Auflösung der PKK: Trotz allem ein Friedensprozess

Nr. 10 –

Die Botschaft ist klar, doch die Beweggründe und die Bedingungen bleiben offen: Warum will Abdullah Öcalan die kurdische Arbeiter:innenpartei PKK auflösen? Und was wird die Zivilgesellschaft dazu sagen?

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Kurd:innen in al-Hasaka, einer syrischen Stadt im selbstverwalteten Rojava, am Tag von Abdullah Öcalans Verkündung
Vor einer ungewissen Zukunft: Kurd:innen in al-Hasaka, einer syrischen Stadt im selbstverwalteten Rojava, am Tag von Abdullah Öcalans Verkündung. Foto: Orhan Qereman, Reuters

Seit Monaten wird in der Türkei darüber spekuliert, vergangenen Donnerstag ist es nun Realität geworden: Abdullah Öcalan, seit 1999 inhaftierter Anführer der kurdischen Arbeiter:innenpartei (PKK), liess über eine Delegation kurdischer Politiker:innen in einem Istanbuler Hotel verkünden: Die PKK solle nicht nur die Waffen niederlegen – sondern sich vollständig auf‌lösen. In seiner Erklärung betonte Öcalan, dass die Organisation und ihre bisherigen Strategien in der Lösung des Konflikts mit dem türkischen Staat keinen Fortschritt mehr brächten. Seine Botschaft richtete sich direkt an die PKK-Führung in den Kandilbergen im Nordirak, der er vorschlug, auf einem ausserordentlichen Kongress ihre eigene Auf‌lösung zu beschliessen: «Die PKK fand eine soziale Basis und Unterstützung vor allem dadurch, dass die Kanäle der demokratischen Politik geschlossen waren», schreibt Öcalan in seiner Erklärung. Mit dem «Ende der Verleugnung der kurdischen Identität» sei die PKK mit ihren Methoden und Zielen mehr und mehr überflüssig geworden, begründete er seine Auf‌forderung zur Niederlegung der Waffen.

Öcalan sitzt in der Mitte

Der Öffentlichkeit überbracht wurde Öcalans Botschaft von einer Delegation der prokurdischen DEM (Partei der Demokratie der Völker). Am Donnerstag hatte diese Öcalan auf der Gefängnisinsel İmralı im Marmarameer besucht. Auf einem Foto, das gemeinsam mit der öffentlichen Erklärung publiziert wurde, sind – neben der DEM-Delegation und Öcalan selbst – drei Mitgefangene und PKK-Kämpfer der ersten Stunde zu sehen. Die Zusammensetzung der Personen soll signalisieren: Unterschiedliche Strömungen und Ausrichtungen innerhalb der kurdischen Bewegung tragen Öcalans Appell mit. Doch noch wichtiger als das Signal der innerkurdischen Einigkeit ist die bewusste Positionierung Öcalans – in der Mitte des Fotos.

Die Botschaft ist klar: Abdullah Öcalan ist wieder der zentrale Ansprechpartner in der kurdischen Frage. Dazu passt die vielbeachtete Rede von Devlet Bahçeli im vergangenen Oktober: Ausgerechnet der ultranationalistische Koalitionspartner von Präsident Recep Tayyip Erdoğan reichte im Parlament zunächst DEM-Politiker:innen die Hand. Danach forderte er Öcalan in seiner Rede zur Entwaffnung der PKK auf und stellte ihm eine Amnestie in Aussicht.

So überraschend Öcalans Verkündung wirken mag, vieles deutet darauf hin, dass in den letzten Monaten im Hintergrund bereits konkrete Verhandlungen stattgefunden haben und es auch eine Einigung über gewisse Rahmenbedingungen geben könnte. Laut Özgür Özel, dem Vorsitzenden der kemalistischen CHP, laufen die Verhandlungen bereits seit über einem Jahr. Özel behauptet zudem, dass hochrangige Jurist:innen, darunter Mitglieder des Verfassungsgerichts und des Kassationshofs, an den Gesprächen beteiligt seien und Erdoğan über alle Entwicklungen informiert sei. Özel wirft dem Präsidenten vor, dass dieser lediglich vorgebe, sich aus den Verhandlungen herauszuhalten, um politische Risiken auf seine Partner abwälzen zu können.

Sowohl die Öffentlichkeit als auch viele politische Akteur:innen tappen weiterhin im Dunkeln, wenn es um die Beweggründe und Bedingungen dieses erneuten Friedensprozesses geht. Weder ist klar, welche gegenseitigen Zugeständnisse ausgehandelt werden, noch wohin der Prozess letztlich führen soll. Denkbar sind rechtliche Anpassungen des kurdischen Status in der Türkei, etwa eine verfassungsrechtliche Anerkennung der kurdischen Identität oder eine Stärkung kommunaler Selbstverwaltungsrechte. Ebenso könnten eine Verbesserung der Haftbedingungen Öcalans und anderer politischer Gefangener oder sogar eine spätere Freilassung des Anführers Teil eines umfassenden Pakets sein. Eine besonders weitreichende Option wäre eine Änderung von Artikel 66 der türkischen Verfassung, der bislang ausschliesslich eine türkische Identität definiert.

Ein Kalkül Erdoğans

Doch jenseits dieser möglichen Schritte könnte der Friedensprozess in erster Linie auch einem Kalkül Erdoğans dienen. Ihm als autokratischem Machtpolitiker dürfte es vor allem um die eigene politische Zukunft gehen. Entscheidend wäre in diesem Zusammenhang eine Verfassungsänderung, die ihm eine erneute Kandidatur für das Präsidentenamt im Jahr 2028 ermöglichen und für die er die Stimmen der Kurd:innen benötigen würde. Der renommierte kurdische Analyst und Journalist Altan Tan hält es gar für möglich, dass die prokurdische Partei DEM in eine Koalition mit der AKP und der ultranationalistischen MHP eingebunden werden wird. Ein solches Szenario wäre vor kurzem noch undenkbar gewesen, doch in der aktuellen politischen Gemengelage scheint kaum etwas ausgeschlossen.

Sowohl Erdoğan als auch sein Koalitionspartner Bahçeli halten sich aktuell auf‌fällig bedeckt und äussern sich kaum zu den Entwicklungen. Irritierend wirkt dementsprechend auch Erdoğans aktuelle Repressionswelle gegen Andersdenkende: Erst Ende Februar liess er Hunderte Kurd:innen und Linke verhaften. Auch seine Drohungen gegen die republikanische CHP werden immer unverhohlener. Angesichts dessen wirken die Hoffnungen auf einen demokratischen Wandel und einen langfristigen Frieden blauäugig.

Gleichzeitig bleibt die kurdische Frage nicht auf die Türkei beschränkt. Die Kurd:innen im Irak haben mit wirtschaftlicher Stabilität und internationaler Vernetzung eine Position erreicht, die ihnen eine gewisse Unabhängigkeit ermöglicht. Doch diese Autonomie bleibt fragil: Die Region ist wirtschaftlich stark mit der Türkei verflochten, die wiederum keinerlei Interesse an einer mächtigen kurdischen Einheit hat.

In Syrien steht den Kurd:innen derweil eine äusserst ungewisse Zukunft bevor (vgl. «Die Kamera hat sie nicht geschützt»). Nach Jahren des Kriegs und einer faktischen Selbstverwaltung droht ihnen eine neue Phase der Unsicherheit, je nachdem, welche politischen Kräfte sich nach dem Sturz des Assad-Regimes langfristig durchsetzen werden. Erst kürzlich fanden Gespräche zwischen dem neuen syrischen Machthaber Ahmed al-Scharaa und Erdoğan statt. Es ist anzunehmen, dass es dabei auch um die künftige Rolle der Kurd:innen innerhalb des syrischen Staats ging und diese Gespräche auch Teil eines möglichen Deals sind. So stellt sich für die Kurd:innen nicht nur die Frage, ob sie Erdoğan trauen können – sondern auch, wie sie sich strategisch so positionieren, dass sie nicht erneut zum Spielball internationaler Mächte werden.

Und die weltweite Diaspora?

Der gescheiterte Friedensprozess von 2015 und die darauf folgende Eskalation der Gewalt haben bei vielen Kurd:innen tiefe Narben hinterlassen. Die kurdische Bewegung hat immer und immer wieder erlebt, dass ihre politischen Forderungen zwar kurzfristig berücksichtigt, langfristig aber unterdrückt wurden. Während Öcalan in Teilen der kurdischen Bevölkerung weiterhin als zentrale Symbolfigur gilt, haben sich parallel dazu andere Akteur:innen etabliert, die nicht zwangsläufig seine Positionen teilen. Die kurdische politische Landschaft ist vielfältig und beinhaltet sowohl innerhalb der Türkei als auch in Syrien, dem Irak, dem Iran und der weltweiten Diaspora verschiedene Gruppen mit je eigenen Agenden. Eine friedliche Lösung würde daher eine umfassende Einbindung zivilgesellschaftlicher Kräfte weit über die PKK hinaus erfordern.

Trotz aller offenen Fragen, innenpolitischen Manöver und geopolitischen Interessen: Ein Friedensprozess bleibt erst einmal ein Friedensprozess. Selbst wenn hinter den Kulissen machtpolitische Kalküle dominieren, könnte eine politische Lösung langfristig mehr Stabilität bringen als ein fortwährender militärischer Konflikt. Die kommenden Monate werden zeigen, ob sich eine neue Friedensdynamik entfalten kann oder ob dieser Vorstoss das gleiche Schicksal erleidet wie frühere gescheiterte Versuche. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich der Verhandlungstisch zwischen dem türkischen Staat und den Kurd:innen als einer herausstellen würde, an dem lediglich Machtpoker gespielt wurde.