Literatur: Ausbruch aus dem Wartemodus

Nr. 42 –

Buchcover von «Der Libellen­spiegel»
Yusuf Yesilöz: «Der Libellen­spiegel». Limmat Verlag. Zürich 2024. 200 Seiten. 32 Franken.
Der Autor liest am Mi, 23. Oktober 2024, in Zürich und am Mi, 13. November 2024, in Luzern. www.zuerich-liest.ch, www.terranova.lu

Sahar muss einige Male in die Änderungsschneiderei gehen, bis die Hose ihres Freundes Michael genug hergibt, um ihn darin ihrer Schwiegermutter zu präsentieren. Dafür findet sie in der Schneiderin Juana eine Freundin, die sie von nun an regelmässig trifft – in zahlreichen Gesprächen entfalten sich die Lebensgeschichten der beiden.

Sahar, Protagonistin in Yusuf Yesilöz’ neustem Roman «Der Libellenspiegel», ist froh um die neue Freundin: Ihr Freund lässt oft bis Mitternacht auf sich warten und ist für sie und die gemeinsame Tochter kaum da. Wo er genau steckt, scheint Sahar nicht sonderlich zu interessieren. Überhaupt spielen sich in diesem Buch die wesentlichen Szenen zwischen Frauen ab – sie sind es, die lange Gespräche über einschneidende Erfahrungen führen, einen Umgang mit widrigen Lebensbedingungen finden oder wieder an zerrissene Familienbande anknüpfen.

Dies versucht etwa die erwähnte Schwiegermutter Narin, die nicht Mutter von Sahars aktuellem Freund, sondern von ihrem Ehemann Beyto ist. Nach der Hochzeit im Dorf in der Türkei, aus dem Beytos und Sahars Familien ursprünglich stammen, reist Sahar in die Schweiz zu Beytos Familie. Als am Flughafen bloss die Schwiegereltern auf sie warten, kommt sie sich «wie eine Ware vor, die importiert worden war». Beyto bleibt verschwunden, und Sahar verbringt die ersten Monate im Wartemodus bei den Schwiegereltern, bis sie es wagt, ihren eigenen Weg zu gehen.

So wie Narin mit den Wünschen Beytos nicht klarkommt und die Beziehung zwischen Mutter und Sohn stark leidet, als er aus der engen Welt seiner Eltern ausbricht, muss sie auch über ihren Schatten springen, um den neuen Freund ihrer Schwiegertochter kennenlernen zu wollen. Der Wunsch nach Kontakt zwischen Sahar und Narin ist letztlich stärker als jener, nach aussen eine intakte Familie vorzuspielen. Inmitten verwickelter Familiengeflechte zeichnet Yusuf Yesilöz behutsam den Lebensweg starker und selbstbestimmter Frauen nach.