Frauen in Nepal: Die Zurückgelassenen

Nr. 10 –

Jeder zweite nepalesische Mann unter vierzig Jahren arbeitet im Ausland. Zurück bleiben Ehefrauen, die ihre Rolle neu definieren müssen – und in ihren Familien und Gemeinschaften Häme, Misstrauen und Missbrauch ausgeliefert sind.

In den Dörfern Nepals können nur wenige lesen und schreiben: Phekani Chaudhary kann mit dem Geld, das ihr Mann nach Hause schickt, ihrer Tochter den Schulbesuch ermöglichen. Foto: Deza

Als Rina Das das letzte Mal von ihrem Ehemann hörte, war er eben in Kathmandu angekommen. Entschlossen, dort mit seinem neu ausgestellten Pass ein Arbeitsvisum zu beantragen, um dann in Katar eine Stelle als Bauarbeiter anzutreten. Mit dem verdienten Geld wollte er seine siebenköpfige Familie aus der Armut befreien. Vier Jahre ist das her. Seither ist der Nepalese verschollen. Ob er das Land je verlassen hat, weiss Rina Das nicht. Ob er vielleicht untergetaucht ist, weil er ihr Leben in Armut nicht mehr ertrug. Ob er verschleppt wurde. Oder gar tot ist.

Rina Das’ Ehemann hatte denselben Plan wie viele seiner Landsleute. Rund sechzig Prozent der nepalesischen Männer zwischen 18 und 45  Jahren arbeiten im Ausland, die meisten in den Golfstaaten und Malaysia. Sie schicken regelmässig Geld zurück, die Überweisungen haben inzwischen eine Höhe von rund dreissig Prozent des Bruttoinlandsprodukts des Landes erreicht. Besonders hoch ist die Migrationsrate im Süden Nepals, einer der ärmsten Regionen des Landes. Denn auch ungelernte Arbeiter können im Ausland viel mehr verdienen, als sie in Nepal je erwirtschaften könnten.

Zurück bleiben die Frauen in einer Rolle, die für sie in einer starren Gesellschaftsordnung wie jener im Süden Nepals nicht vorgesehen ist: auf sich alleine gestellt und der Häme, dem Misstrauen und dem Missbrauch durch Schwiegereltern und NachbarInnen ausgeliefert. Es ist die andere Seite der Arbeitsmigration, die nur selten in den Medien verhandelt wird, anders als etwa die schlechten Arbeitsbedingungen der Arbeitsmigranten auf den Baustellen der Fussballstadien in Katar, die immer mal wieder im Fokus stehen.

Vorm Hindutempel wird geschwatzt

Rina Das wohnt in einem Dorf in der Nähe von Janakpur, im Süden Nepals. Rund eine halbe Stunde dauert die Fahrt im Geländewagen der EntwicklungsarbeiterInnen über die holprige Feldstrasse, die wegen des Monsuns voller Pfützen ist. Einen Geländewagen besitzt hier draussen aber niemand. Die Menschen sind BäuerInnen, pflanzen Kartoffeln und Mais an, halten Ziegen und Hühner und erwirtschaften kaum mehr, als sie für die Selbstversorgung benötigen. Das Leben findet auf den Plätzen vor den Lehmhütten und in und rund um die zahlreichen Hindutempel statt. Hier spielen Kinder im roten Sand, hier schwatzen die älteren Männer am Nachmittag. Eine Berufsausbildung hat im Dorf fast niemand. Und auch lesen und schreiben können nur wenige.

Die Aussicht auf einen einträglichen Job im Ausland reizt viele der jungen Männer. Die damit verbundenen Gefahren reden sie sich klein: Unfälle am Arbeitsplatz, Ausbeutung, Betrug, Verschuldung. Um dann Arbeitsverträge zu unterschreiben, die sie nicht lesen können und deren genauen Inhalt sie nicht kennen. Schon Kathmandu ist weit weg von hier, sieben bis zehn Busstunden entfernt. Katar oder Malaysia oder Saudi-Arabien liegen noch viel weiter in der Ferne. Der Lohn aber sei gut, bestätigen sich die Männer gegenseitig. Und wenn man spare, könne man sich nach einigen Jahren im Ausland in Nepal etwas aufbauen. Land kaufen vielleicht. Ein Haus aus Beton bauen. Also brechen die Männer, die keine Perspektive mehr für sich in ihrem Land sehen, auf. Und das zu Tausenden.

«Wenn rund die Hälfte der Männer im arbeitsfähigen Alter im Ausland ist, wirkt sich das stark auf die sozialen Dynamiken einer Gesellschaft aus», sagt Anita Ghimire, Direktorin des Nepal Institute for Social and Environmental Research. Sie erforscht die sozialen Folgen der Arbeitsmigration. «Die idealtypische Frau verbringt im konservativen Süden so viel Zeit wie möglich in den eigenen vier Wänden. Wenn ihr Mann aber im Ausland ist, kann sie dieses Ideal nicht mehr erfüllen.» Plötzlich müssen die Frauen das familiäre Einkommen verwalten und sich neben Haushalt und Kindererziehung auch um Dinge kümmern, die Frauen traditionsgemäss nicht tun. Handwerker beauftragen etwa. Dies unter den argwöhnischen Blicken der NachbarInnen, die hinter jeder Interaktion mit einem Mann Ehebruch vermuten.

Zudem stehen die Frauen unter dem Druck der Schwiegereltern, die Anspruch auf das zurückgeschickte Geld erheben und den Schwiegertöchtern nicht zutrauen, dass sie dieses sorgfältig verwalten. Dieser Vorwurf ist manchmal sogar gerechtfertigt, da die Frauen nie gelernt haben, mit Geld umzugehen. Und wo er grundlos erhoben wird, können sich die Frauen nicht wehren, da sie nie gelernt haben, Buch über ihre Ausgaben zu führen.

Es ist eine Situation, die auch Parvati Das gut kennt. Ihr Ehemann arbeitet in Saudi-Arabien, die Dreissigjährige lebt im Haus ihrer Schwiegereltern, mit ihren drei Kindern und dem Bruder ihres Ehemanns. Sie erzählt mit stockender Stimme von ihrem Alltag. «Das Geld, das mein Mann zurückschickt, muss ich abgeben.» Und ihr Schwager misshandelte sie: «Er schlug mich oft.» Wohl aus verletztem Stolz, weil sie seinen Bruder ihm vorgezogen hatte. Ihr Mann, weit weg, wollte sich nicht einmischen. Parvati Das ist ausgezogen, als sie es nicht mehr aushielt.

Sozialer Druck und Suizide

Eine ideale Lösung war das aber nicht. Das Haus der Schwiegereltern war ein gutes, aus Beton, zweistöckig, es gab Strom. Mit dem wenigen Geld, das ihr Mann ihr schickte, konnte sie nur ein kleines Einzimmerlehmhaus mieten. Sie zog auf Wunsch ihres Ehemanns und den Kindern zuliebe zurück zu den Schwiegereltern. Der gewalttätige Schwager hat ihrem Ehemann versprochen, sie nicht mehr anzurühren. Bislang hält er sich daran. Den Launen der Schwiegermutter ist sie aber nach wie vor ausgesetzt. Wann ihr Ehemann zurückkehrt, weiss sie nicht.

Dass viele Frauen unter diesem sozialen Druck zusammenbrechen, bestätigen Berichte von Suiziden und Suizidversuchen, die Anita Ghimire vorliegen. «Die Frauen leben sehr isoliert», sagt sie. Über ihre Rechte wüssten sie kaum Bescheid. Häusliche Gewalt durch den Ehemann oder die Verwandten werde als Normalität akzeptiert. Zudem unterstützen sich die Frauen gegenseitig nur wenig. Jede sei froh, wenn eine andere im Zentrum von Ehebruchgerüchten stehe, sodass diese Unwahrheiten häufig gerade von anderen Frauen zusätzlich befeuert würden.

Dass sich die gesellschaftliche Stellung der Frauen durch die Abwesenheit der Männer vielleicht sogar verbessern könnte, glaubt Ghimire nicht, zumindest nicht in den nächsten Jahren. «Es ist schon so, dass die Frauen nun plötzlich mehr Verantwortung und mehr finanzielle Freiheit haben», sagt sie. «Die Veränderung ist aber viel schneller gekommen als der mentale Wandel. Und bis sich das Denken der Menschen geändert hat, leiden die Frauen extrem.»

Der nepalesischen Regierung ist bewusst, dass die Arbeitsmigration soziale Probleme schafft. Sie konzentrierte sich bislang aber darauf, Anreize zu setzen, dass die Menschen gar nicht erst ausreisen. Die 2017 neu gewählte Regierung hat eben erst begonnen, Massnahmen zu ergreifen, um eine sichere und effektive Migration zu unterstützen, etwa durch Beratungsangebote und Berufstrainings. Hilfsorganisationen springen in die Bresche. Auch die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) der Schweiz ist in Nepal im Bereich Migration tätig.

Neben Angeboten, die sich an die Migranten selber richten, setzt sich die Deza auch für die Frauen ein. «Wir wollen helfen, die sozialen Kosten der Migration zu lindern», sagt Petra Sigrist, Projektleiterin der Deza in Kathmandu. Zum Projekt gehören Kurse, um den Frauen finanzielle Grundkenntnisse beizubringen. Die Frauen werden zudem ermutigt, selber unternehmerisch tätig zu werden und etwa Schmuck anzufertigen oder Gemüse zu verkaufen. Und sie haben die Möglichkeit zu psychotherapeutischer Beratung.

Solidarität statt Ausgrenzung

Sunita Jha arbeitet im Rahmen eines Projekts der Deza als Psychotherapeutin in den Dörfern um Janakpur. Die 29-Jährige macht Hausbesuche und leitet Gruppentherapien, in denen die Frauen Solidarität statt Ausgrenzung kennenlernen. Rund 800  Frauen haben in den letzten vier Jahren bei ihr und ihren im ganzen Distrikt stationierten Kolleginnen an solchen Gruppensitzungen teilgenommen. Rund 350 zusätzliche Frauen haben individuelle Beratung erhalten. Sie spricht bestimmt und mit einer spürbaren Wut über die Ungerechtigkeiten, die den Frauen widerfahren. «Ich versuche in den schwerwiegenden Fällen zunächst, die Situation zu stabilisieren», sagt sie. Ihr Einfluss sei aber begrenzt. «Das Problem ist, dass eigentlich der Mann, der Schwager und die Schwiegereltern die Beratung oder Therapie ebenso nötig haben.»

Bis sich das Gesellschaftsbild und damit die Situation der zurückgelassenen Frauen ändert, braucht es noch viel Zeit, wie alle Beteiligten sagen. Im Kleinen können sie aber Verbesserungen beobachten: Als nepalesische Migranten in Katar über die sozialen Medien von Rina Das’ Schicksal erfuhren, entschieden sie, dass sie Geld aus einem Fonds für Hinterbliebene erhalten soll, auch wenn ihr Mann seine Stelle nie angetreten hat und nicht bei der Arbeit verunfallt ist. Mit diesem Geld konnte sie ein kleines Haus bauen.

Und dank der Therapiesitzungen hat Rina Das gelernt, sich auf ein Leben ohne ihren Ehemann einzustellen. Ihre Stimme wird selbstbewusster, als sie im Schatten eines Tempels mit ihrer jüngsten Tochter im Arm erzählt: «Ich arbeite jetzt bei einem benachbarten Bauern. Und ich fertige Armreifen an, wie wir sie an Hindufesten tragen.» Es ist nicht viel, was sie damit verdient. Das soziale Stigma der Alleinstehenden bleibt an ihr haften. Die Ungewissheit über das Schicksal ihres Ehemanns quält sie nach wie vor. Aber immerhin können ihre fünf Töchter weiterhin die Schule besuchen. Bis auf Weiteres zumindest.