Pharmaindustrie: «Extrem erpressbar»

Nr. 43 –

Der Staat soll den Generikakonzern Sandoz kaufen, fordert SP-Kopräsidentin Mattea Meyer. Die Versorgung mit Arzneimitteln gehöre in die öffentliche Hand.

Portraitfoto von Mattea Meyer
«Die Coronapandemie hat gezeigt, wie wenig durchdacht unsere Politik ist»: Mattea Meyer, SP-Kopräsidentin Foto: Caroline Minjolle

WOZ: Frau Meyer, wann sind Sie das letzte Mal der Pharmalobby begegnet?

Mattea Meyer: Erst letzte Woche habe ich wieder einen Brief erhalten.

Und was wollte man von Ihnen?

Es ging um einen Mengenrabatt auf umsatzstarke Medikamente. Die Massnahme kam zur grossen Überraschung im Juni durch den Ständerat. Und dann fingen die Briefe an: Man könne ja grundsätzlich darüber reden, aber der Zeitpunkt sei viel zu früh, hiess es. Trotzdem hat die bürgerlich dominierte Gesundheitskommission im Nationalrat die Mengenrabatte letzte Woche einstimmig verabschiedet. Das ist bemerkenswert und zeigt, wie gross der Druck der Bevölkerung wegen der hohen Krankenkassenprämien mittlerweile ist.

Zeigt dieser Erfolg nicht, dass die Pharmalobby gar nicht so stark ist?

Wäre die Lobby nicht stark, hätten wir schon längst tiefere Medikamentenpreise. Schauen wir zurück auf die letzten Jahre, als der damalige SP-Gesundheitsminister Alain Berset vieles versucht hat, um die Medikamentenpreise zu senken. Total ging es um Hunderte Millionen Franken Einsparungen zulasten der Pharma. Aber immer, wenn Berset auf die Mitwirkung des Parlaments angewiesen war, weil es Gesetzesänderungen brauchte, gingen die Pharmalobbyist:innen ans Werk. Diese haben dann zum Beispiel verhindert, dass die total überrissenen Generikapreise gesenkt werden.

Gescheitert sind auch alle Bemühungen für mehr Transparenz. Noch immer kann die Pharmaindustrie ihre Preise in geheimen Deals festlegen.

Hier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Der Ständerat will die geheimen Absprachen sogar gesetzlich verankern. Die nationalrätliche Kommission will das aber nicht. Diese Absprachen sind ein absolutes Unding. Es gibt zunächst die Schaufensterpreise, die bewusst hoch veranschlagt sind, weil viele Länder ihre Medikamentenpreise nach denen anderer Staaten ausrichten. Die Behörden tolerieren das, weil ihnen die Pharmakonzerne wiederum Preisabschläge versprechen, die aber vertraulich bleiben müssen. Und das machen die Konzerne in allen Ländern, womit nur sie selber über die tatsächlichen Preise ihrer Medikamente Bescheid wissen. Gegen diesen Machtmissbrauch müssen wir international koordiniert vorgehen.

Wie mächtig die Konzerne sind, zeigt sich auch bei der Knappheit gewisser Wirkstoffe, vor allem bei Schmerzmitteln oder Antibiotika. Die gerade eingereichte Initiative zur medizinischen Versorgungssicherheit verlangt höhere Margen auf Generika, um die Hersteller zu motivieren. Was halten Sie davon?

Wer ist denn der Absender der Initiative? Es ist die Pharmaindustrie selber. Das Problem bei den fehlenden Arzneimitteln ist das gleiche wie bei den Preisen: Es ist völlig intransparent, wann und warum es zu Lieferengpässen kommt. Was die Initiative will, ist perfid. Sie sagt, dass wir womöglich lebensnotwendige Medikamente nur dann erhalten, wenn wir mehr bezahlen. Hinzu kommt, dass Medikamente in der Schweiz sowieso schon viel teurer sind als im Ausland.

Die SP fordert dagegen, der Bund müsse den Generikahersteller Sandoz übernehmen, um die Kontrolle über die Versorgung zu erlangen. Wie ernst ist das gemeint?

Sehr ernst. Wir haben eine Arzneimittelkrise. Wirkstoffe werden nur in jenen Bereichen entwickelt, in denen es lukrativ ist. Deshalb wird viel zu wenig in die Erforschung neuer Antibiotika oder die Bekämpfung von Tropenkrankheiten investiert. Auch Wirkstoffe, deren Patent abgelaufen ist, sind für die Industrie nicht interessant. Novartis hat seine Tochter Sandoz abgespalten, weil Generika zu wenig Profit abwerfen.

Was würde der Bund mit Sandoz anstellen?

Sandoz ist ein erfolgreiches Unternehmen mit über 1500 Medikamenten und Vertriebsstellen in hundert Ländern. Das Unternehmen könnte das Rückgrat einer gemeinnützig orientierten Medikamentenversorgung weltweit sein. Der Marktpreis beträgt fünfzehn Milliarden Franken, die der Bund über ein zinsloses Darlehen bei der Nationalbank beziehen könnte. Diese Investition würde unsere Abhängigkeiten reduzieren und die Versorgungssicherheit erhöhen.

Aber die Schweiz macht nicht gerne Industriepolitik.

Ausser es geht um die Banken. Sie macht nicht gerne Industriepolitik, wo es zum grossen Nutzen der Bevölkerung wäre. Wir haben das Problem, dass wir von ein paar wenigen Konzernen und deren Standortpolitik abhängig sind. Wir wollen die demokratische Kontrolle über die Produktion von Medikamenten zurückerlangen. Und da hätten wir mit Sandoz einen starken Hebel.

Die Forderung wirkt wie eine Kapitulation: Die Profite werden dem freien Markt überlassen, die Herstellung von weniger lukrativen Medikamenten der Allgemeinheit aufgebürdet.

Welcher freie Markt? Bereits heute basieren die meisten Medikamente auf öffentlicher Grundlagenforschung. Aber die Gewinne daraus schöpfen einige wenige Player ab. Es ist keine Kapitulation, sondern der Versuch, eine Krise zu meistern, die durch Profitdenken verursacht wurde. Die Pharmaindustrie hat versagt, und zwar bewusst. Weil eine sichere Versorgung mit den wichtigen Arzneimitteln keinen Gewinn abwirft.

Einen anderen Weg geht Österreich: Dort erhält Sandoz fünfzig Millionen Euro, damit es die Produktion von Antibiotika nicht nach Asien verlagert. Ist das gute Politik?

Dieses Beispiel zeigt vor allem, wie gross die Verzweiflung geworden ist. Wir sind extrem erpressbar, weil sich alles in einem Bereich abspielt, in dem es um Leben und Tod geht. Deshalb können Firmen wie Novartis vierzig Prozent Profitmarge erzielen. Pharmakonzerne folgen der gleichen Logik wie alle anderen Konzerne, aber sie arbeiten in einem Gebiet, in dem die Menschen unglaublich verletzlich sind. Ein Kauf von Sandoz als Teil eines Public-Pharma-Clusters würde uns auf einen Schlag aus dieser existenziellen Abhängigkeit befreien. Sandoz würde nicht mehr die Interessen der Aktionär:innen schützen, sondern die Gesundheit der Menschen.

Die Forderung nach einem Kauf ist kaum mehrheitsfähig. Was bringt so ein Gedankenspiel?

Eine öffentliche Debatte darüber ist entscheidend. Sie führt dazu, dass bei Sandoz und anderen Pharmakonzernen genauer hingeschaut wird, und kann im besten Fall dazu beitragen, dass die Gelüste gezügelt werden, noch mehr Profite zu machen. Die Debatte ist auch zentral, um andere Forderungen aufrechtzuerhalten. Zum Beispiel, dass sich die Schweiz finanziell stärker an Nonprofitorganisationen beteiligt, die Arzneimittel entwickeln. Wir brauchen eine stärkere Regulierung der Pharmaindustrie, aber auch eine öffentliche Arzneimittelversorgung.

Das käme einem Paradigmenwechsel gleich.

Die Coronapandemie hat gezeigt, wie wenig durchdacht unsere Politik ist. Die Gleichen, die heute eine Beteiligung der öffentlichen Hand an Unternehmen als Sozialismus verschreien, wollten damals eigene Produktionslinien aufbauen, damit die Schweiz zuerst den Impfstoff erhält. Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendein ultraliberaler Bürgerlicher damals gefordert hätte, man solle mal abwarten, was der freie Markt so hervorbringe. Eine gute Gesundheitspolitik reagiert nicht erst im Krisenfall, sondern sorgt sich konstant um die Gesundheit aller.