Kommentar zum kurdisch-türkischen Konflikt: Versuchte Spaltung
Warum reicht der türkische Ultranationalist Devlet Bahçeli den Kurd:innen die Hand, und weshalb greift die PKK am Tag darauf ein staatliches Rüstungsunternehmen an? Die neusten Entwicklungen im kurdisch-türkischen Konflikt.
Nach dem Angriff einer Sondereinheit der PKK auf das türkische Luftfahrt- und Rüstungsunternehmen Tusaş vom Mittwoch vergangener Woche bleiben viele offene Fragen. Direkt nach dem Anschlag bombardierte das türkische Militär PKK-Stellungen im Irak und in Syrien – insgesamt kamen 24 Menschen ums Leben.
Für das erste Fragezeichen sorgte bereits einen Tag vor der Attacke der PKK Recep Tayyip Erdoğans Koalitionspartner Devlet Bahçeli, Führer der ultranationalistischen MHP. In einer aufsehenerregenden Rede positionierte er den zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilten PKK-Chef Abdullah Öcalan als Ansprechpartner für einen neuen Friedensprozess: Sollte Öcalan die PKK entwaffnen, stellte ihm Bahçeli Amnestie über ein parlamentarisches Sonderrecht in Aussicht.
Dass dieses Angebot nun ausgerechnet von Bahçeli kam, der als Hardliner im Umgang mit den Kurd:innen gilt, irritierte – auch deshalb wurde es als taktisches Manöver kommentiert, das die Reaktionen auf eine Freilassung Öcalans testen wollte. Es wäre nicht das erste Mal, dass Erdoğan für ein solches Manöver seinen Koalitionspartner von der Leine liesse.
Ein mögliches Motiv für den Vorstoss hatte Bahçeli in seiner Rede aber gleich selbst geliefert: «Weder aus Kandil» – einer Bergregion des Nordirak, von wo aus die PKK unter der Führung von Oberkommandeur Murat Karayılan operiert – «noch aus Edirne» – wo der inhaftierte kurdische Politiker Selahattin Demirtaş seit 2016 in Haft sitzt – sollen die Kurd:innen künftig Anweisungen erhalten. Und die Regierung doppelte nach: Öcalans 43 Monate dauernde Isolationshaft, in der er weder Anwälte noch Familienmitglieder sprechen durfte, fand am 23. Oktober ein überraschendes Ende. Ömer Öcalan, Politiker der prokurdischen DEM-Partei und Neffe Öcalans, konnte ihn am Mittwoch auf der Gefängnisinsel İmralı besuchen.
Die türkische Regierung dürfte mit ihrem Vorstoss das Ziel verfolgen, Machtkämpfe innerhalb der kurdischen Bewegung anzuheizen. Der Anschlag der PKK auf das staatliche Rüstungsunternehmen, nicht einmal 24 Stunden nach der Rede von Bahçeli, verdeutlicht das vorhandene Konfliktpotenzial. Denn innerhalb der Kurd:innen in der Türkei gibt es Uneinigkeit darüber, ob ein eigener Nationalstaat zwingend notwendig ist. Einige sehen eine verfassungsrechtliche Anerkennung ihrer Identität, Sprache und Kultur bereits als ausreichend an. Auch über die Wege, wie Bürgerrechte, Teilautonomie oder ein Nationalstaat einst erreicht werden sollen, herrscht Meinungsverschiedenheit. Und diese führt zu Richtungskämpfen. Der Anschlag kann vor diesem Hintergrund auch als Störaktion von Teilen der PKK-Führung gegen Gespräche zwischen der Regierung und Abdullah Öcalan gelesen werden.
Öcalan liess über seinen Neffen verlauten, er habe die Macht, den Friedensprozess voranzutreiben. Und damit hat er wohl recht. Obwohl sein operationeller Einfluss auf die PKK aufgrund der aktuellen Haftumstände gleich null ist, bleibt seine ideologische und symbolische Autorität für die Kurd:innen ungebrochen.
Als geistiger Vater der kurdischen Befreiungsbewegung ist Öcalan nach wie vor unantastbar. Eine flächendeckende Meuterei innerhalb der PKK ist auch deshalb undenkbar – aber noch schwerer vorstellbar ist, dass Öcalan gemeinsame Sache mit der türkischen Regierung macht. Wäre es das aufrichtige Ziel der Regierung, einen neuen Friedensprozess mit den Kurd:innen zu starten, würde sie ihre Gespräche ohnehin nicht auf einen Ansprechpartner beschränken.
Und schon gar nicht könnte sie Selahattin Demirtaş aussen vor lassen, der dezidiert für eine politische Lösung des Konflikts steht. «Wenn Öcalan die Initiative ergreift und den Weg für eine politische Lösung ebnen will, werden wir mit aller Kraft hinter ihm stehen», unterstrich Demirtaş einmal mehr seine Haltung.