ADHS: Doomscrolling in der Warteschlaufe

Nr. 42 –

Das öffentliche Angebot für die Abklärung und Behandlung der Aufmerksamkeitsstörung kann die steigende Nachfrage nicht decken. Private Coachings versprechen rasche Hilfe.

Symbolbild: mehrere überlagerte Fotos eines Kopfes
Mal allerhöchste Konzentration, mal maximale Konfusion: Von ADHS Betroffene wissen oft nicht, wo ihnen der Kopf steht. Foto: Martina Rigoli, Getty

«Das ist einfach ein Scheissgefühl», erzählt Emine Demir*. Die 29-Jährige überlegt kurz. «Du sitzt in deinem eigenen Kopf fest – und es passiert einfach nichts mehr.» Das sei wohl das Frustrierendste an ihrem ADHS: dass manchmal selbst Dinge, die man lange geplant habe, auf die man sich so richtig freue, einfach nicht gingen; und man dann überwältigt dasitze – wie gelähmt. Da sei sie in ihrem Umfeld rasch mit Unverständnis konfrontiert, erzählt Demir: Wo denn das Problem sei? Noch schwieriger werde es, wenn sie eine Aufgabe nicht packe.

Als Kind wurde sie in die Nachhilfe für Kopfrechnen geschickt, jedes Wochenende quälte sie sich und versuchte, sich Zahlen zu merken, die nie in ihrem Kopf bleiben wollten. «Wenn ich heute vor einer Prüfung Ritalin nehme, macht das einen Unterschied von ein bis zwei Noten.» Plötzlich könne sie die Zahlen lange genug im Gedächtnis behalten, um sie zu verarbeiten.

Während der Schulzeit blieb Demir unauffällig, fiel eher in die Kategorie «Träumerin». Ihre Lehrer:innen monierten, das stille Mädchen könnte aktiver am Unterricht teilnehmen. So fiel Demir durch die Maschen, eine Diagnose wurde nie gestellt. «Das Bild von ADHS war damals das von zappeligen kleinen Jungs», erinnert sie sich. «Kam dann noch ein Migrationshintergrund dazu, hiess es oft: Das wird ein Fluchttrauma sein, keine Neurodivergenz.»

Für Demir war die Diagnose ADHS auch ein Befreiungsschlag – eine Erklärung für ganz vieles, das sie an sich selber nicht verstanden hatte. Aber diese Erklärung kam spät. Wie viele Betroffene erhielt sie die Diagnose erst im Erwachsenenalter. Den Anstoss dazu hatte ein Beitrag in sozialen Medien gegeben, in dem sie sich wiedererkannte.

Folgen der Entstigmatisierung

Häufig ist die Rede von ADHS als «Trend». Wohl auch wegen der grossen Rolle, die Plattformen wie Instagram oder Tiktok dabei spielen, dass immer mehr – gerade junge – Menschen denken, dass sie «neurodivergent» sein könnten. Das ist ganz im Sinn der sogenannten Neurodiversitätsbewegung, die reklamiert, dass neuropsychologische Störungen wie Autismus, ADHS oder Dyskalkulie schlicht Normvarianten der Gehirnentwicklung seien.

Stephan Kupferschmid, Chefarzt des Psychiatriezentrums für junge Erwachsene der Privatklinik Meiringen in Thun, macht die Gründe anderswo aus: «Es ist eher ein Megatrend unserer Zeit, dass psychische Gesundheit allgemein viel mehr in den Fokus gestellt wird.» Dass die Scham bei diesem Thema kleiner werde, sei wünschenswert. «Diese Entstigmatisierung können wir aber nicht bei allen psychischen Störungen feststellen.» So habe der Wandel in der Wahrnehmung von ADHS oder auch von Autismus damit zu tun, dass mehr über die möglicherweise auch positiven Seiten dieser neuropsychologischen Störungen gesprochen werde. «Bei der Gruppe der Schizophrenien oder Persönlichkeitsstörungen kann man das nicht in derselben Form beobachten.»

Die Betonung von Fähigkeiten, die speziell mit ADHS verbunden sein könnten, trägt für viele Betroffene dazu bei, dass sie ihre Situation und sich aus einer anderen Perspektive betrachten können. Das könne helfen, sei aber nicht nur unproblematisch, findet Filipo Marini*: «Es kann doch nicht sein, dass wir erst dann ein Gefühl von Selbstwert vermittelt bekommen, wenn die ‹Neurotypischen› merken, dass wir ja doch noch positive – oder noch schlimmer – profitable Eigenschaften haben.»

Obwohl er in der Schulzeit eher dem Klischee des Zappelphilipps entsprach, wurde ADHS bei Marini erst diagnostiziert, als er dreissig war. Bis dahin konnte er sich nicht erklären, warum er mit Dingen, die für andere so selbstverständlich waren, derart kämpfte. Er hatte Mühe, zu lernen, störte oft den Unterricht, machte Flüchtigkeitsfehler, war vergesslich, impulsiv. Es gab Probleme mit Gleichaltrigen, Streit und Raufereien. «Ich hatte irgendwie immer dieses Gefühl vom Anderssein», erzählt Marini. «Weil ich mich sehr lange und sehr stark konzentrieren konnte, sobald mich etwas interessierte, hiess es aber, ich sei einfach faul.»

Stundenlang konnte er in einem Hyperfokus, in höchster Konzentration, versinken. Aufgaben, die ihn langweilten, verweigerte er sich aber – und reagierte mit Frust und Aggression. «In der Primarschule konnte ich mich noch durchmogeln, aber spätestens ab dem Gymnasium ging das immer weniger.» Es fiel ihm immer schwerer, seinen Alltag zu organisieren; und zu den Problemen im Schulischen und im Privaten kamen zwei ADHS-typische Begleiterkrankungen: Angststörungen und Depressionen.

Warten auf eine Diagnose

Für Nader Perroud, der am Departement Psychiatrie der Universität Genf lehrt und forscht, ist das zunehmende Diagnostizieren von ADHS eine Folge davon, dass man immer mehr über ADHS weiss. So könnten heute viele Fehldiagnosen vermieden werden. Zusätzlich führe der Abbau von Stigmatisierungen dazu, dass Betroffene heute offener über ihre Diagnose sprächen. Dem Einwand jedoch, dass es manchen so vorkomme, als hätten heute «alle ein bisschen ADHS», kann Perroud nicht viel abgewinnen: «Man könnte auch sagen, ‹alle haben heute ein bisschen Depressionen› – ohne dass durch die weite Verbreitung von Symptomen, die man auch mit Depressionen erklären kann, die Diagnose von depressiven Störungen zum Problem gemacht wird. Warum soll das bei ADHS anders sein?»

Für den Wandel des gesellschaftlichen Bewusstseins ist das öffentliche Angebot im Bereich geistiger Gesundheit aber nicht gewappnet. Für ADHS-Abklärungen gibt es Wartefristen von einem Jahr und länger. Aufgrund dieser Versorgungslücke werden viele Betroffene oder ihre Eltern mit kommerziellen Angeboten bombardiert. So ist Filipo Marini etwa aufgefallen, dass er online immer mehr personalisierte Werbung erhielt, die auf Menschen mit ADHS ausgerichtet war. Da habe es dann zum Beispiel «Entdecke deine ADHS-Superpower auch im Beruf!» oder «ADHS-Life-Coaching – Investiere in dein Kind!» geheissen.

Solche Selbstoptimierungsrhetorik von Online-Life-Coaches, die schnelle Linderung verspricht, findet Marini besonders unsympathisch: «Da hat man schon den Hang zum Doomscrollen, dem teilweise exzessiven Konsum von schlechten Neuigkeiten im Internet, und Probleme mit der Impulskontrolle, wo man nicht immer nur kauft, was man braucht. Und während du zehn Monate auf deinen Diagnosetermin wartest, versprechen dir irgendwelche Leute auf Instagram, dass du nur ihr Selbsthilfeprogramm kaufen musst – und in deinem Leben soll dann alles besser werden!» Vorausgesetzt jedenfalls, das Portemonnaie stimmt – für eine Stunde ADHS-Coaching muss man in der Regel um die 150 Franken auslegen. Die Krankenkassen übernehmen die Kosten dafür nicht.

Natürlich gibt es auch Coachings, die ihren Preis wert sind. Aaron Heri etwa hat von den ADHS-Coachings im Rahmen seiner Ausbildung zum Diplompfleger profitieren können: «Da haben wir vor allem angeschaut, wie ich mich rund um meinen Alltag organisiere, mich auf Prüfungen und grosse Arbeiten vorbereiten kann.» In diesem Rahmen seien auch Defizite aufgefallen, die er nun besser managen könne.

Im Parlament angekommen

Laut Stephan Kupferschmid liegt die Problematik darin, dass der «Coaching»-Begriff nicht geschützt ist. «Für Betroffene ist es da unheimlich schwer einzuschätzen, wie gross das Fachwissen der Person ist, die hinter so einem Angebot steht.» Nader Perroud ergänzt: «Es ist wichtig, dass man vorsichtig ist und nicht allem im Internet traut. Und dass man, wenn der kleinste Zweifel laut wird, eine medizinische Fachperson konsultiert.» Da zeige sich aber auch die Ambivalenz des Internets. Laut Perroud ist es durchaus von Nutzen, dass sich auf sozialen Medien so viele über ihre geistige Gesundheit austauschen: «Das verbessert das Wissen zu Dingen wie ADHS und hilft, gesellschaftliche Akzeptanz zu schaffen.» Gerade der Abbau des Stigmas und ein besseres Verständnis seien zentral, um die Gesundheitsversorgung von Betroffenen zu verbessern.

Mittlerweile ist dieser Bewusstseinswandel tatsächlich auch ein wenig in der etablierten Politik angekommen. 2015, als die Thurgauer SVP-Nationalrätin Verena Herzog in einer Motion von ADHS als «Erfindung» sprach und die Verschreibungspraxis von Stimulanzien kritisierte, fand sie damit zumindest in der grossen Kammer eine Mehrheit. Eine Motion von Yvonne Feri (SP), die dieses Jahr per Stichentscheid des Nationalratspräsidenten an den Bundesrat überwiesen wurde, schlägt einen ganz anderen Ton an: Es solle endlich ein Massnahmenplan geschaffen werden, um die «unzumutbaren Wartezeiten» für ADHS-Patient:innen in den Griff zu kriegen.

* Namen geändert.

Diagnostikgeschichte: Zu viel Feuer

Auch wenn heute noch manche von ADHS als «Erfindung» sprechen, haben Wissenschaftler:innen schon vor langer Zeit bemerkt, dass es manchen erheblich schwerer fällt als anderen, ihren Fokus zu halten und sich für unliebsame Aufgaben zu motivieren.

Eine erste Beschreibung von Verhaltensweisen, die als ADHS interpretiert werden können, ist 2400 Jahre alt und stammt vom griechischen Arzt Hippokrates. Er berichtete von einem Patienten mit beschleunigter Sinnesauffassung, dem es aber schwerfalle, sich lange und fokussiert auf eine Aufgabe zu konzentrieren. In solchen Menschen sei das Feuer gegenüber dem Wasser im Ungleichgewicht. Im 18. Jahrhundert schrieb der schottische Arzt Alexander Crichton ausführlich über Kinder, die wegen eines angeborenen Gebrechens unfähig seien, sich mit Beständigkeit auf ein Lernziel zu konzentrieren. Heute deutet man seine Beobachtungen als Beschreibung eines bestimmten Typus von ADHS.

Der Umstand, dass ADHS weltweit vorkommt, lässt vermuten, dass die Störung so alt sein könnte wie die Migration des modernen Menschen aus dem afrikanischen Kontinent. Das heute pathologisierte ADHS könnte sogar als evolutionäre Anpassung entstanden sein: Laut aktuellen Studien waren Eigenschaften, die mit dem ADHS-Spektrum in Verbindung gebracht werden, in vorindustriellen Lebenssituationen durchaus nützlich. So kann der oft beobachtete Hyperfokus in Situationen, in denen Schlaf und Nahrung aufgeschoben werden müssen, zum Vorteil werden – etwa bei der Verfolgung eines Wildtiers. Studien aus den 1990er Jahren besagen, dass Menschen aus dem ADHS-Spektrum bei solchen «dringenden Aufgaben» länger ihre Grundbedürfnisse ignorieren als neurotypische Menschen. Dass ADHS nicht nur Nachteile hat, könnte auch der Grund dafür sein, warum es nicht ausgestorben ist: Heute wird die «Entwicklungsstörung» bei vier bis sechs Prozent aller Kinder und drei bis vier Prozent aller Erwachsenen diagnostiziert.

In den Wissenschaften wird aktuell meist davon ausgegangen, dass ADHS die Folge eines komplexen Zusammenspiels verschiedener Gene ist und von Geburt an besteht. Es kommt zu einer Deregulation von Neurotransmittern wie Dopamin und Noradrenalin. Die Reaktion des Gehirns darauf ist individuell und kann widersprüchlich wirken – manche reagieren mit extremer Aktivität, andere mit Tagträumerei und stiller Einkehr. Lange dominierte die Lehrmeinung, dass sich ADHS auswächst. Inzwischen weiss man es besser: Seit den nuller Jahren wird die Diagnose «adultes ADHS» auch in der Schweiz anerkannt.