap. Dann bekommt die Betroffene Kinder. Statistisch gesehen wird sie den Grossteil der Care-Arbeit übernehmen, die unbezahlt ist. Sie kehrt oft nur in Teilzeit zurück ins Erwerbsleben, was sich negativ auf ihre Rente und ihre Karriereaussichten auswirkt. All das schafft wirtschaftliche Abhängigkeit. Es führt dazu, dass die Betroffene, die vor mir sitzt und sich trennen möchte, in dieser Situation nur zwischen Gewalt oder Armut entscheiden kann. Das sind Strukturen, die dazu führen, dass Betroffene Gewalt länger ausgesetzt sind.

WOZ: Sie arbeiten in Deutschland. Wie übertragbar sind Ihre Analysen auf andere Länder?

Asha Hedayati: Gerade die patriarchalen Verhältnisse, die historisch gewachsen sind, waren überall wirkmächtig – und sind es bis heute. In Bezug auf die Familiengerichte hat man mir schon mehrfach bestätigt, dass etwa die Situation in der Schweiz sehr ähnlich sei wie die in Deutschland.

WOZ: In Ihrem Buch kritisieren Sie Institutionen wie die Polizei oder Familiengerichte. Statt Frauen vor Gewalt zu schützen, würden sie diese zum Teil gar fördern. Wie zugespitzt ist diese Aussage?

Asha Hedayati: Ich halte sie leider für gar nicht zugespitzt. Viele meiner Mandantinnen haben in der Partnerschaft bereits enorm viel Gewalt erfahren und erhoffen sich Gerechtigkeit vor Gericht. Stattdessen erleben sie dort oft Traumatisierendes und Gewaltvolles. Die Probleme an den Familiengerichten wurden viel zu lange ignoriert. Das hängt damit zusammen, dass wir in der Rechtswissenschaft nicht lernen, kritisch zu hinterfragen. Recht ist aber ein Herrschaftsinstrument. Statt uns kritisch mit Machtverhältnissen auseinanderzusetzen, sollen wir diese als Jurist:innen stabilisieren. Teilweise ist das auch richtig, wenn man etwa bedenkt, dass rechtsextreme und faschistische Bewegungen den Rechtsstaat abbauen wollen. Aber trotzdem sollte sich dieser auch kritisch mit den Gesetzen auseinandersetzen, die er schafft. Denn Gesetze gab es auch in den 1930er Jahren.

WOZ: Was geschieht denn Problematisches an den Familiengerichten?

Asha Hedayati: Nehmen wir ein typisches Beispiel einer Mandantin, die Gewalt erlebt. Ihr wird vom Jugendamt gesagt, sie solle sich trennen, denn das Miterleben von Partnerschaftsgewalt gefährde das Kindeswohl. Sie trennt sich, flüchtet in ein Frauenhaus. Einen Monat später erhält sie einen Brief vom Familiengericht mit einem Aufgebot. Der Vater hat Antrag auf Besuchsrecht gestellt. Sie geht zum Termin und muss dort auf ihn treffen, denn getrennte Anhörungen werden praktisch nie akzeptiert. Und dann heisst es bei Gericht: Na ja, ist doch jetzt alles wieder gut. Sie sind doch jetzt getrennt. Dann soll sofort ein Besuchsrecht installiert werden. Was in der Regel bedeutet, dass sie immer wieder auf den gewalttätigen Ex treffen muss. Das sind Momente, die für sie gefährlich sind. Und wenn die Mutter oder auch das Kind das nicht möchte, wird es unter Umständen noch schlimmer.

WOZ: Inwiefern?

Asha Hedayati: Im schlimmsten Fall heisst es dann: Vielleicht ist sie nicht erziehungsfähig. Vielleicht kann sie die Bindung zum anderen Elternteil nicht zulassen und manipuliert das Kind.

WOZ: Sie sprechen das umstrittene «Parental Alienation Syndrome» an, die «Eltern-Kind-Entfremdung». Dabei geht es um die behauptete Entfremdung des Kindes durch gezielte Manipulation eines Elternteils, die oft Müttern vorgeworfen wird. Wie eine Correctiv-Recherche zeigte, verbreiten etwa sogenannte Väterrechtler gezielt dieses Konzept.

Asha Hedayati: In Verfahren, in denen von «Bindungsintoleranz» gesprochen wird, muss man davon ausgehen, dass dieses Konzept dahintersteckt. Im schlimmsten Fall können Kinder so zum gewalttätigen Expartner umplatziert werden. Da wirken klassische misogyne Narrative.

WOZ: Welche sind das?

Asha Hedayati: Es ist einfach dieser wahnsinnig wirkmächtige Mythos der Frau, die lügt, die sich rächen will, die geldgierig ist, die Unterhalt erkämpft. Aber wenn wir uns die Zahlen angucken, ist das absurd: Jede zweite Alleinerziehende in Deutschland erhält gar keinen Kindesunterhalt. Und von diesen fünfzig Prozent, die Unterhalt bekommen, erhält wiederum die Hälfte nicht mal den Mindestunterhalt.

WOZ: Noch bevor Betroffene häuslicher Gewalt beim Familiengericht landen, könnten sie theoretisch zur Polizei gehen. In einem Interview haben Sie aber einmal gesagt, Sie könnten Frauen nicht mit gutem Gewissen empfehlen, eine Strafanzeige zu machen. Weshalb?

Asha Hedayati: In 99 Prozent meiner Fälle stellen die Frauen keine Strafanzeige. Allerdings nicht, weil ich ihnen davon abrate, sondern weil es ihnen gar nicht darum geht. Weil sie ums Überleben kämpfen in diesem Moment. Sie sind mit ganz anderen Themen beschäftigt, müssen einen Frauenhausplatz finden, vielleicht eine neue Schule, einen neuen Job, neuen Wohnraum finden. Gleichzeitig kämpfen sie noch in einem familiengerichtlichen Verfahren gegen den Expartner. Ich kann ihnen nicht dazu raten, auch noch durch ein Strafverfahren zu gehen, das sie im Zweifel retraumatisiert. Und am Ende in sehr, sehr vielen Fällen nicht zu einer Verurteilung führt.

WOZ: Was sind das für Frauen, die Sie als Anwältin beraten und vertreten?

Asha Hedayati: Gewalt gegen Frauen geht durch alle soziale Schichten und Milieus. Das zeigt sich auch bei mir im Büro. Zugleich gibt es hier einen rassistischen Diskurs: So heisst es oft, Gewalt finde nur in migrantischen und sozial benachteiligten Milieus statt. Dann wird mit Zahlen von Frauenhäusern hantiert, in denen deutlich mehr Migrant:innen sitzen. Wieso das so ist, wird dann aber nicht eingeordnet. Viele Migrantinnen sind in Frauenhäusern, weil sie kein soziales Netz haben, das sie auffangen würde, und sind oft wirtschaftlich noch prekärer aufgestellt als andere Frauen.

Asha Hedayati: Mehrfach marginalisierte Personen sind zudem schlechter geschützt vom Staat. Trans Personen haben etwa weniger Zugang zu Schutzeinrichtungen. Und aufenthaltsrechtliche Regelungen führen dazu, dass gewaltbetroffene Migrantinnen Angst haben, sich zu trennen. Die Gesetze begünstigen, dass sie an Beziehungen gefesselt sind, bis sie einen eigenständigen Aufenthalt bekommen.

WOZ: Wo müssten wir denn Ihrer Meinung nach als Gesellschaft ansetzen, um die Situation von Betroffenen zu verbessern?

Asha Hedayati: Auf verschiedenen Ebenen. Einerseits wären wir schon einen grossen Schritt weiter, wenn Länder wie die Schweiz, die die Istanbul-Konvention ratifiziert haben, die entsprechenden Massnahmen auch endlich umsetzen würden. Gleichzeitig brauchen wir eine Sensibilisierung von Menschen, die in Institutionen wie Familiengerichten arbeiten. Das Wichtigste ist aber, dass wir eine gesamtgesellschaftliche Haltung entwickeln, die deutlich macht, dass Gewalt gegen Frauen nicht Normalität sein darf und wir diese nicht hinnehmen.

WOZ: Würden nicht die meisten Menschen von sich behaupten, dass sie gegen Gewalt an Frauen sind?

Asha Hedayati: Sicher, ja. Aber gleichzeitig erlebe ich immer wieder Personen, etwa aus dem Umfeld meiner Mandantinnen, die sie dafür verurteilen, dass sie in Partnerschaften gelandet sind, in denen sie Gewalt erfahren haben. Leute, die meinen Mandantinnen nicht glauben, die ihnen vorwerfen, selber schuld zu sein. Sie sagen dann: «Aber er war doch immer so nett. Bist du dir sicher?» Die permanente Täter-Opfer-Umkehr findet gesellschaftlich auf allen Ebenen statt. Wahrscheinlich müssen wir uns erst einmal dieser internalisierten misogynen Muster bewusst werden und dieses Frauenhasses, mit dem wir alle aufgewachsen sind.

WOZ: Jüngst konnten die Themen «sexualisierte Gewalt» und «Femizide» in verschiedenen Ländern stark mobilisieren. Es scheint, als liege da einiges an emanzipatorischem Potenzial.

Asha Hedayati: Ich habe auch das Gefühl, dass diese Bewegung in den letzten Jahren deutlich an Kraft gewonnen hat. Vielleicht ist das naiv von mir, aber ich glaube, selbst wenn wir politisch einen Backlash erleben und konservative und gar rechtsextreme Kräfte immer mehr an Einfluss und Macht gewinnen, lässt sich diese Bewegung nicht aufhalten. Seit #MeToo geht es zwar ganz langsam, aber trotzdem beständig vorwärts. Das stimmt mich hoffnungsvoll.

Die in Deutschland lebende Anwältin Asha Hedayati (41) bringt sich regelmässig in öffentliche Debatten zum Thema «Gewalt an Frauen» ein. 2023 erschien ihr Buch «Die stille Gewalt. Wie der Staat Frauen alleinlässt» im Rowohlt-Verlag.