Dr. Google: «Man ist nicht mehr ‹verletzt›, sondern ‹getriggert›»

Nr. 6 –

Ich kann mich schlecht konzentrieren, habe ich ADHS? Die Soziologin Laura Wiesböck hat den Trend, psychische Gesundheit auf digitalen Plattformen zu verhandeln, in einem Buch analysiert.

WOZ: Frau Wiesböck, «Dr. Google» ist für viele die erste Anlaufstelle, wenn sie sich krank fühlen. Auf den sozialen Medien ist der Hashtag #selfdiagnosis omnipräsent. Warum boomt das so?

Laura Wiesböck: Der Mental-Health-Diskurs ist stark vom US-amerikanischen Raum geprägt, wo der Zugang zu medizinischer Versorgung sehr eingeschränkt ist. Informationen zu Diagnosen auf Social Media können prinzipiell eine gute Hilfestellung für Menschen sein, die keine Gesundheitsleistungen beanspruchen können oder sich schwertun, die offizielle Fachsprache zu entschlüsseln. Gleichzeitig stellt sich aber auch die Frage, ob es nicht zu einer Popularisierung der Idee kommt, dass Krankheit überall ist und menschliche Gefühlszustände wie Weltschmerz nach und nach in den medizinischen Bereich verschoben werden. Der Massstab für Gesundheit ist dann vollständige Funktionalität und Genussfähigkeit. Abweichungen werden zur Krankheit. Die Frage ist, ob dieses Bild von Menschsein gesellschaftlich unterstützt werden sollte.

WOZ: Sie sprechen in Ihrem Buch von einem «Diagnoseenthusiasmus».

Laura Wiesböck: Diagnosen können entlastend wirken. Sie verleihen einem eine legitime Bedürftigkeit, man ist von überhöhten Effizienzansprüchen der Gesellschaft befreit. Und im digitalen Zeitalter findet man durch sie auch eine Gemeinschaft. Auf Instagram schreiben viele ihre Diagnose in die Kurzbeschreibung ihrer Person. Krankheit wird zu einem zentralen Teil der Identität erhoben – nicht als etwas, das man hat, sondern als etwas, das man ist. Medizinisch abgesichert ist der Krankheitsstatus nicht immer. Therapeut:innen, mit denen ich gesprochen habe, berichten etwa, dass vermehrt junge Leute mit einer Selbstdiagnose zu ihnen kommen. Sie versuchen dann herauszufinden, warum die Person gerade diese Diagnose gewählt hat, welche Funktion sie erfüllt, was sie damit verbindet.

«Digitale Diagnosen»

Die Soziologin Laura Wiesböck, geboren 1987 in Wien, beschäftigt sich mit Formen, Ursachen und Auswirkungen sozialer Ungleichheit im Hinblick auf Arbeit, Armut und Geschlecht. 2018 erschien ihr Sachbuch «In besserer Gesellschaft. Der selbstgerechte Blick auf die Anderen», in dem es um die Sehnsucht nach Überlegenheit und Abgrenzung geht.

In ihrem jüngsten Buch, «Digitale Diagnosen» (Zsolnay-Verlag), analysiert Wiesböck, wie psychische Gesundheit auf Onlineplattformen wie Instagram oder Tiktok verhandelt wird – und wie inflationär medizinische Begriffe wie Trauma in den Alltag einfliessen.

Portraitfoto von Laura Wiesböck
Foto: Marija Šabanović

WOZ: Krankheit ist ein Stück Popkultur geworden?

Laura Wiesböck: Dass sich Menschen freuen, wenn sie eine ADHS-Diagnose haben oder Pullover tragen, auf denen steht «My anxiety has anxiety», ist ein relativ neues Phänomen. Diese Kommerzialisierung findet sehr stark auf Körpern statt, die als begehrenswert gelten: junge, attraktive Frauen mit glänzenden Haaren und gebräunter Haut. Auf Körpern von Betroffenen mit Hygienedefiziten wirkt die Krankheit nicht mehr so cool und erstrebenswert. Ausserdem betrifft es nur bestimmte Diagnosen, die sich ästhetisch gut inszenieren lassen. Narzissmus oder Psychopathie zählen bis heute nicht dazu. Diese Popularisierung ist aber auch aus feministischer Perspektive interessant: Wurde die Pathologisierung von Frauen historisch stark als Unterdrückungsmechanismus erkannt und bekämpft, gelten Diagnosen heute mitunter als emanzipatorischer Akt.

WOZ: Immer mehr Frauen bekommen ADHS als Diagnose, auch weil die Krankheit lange unentdeckt war. Sie wurde nur für Männer definiert, Frauen haben aber andere Symptome.

Laura Wiesböck: Prinzipiell kann es befreiend sein, wenn eine Krankheit lange nicht anerkannt und gesehen wurde und man endlich Klarheit bekommt. Medizinische Studien und Diagnoseverfahren haben immer noch einen starken Gender-Bias. Gleichzeitig muss man sich fragen, ob nicht alte Muster der geschlechtsspezifischen Pathologisierung mit einem emanzipatorischen Schein wiederbelebt werden.

WOZ: Wie meinen Sie das?

Laura Wiesböck: Hinter einer Depression etwa, die häufiger bei Frauen diagnostiziert wird, versteckt sich in der tiefenpsychologischen Lesart unterdrückte Wut. Frauen wird schon früh beigebracht, diese nicht auszuleben. Deshalb ist es wichtig bei einem Thema, das scheinbar individuell und biografisch ist, auch die gesellschaftlichen Mechanismen, in die diese eingebettet sind, genauer anzuschauen, dabei aber auch für Ambivalenzen offen zu bleiben. Denn Depression kann auch als ein widerständiger Akt gesehen werden, indem man die unbezahlte Care-Arbeit, die dienstleistungsorientierte Freundlichkeit und Harmonieorientierung, die von Frauen in patriarchalen Gesellschaften erwartet werden, verweigert.

WOZ: «Sad Girls» werden aber auch oft erotisiert, wie etwa im Film «The Virgin Suicides».

Laura Wiesböck: Das sind meist sehr dünne, weisse, westliche junge Frauen, die ihre Zerbrechlichkeit in den Vordergrund stellen. Mehrfach Marginalisierten, wie Schwarzen oder muslimischen Frauen, steht diese Form der Verletzlichkeit gesellschaftlich nicht zu. Frauen, die sich online als «Sad Girls» darstellen, sind also auf vielen Ebenen privilegiert – nicht zuletzt braucht man dafür Zeit, die viele gar nicht haben.

WOZ: Ändert sich im Lauf der Zeit, welche Krankheiten auf Social Media präsent sind?

Laura Wiesböck: Es gab eine Phase, in der Bilder von jungen Frauen dominierten, die in die Kamera weinten und meinten, sie hätten Depressionen. Während der Pandemie rückte ADHS stärker in den Fokus, wobei Umweltfaktoren oft nur unzureichend berücksichtigt werden. Wenn es um ADHS geht, werden Fragen danach, ob man in einer lärmbesetzten Gegend wohnt, ob Kinder die schulischen Anforderungen zu stark belasten oder wie hoch die Bildschirmzeit ist, weitgehend vernachlässigt. Das sind jedoch alles Aspekte, die Symptome nachweislich befördern können. Konzentrationsprobleme sind in modernen, informationsüberfluteten Gesellschaften ohnehin ein wachsendes Phänomen. Im Kontext von Mental-Health-Diskursen auf Social Media liegt der Fokus jedoch auf den Symptomen.

WOZ: Die Diagnose ist an sich schon das Ziel?

Laura Wiesböck: Teilweise werden Diagnosen wie ein Erlösungsversprechen verhandelt. Pathologisierung kann als modernes Hilfskonstrukt gedeutet werden, mit dem sich Menschen von der zugeschriebenen Eigenverantwortung für die Entstehung von Traurigkeit oder Ineffizienz entlasten. Man hat eine offizielle Bescheinigung, dass man die überbordenden neoliberalen Leistungsansprüche nicht erfüllen kann – nicht weil man persönlich versagt hat, sondern weil man eben krank ist. Auch in anderen Bereichen kann es als Entlastungsstrategie verwendet werden, wie wir es bei Männern erleben, die Gewalt gegen Frauen ausüben. Zu betonen, man sei depressiv und habe ein Kindheitstrauma durch Gewalt in der Familie, soll dann als Rechtfertigung dienen, dass man diese selbst ausübt.

WOZ: Was wäre stattdessen zu beachten?

Laura Wiesböck: Es wäre wichtig, hinter die gesellschaftlichen Bedingungen und patriarchalen Normen zu blicken, die männliche Gewalt hervorbringen, statt diese individuell zu pathologisieren. Warum führen Kindheitstraumata und Depressionen bei Frauen nicht in gleichem Ausmass zu Gewaltanwendung? Und warum richtet sich die ausgeübte Gewalt primär gegen Frauen? Warum ermordet ein «psychisch kranker Täter» Sexarbeiterinnen und nicht Bauarbeiter?

WOZ: Werden dadurch auch strukturelle Ungerechtigkeiten ausgeblendet?

Laura Wiesböck: Individualisierung ist ein zentrales Prinzip im Neoliberalismus. Der Begriff «Mindfulness» ist dafür ein gutes Beispiel. Im Buddhismus geht es darum, das eigene Ego und materielle Gelüste zu überwinden und das Wohl anderer zu berücksichtigen. Bei der westlich vereinnahmten Variante von «Mindfulness» geht es um eine radikale Egozentrierung. Die Aufgabe, Ängste zu lindern, wird auf Einzelne verlagert, statt auf die Gesellschaft oder den Arbeitgeber. Unter «Selfcare» könnte man ja verstehen, mit Freundinnen einen netten Nachmittag zu verbringen. Vorrangig propagiert werden jedoch selbstbezogene, konsumorientierte Praktiken.

WOZ: Auch hier ist also die ökonomische Ebene entscheidend.

Laura Wiesböck: «Selfcare» ist ein Wohlstandsphänomen, denn dafür braucht es Zeit und Geld. Damit kann der Appell an Selbstfürsorge zynische Aspekte beinhalten. Etwa wenn alleinerziehenden Müttern vermittelt wird, sie sollen ausreichend auf sich achten, während es gleichzeitig kaum Betreuungsmöglichkeiten für ihr Kind gibt und sie am Arbeitsmarkt diskriminiert werden. Plakativ gesprochen: Sie werden gesellschaftlich alleingelassen und sind dann auch noch selbst für ihren Überlastungszustand verantwortlich, weil sie sich nicht gut genug um sich gekümmert haben.

WOZ: Die neue Sensibilität in Sachen Triggerwarnung wird gern von rechter Politik instrumentalisiert.

Laura Wiesböck: Dabei gehört es zu den grundlegenden Merkmalen rechter Ideologien, dass Emotionen die moralische Grundlage für Handlungen sind. Die politische Strategie des Rechtspopulismus beruht darauf, Emotionen zu schüren und sich in ihnen zu suhlen, insbesondere Angst und Hass. Insofern ist es paradox, wenn das Prinzip der «neuen Sensibilität» von rechter Seite kritisiert wird, denn eine hohe Sensibilität bedeutet, stark auf Gefühle zu reagieren. Und das ist der vorherrschende Modus in rechten Kontexten.

WOZ: Weil Gefühle nicht kritisierbar sind?

Laura Wiesböck: In Form von psychiatrischen Klassifikationen sind sie das zumindest weniger. Man ist dann nicht mehr «verletzt», sondern «getriggert» und muss damit ernst oder ernster genommen werden. Diese Veralltäglichung von medizinischen Begriffen kann zynisch gegenüber tatsächlich Betroffenen sein, etwa Geflüchteten, die bei Silvesterfeuerwerken in einen kriegsähnlichen Zustand zurückgeworfen werden. Gleichzeitig stellt sich die Frage, inwiefern die krankhafte Deutung von hinderlichen Gefühlslagen heute dafür verwendet wird, an deren Entstehung nicht selbst «schuld» zu sein. In jedem Fall sind das Zulassen und das Durchleben von leidvollen Gefühlen eine Grundlage dafür, Mitgefühl für andere zu empfinden. Man kann nur Zugang zum Schmerz anderer haben, wenn man Zugang zum eigenen Schmerz hat.

WOZ: Gibt es auf den sozialen Medien auch ausgebildete Therapeut:innen?

Laura Wiesböck: In Österreich dürfen Therapeut:innen nicht für sich und ihre Leistung werben, da gilt das Werbeverbot. Hier wird das Thema «psychische Gesundheit» online überwiegend von Personen besetzt, die auf diesem Gebiet nicht ausgebildet sind, wie Betroffenen oder Influencer:innen, die das Storytelling beherrschen und wissen, wie sie Follower:innen abholen. Aus meiner Perspektive ist eine generelle Diskussion über Regulierungen notwendig, besonders wenn es um sensible medizinische Fragen geht. Das betrifft nicht nur die Verbreitung von verkürzten Informationen, sondern auch die Bewerbung von ADHS-Medikamenten, die auf Social-Media-Plattformen normalisiert ist. Start-ups bewerben mit Tiktok-Anzeigen Stimulanzien, die ein hohes Suchtpotenzial und Missbrauchsrisiko haben. Ohne Kontrolle wird das trügerische und verharmlosende Bild erzeugt, dass Sorgen und Probleme durch die schnelle und unkomplizierte Einnahme von Medikamenten gelöst werden können.

WOZ: Eine letzte Frage: Haben Sie durch die intensive Beschäftigung mit dem Thema auch an sich irgendwelche Symptome entdeckt?

Laura Wiesböck: Bisher nicht. Aber ich würde von mir auch behaupten, eine gewisse Leidensfähigkeit zu haben. Ohne die kommt man in der Wissenschaft vermutlich auch nicht weit.