Russische Opposition: «Der Widerstand findet im Untergrund statt»
Im Sommer kam der prominente Menschenrechtler Oleg Orlow bei einem Gefangenenaustausch frei, nun lebt er in Deutschland. Ein Gespräch über kafkaeske Verfahren, militärische Hilfe für die Ukraine – und Roadmaps für Russlands Zukunft.
WOZ: Herr Orlow, was ging Ihnen durch den Kopf, als man Sie in Ihrer Zelle zum Gefangenenaustausch abholte?
Oleg Orlow: Das kam für mich völlig überraschend! Eine Woche bevor man mich aus dem Gefängnis von Sysran an der Wolga wegbrachte, wo ich zu der Zeit inhaftiert war, holte mich ein ausnehmend freundlicher Mitarbeiter ins Büro und schlug vor, den Präsidenten um Begnadigung zu bitten. «Warum soll ich das jetzt plötzlich tun?», fragte ich. «Wir haben heute eine entsprechende Order aus Moskau erhalten», meinte er, «und wenn eine solche Anweisung kommt, dann kommen Sie rasch frei.» Ich bat um Bedenkzeit, die er mir aber nicht gewähren wollte. Also habe ich abgelehnt und wurde zurück in meine Zelle gebracht. Dort händigte er mir ein weisses Blatt Papier aus und sagte, er komme in fünfzehn Minuten wieder. Als ich mich noch immer weigerte, das Gesuch zu schreiben, war er sehr verwundert. Ich wurde wieder ins Büro geholt und von drei Personen zu den Gründen befragt.
Wieso wollten Sie das Gesuch denn nicht schreiben?
Ich erklärte ihnen, ich sei unschuldig, dass ich den Präsidenten nicht als legitim ansähe und ihn deshalb auch nicht um Begnadigung bitten wolle. «Ich bin ein politischer Gefangener, man muss mich so oder so freilassen», sagte ich – und dachte, damit habe sich das kleine Fenster in die Freiheit wieder geschlossen. Eine Woche später holen sie mich an einem Sonntag um sechs Uhr morgens aus meiner Zelle und stecken mich in einen Transporter. Immer wenn ich gefragt habe, was mit mir geschehe, sagten sie, sie wüssten von nichts. Als sich die Tür öffnet, sehe ich den Flughafen. Sie können sich sicher meine Verwunderung vorstellen! So kam ich nach Moskau und wieder in einen Transporter.
Der Dissident
Oleg Orlow (71) ist Mitbegründer der (in Russland inzwischen verbotenen) Menschenrechtsorganisation Memorial, die 2022 mit Organisationen aus der Ukraine und Belarus den Friedensnobelpreis erhielt. Der studierte Biologe setzt sich seit Jahrzehnten für die Aufarbeitung der Verbrechen der Stalin-Zeit und von Verletzungen der Menschenrechte in Russland ein. Ein Fokus seiner Arbeit lag auf der Dokumentation von Verstössen in den postsowjetischen Kriegen, zunächst im Südkaukasus, dann in Tschetschenien.
2007 wurde Orlow bei einer Beobachtungsmission in Inguschetien entführt. Im Februar 2024 wurde er in Moskau wegen angeblicher «Diskreditierung der Armee» zu zweieinhalb Jahren Lagerhaft verurteilt; im August kam er als einer von sechzehn Russ:innen im Rahmen eines Gefangenenaustauschs mit dem Westen frei und wurde aus dem Land gewiesen.
Man hat Ihnen die ganze Zeit nichts gesagt?
Nichts! Ich bin davon ausgegangen, sie würden ein neues Verfahren gegen mich eröffnen – als Strafe dafür, dass ich die Begnadigung abgelehnt hatte. Als ich vor einer neuen Haftanstalt aussteige, merke ich, dass es sich um Lefortowo handeln muss, das berüchtigte Gefängnis des russischen Geheimdiensts FSB. «Alles klar», denke ich, «sie wollen mich wegen Terrorismus drankriegen.» Sie sperren mich allein in eine Viererzelle, in der es vollkommen still ist. Ich darf weder spazieren noch baden, nicht in die Bibliothek oder meinen Anwalt sehen – und schreibe einen Beschwerdebrief an die Gefängnisleitung, den niemand entgegennimmt, weil keiner je meine Zelle betritt. Am fünften Tag kommt ein Uniformierter in meine Zelle. Als ich ihm freudig meine Briefe aushändigen will, streckt er mir ein Schreiben über die Aussetzung meiner Haftstrafe entgegen: «Eine Begnadigung durch den Präsidenten.» – «Aber ich habe das nicht unterschrieben», sage ich. «Das geht uns nichts an», antwortet er, «nehmen Sie Ihre Sachen – und raus hier. Sie haben fünfzehn Minuten.» Erst da habe ich begriffen, dass ich freikomme.
Und was dachten Sie da?
Über die Möglichkeit eines Gefangenenaustauschs hatte ich schon mit den anderen politischen Gefangenen in meiner Zelle gesprochen – und das als unrealistisch abgetan. Nun dachte ich erstmals, dass ich tatsächlich ausgetauscht werden könnte. Ich werde also von einem FSB-Mann zu einem Bus geleitet. Als ich einsteige, erblicke ich zu meiner grossen Freude bekannte Gesichter: die Künstlerin Sascha Skotschilenko, den Aktivisten Andrei Piwowarow, vorne den Politiker Ilja Jaschin. Ich hatte noch immer das Gefühl, zu träumen: dass ich die Augen schliesse, sie öffne und wieder in meiner Zelle bin. Wir fahren mit dem Bus durch die Strassen von Moskau, das erste Mal seit Monaten keine Gitter vor den Fenstern, Sicht auf den Himmel. Im Bus dreht sich Sascha zu mir um: «Oleg, schau dir diese Wolken an.» Da ging mir zweierlei durch den Kopf: dass ich die vertrauten Orte vielleicht zum letzten Mal sehe.
Und der zweite Gedanke?
Warum ich? Als ich gesehen habe, dass der Oppositionelle Wladimir Kara-Mursa auch im Bus ist, habe ich mich sehr gefreut – ich wusste, dass er die Haft nicht überlebt hätte, dass sie ihn dort umgebracht hätten. Auch über die Anwesenheit von Sascha war ich sehr froh. Vermisst habe ich aber den Moskauer Lokalpolitiker Alexei Gorinow. Hätten sie mich gefragt, hätte ich gesagt: Ich gehe nicht, wenn Aleksei nicht auch freikommt. Aber uns hat ja niemand gefragt.
Seit dem Austausch sind einige Monate vergangen. Wie geht es Ihnen heute?
Ich finde die Auswahl immer noch unfair: Ich war weniger lang in Haft als andere, unter weniger harten Bedingungen. Ich bin weiterhin mit meinen Zellengenossen in Kontakt. Sie freuen sich sehr für mich, hoffen aber auch auf weitere solche Aktionen. Ich habe stark das Gefühl, etwas tun zu müssen, um weitere Leute rauszuholen – es fühlt sich an wie ein schrecklicher Splitter in der Seele.
Viele Regimekritiker:innen haben Russland seit Beginn der Vollinvasion in die Ukraine vor bald drei Jahren verlassen. Sie sind damals geblieben. Warum?
Weil ich weiter menschenrechtlich tätig bleiben wollte in Russland, auch als Leiter eines Programms bei Memorial. Was wäre ich für ein Chef gewesen, zu fliehen, während meine Kolleg:innen weiterarbeiten? Zudem fand ich es immens wichtig, dass es in Russland weiterhin Stimmen gegen den Krieg gibt, dass ich selbst mich von Moskau aus dagegen einsetzen kann. Und ich hatte recht: Ich wurde tatsächlich gehört. Wer hätte meine Stimme noch wahrgenommen, wenn ich geflohen wäre? Das Risiko, für meine Kritik ins Gefängnis zu kommen, bin ich bewusst eingegangen.
Sie wollten also auch jenen Stimmen im Westen etwas entgegensetzen, die sagen, in Russland würde niemand gegen den Krieg aufstehen?
Ja, genau. Wer sagt, in Russland würde niemand protestieren, verkennt die Realitäten vor Ort. Konnte man in Nazideutschland offen gegen Hitlers Krieg aufstehen? Nein. In Russland geht das derzeit auch nicht. Die Repression ist so stark, dass jede Äusserung ins Gefängnis führt. Ich finde es deshalb nicht richtig, von den Leuten offenen Widerstand zu fordern. In der Schweiz gegen die eigene Regierung zu protestieren, ist etwas ganz anderes, als dies in Russland zu tun. Wer nicht bereit wäre, sich in einer solchen Situation selbst zu opfern, sollte das nicht von anderen erwarten.
Wie nehmen Sie die Stimmung gegenüber dem Krieg in der russischen Gesellschaft generell wahr?
Auf jeden Fall sollte man den Umfragen nicht trauen, die eine Zustimmung von achtzig Prozent für Wladimir Putin zeigen. In einem totalitären System kann keine Umfrage die Realität abbilden. Stellen wir uns vor, das repressive Moment wird kleiner, weil etwa Putin nicht mehr an der Macht ist. Sie wären überrascht, wie viele Menschen gegen das System und den Krieg sind. Unter meinen Bekannten gibt es viele, die nicht bei Memorial oder sonst politisch aktiv sind, aber den Krieg ablehnen. Keine:r von ihnen würde bei einer Umfrage mitmachen. Als klar wurde, dass ich ins Gefängnis muss, haben mir unzählige Leute ihr Mitgefühl ausgedrückt: Verkäuferinnen, Nachbarn, Ärztinnen, alles Leute, mit denen ich nie über Putins Politik sprechen würde. Es gibt massenhaft solche Menschen, bloss schweigen sie – aus Angst und weil sie nicht bereit sind, ins Gefängnis zu gehen.
Letzten Februar wurden Sie wegen «Diskreditierung der russischen Armee» zu zweieinhalb Jahren Straflager verurteilt. Vor Gericht haben Sie demonstrativ in Franz Kafkas «Prozess» gelesen. Er beginnt mit den berühmten Worten: «Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.» Ist dies das Wesen der russischen Justiz heute: dass sie Bürger:innen verleumdet, die keine Straftat begangen haben?
In meinen letzten Worten vor Gericht habe ich Kafkas «Prozess» mit meinem und anderen politischen Verfahren verglichen: Wie bei Kafka sind die Vorwürfe so absurd, dass man sich im Rahmen des Rechts gar nicht verteidigen kann. Zudem ist von Anfang an klar, dass man verurteilt wird. Im Gegensatz zu Josef K. wissen wir politischen Gefangenen aber, wofür wir verurteilt werden; er weiss nicht mal, was ihm vorgeworfen wird. Wir aber wissen, dass wir unschuldig sind und nur unsere und die Rechte anderer verteidigen. Wir werden beschuldigt, die russischen Streitkräfte zu diskreditieren, die angeblich für Frieden und Sicherheit einstehen. Wie absurd! Ist die Invasion der Ukraine im Interesse des Friedens?
Was macht eine so eindeutig politische Justiz über die Jahre mit einer Gesellschaft?
Erinnern wir uns an den Beginn der Vollinvasion im Februar 2022: Da gab es Massenproteste in diversen Städten, allein in den ersten Tagen wurden 19 000 Personen festgenommen. Es gab massenhaft offene Briefe gegen den Krieg, unterschrieben von prominenten Kulturschaffenden, Wissenschaftlerinnen, Künstlern. Praktisch sofort wurden repressivste Gesetze verabschiedet. Die Herrschenden haben offensichtlich Angst bekommen. Inzwischen kann man für jedes noch so kleine Wort gegen den Krieg für Jahre ins Gefängnis wandern. Die russische Gesellschaft ist stark eingeschüchtert. Aber gänzlich unterdrückt ist sie nicht: Die Zivilgesellschaft ist weiterhin aktiv, bloss findet der Widerstand im Untergrund statt. Wie jedes faschistische Regime duldet auch das russische keinen Dissens.
An der Spitze dieser Gesellschaft steht ein mutmasslicher Kriegsverbrecher. Glauben Sie, dass Putin je für seine Taten verurteilt wird – in Russland oder vor einem internationalen Gericht?
Daran würde ich gerne glauben! In meinen letzten Worten vor Gericht sagte ich, ich sei nicht sicher, ob jene, die derzeit die Repressionen ausführten und in der Ukraine Kriegsverbrechen begingen, sich je vor Gericht würden verantworten müssen. Sicher bin ich allerdings, dass ihre Strafe ohnehin schlimmer ausfallen wird: Ihre Kinder und Enkel werden sich dafür schämen, dass ihre Väter und Mütter, ihre Grossväter und -mütter Teil des Repressionsapparats waren, für das, was sie in der Ukraine angerichtet haben. Diese Strafe ist unausweichlich.
Sie sind seit Jahrzehnten prägender Teil der russischen Zivilgesellschaft. Bevor Sie 1988 zu Memorial stiessen, studierten Sie Biologie. Wie kamen Sie von der Naturwissenschaft zur Menschenrechtsarbeit?
Schon als Biologe in der Sowjetunion konnte ich mich mit vielem nicht abfinden. Ich druckte Flyer gegen den Krieg in Afghanistan und als in Polen Anfang der Achtziger das Kriegsrecht ausgerufen wurde, um die Solidarność-Bewegung niederzuschlagen. Zu dieser Zeit war die Befürchtung gross, dass die russische Armee in Polen einmarschiert wie 1968 in der Tschechoslowakei. Ich wollte nicht mehr schweigen, fand aber erst mal niemanden, mit dem ich gemeinsam hätte im Untergrund arbeiten können. Die Perestroika-Zeit eröffnete dann viele Möglichkeiten, sich gesellschaftspolitisch zu engagieren. Ich lernte die Leute von Memorial kennen und fühlte mich mit ihnen sehr wohl, obwohl ich damals der Naturwissenschaft noch nicht den Rücken kehren wollte.
Der Wunsch, sich gesellschaftspolitisch zu engagieren, war aber dann stärker?
1991 fanden in Russland die ersten freien Wahlen statt. Ich leitete damals den Wahlkampfstab des sowjetischen Dissidenten Sergei Kowaljow. Wir waren erfolgreich: Er wurde als Abgeordneter ins erste demokratisch gewählte Parlament und an die Spitze des parlamentarischen Menschenrechtskomitees gewählt. «Oleg», sagte er zu mir, «ich brauche Leute für den Obersten Rat.» Die Biologie zu verlassen, war die vielleicht schwierigste Entscheidung meines Lebens. Dass ich schliesslich zusagte, habe ich aber nie bereut, wir haben damals vieles erreicht. 1993 kam es in Moskau zur Verfassungskrise, als sich Präsident Boris Jelzin gegen das Parlament stellte: Zwei der Hauptakteure im neuen demokratischen Russland gingen mit Gewalt gegeneinander vor. Viele bei Memorial wollten sich damals nicht auf eine Seite schlagen. Als ich sah, wie mit Panzern aufs Parlamentsgebäude geschossen wurde, als ein Geschoss in mein Bürofenster einschlug, entschied ich, nicht mehr für den Staat zu arbeiten. Also wechselte ich zu Memorial.
Das ist dreissig Jahre her. Wie hat sich der Raum für die Zivilgesellschaft seither verändert?
Insgesamt ist die russische Zivilgesellschaft gescheitert, hat ihre wichtigste Aufgabe nicht erfüllt: Zu meinem grossen Bedauern haben wir Russlands Rückkehr in den Totalitarismus und den Krieg nicht verhindern können. Klar, wir haben mit unserer Arbeit die Abkehr vom Kommunismus begünstigt; doch jetzt herrscht in Russland ein neues totalitäres Regime, ein faschistisches. Über die Jahre haben wir trotzdem Wichtiges erreicht: Wir schufen ein kraftvolles System zur Verteidigung der Menschenrechte, zur Beobachtung von Verstössen in den Gefängnissen, gewannen wichtige Gerichtsfälle. Zudem ist eine grosse Anzahl an neuen Organisationen entstanden, nicht nur in Moskau und St. Petersburg. Das alles schien sehr perspektivenreich. Gleichzeitig machten wir leider sehr viele Fehler. Wir haben uns als nicht stark genug erwiesen.
Was waren Ihre grössten Fehler?
Wir haben nie gelernt, in einer verständlichen Sprache zu kommunizieren, verstehen Sie? Wir haben wunderbare menschenrechtliche Traktate geschrieben, Fälle und Beschwerden in Russland sowie vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewonnen. Aber uns der breiten Bevölkerung zu erklären, das haben wir nicht geschafft. Wir haben zwar sehr vielen Menschen sehr konkret geholfen, haben diese aber als Kund:innen gesehen. Dabei hätten wir aus ihnen Gleichgesinnte machen sollen. Ehrlich gesagt war Alexei Nawalny der Einzige, der verständlich mit den Menschen sprechen, ein kraftvolles politisches System aufbauen konnte. Das ist auch der Grund, warum sie ihn umgebracht haben.
Russland führt seit bald drei Jahren Krieg gegen die gesamte Ukraine. Was ich und viele andere immer noch nicht verstehen: Warum?
Aus meiner Sicht hat Putin den Krieg aus irrationalen Gründen begonnen. Wie jeder Diktator, der lange an der Macht ist, verlor er den Bezug zur Realität. Zudem befand er sich in einem Informationsvakuum: Man hat ihm Informationen zugetragen, die ihm gefielen, und nicht solche, die der Realität entsprachen. Deshalb ging er von einer schnellen, siegreichen Militäroperation aus und nicht von einem langen Krieg. Putin will als grosser Anführer eines Imperiums in die Geschichte eingehen. Dass er das russische und das ukrainische Volk als eins betrachtet, habe ich von ihm schon 2005 an einer Sitzung des Menschenrechtsrats des Präsidenten gehört, bei dem ich damals Mitglied war. In Russland herrscht eine harte Machtvertikale, die in Putins Umfeld keinen Raum für Diskussionen lässt. Deshalb kann sein Umfeld auch nicht widersprechen.
Und wieso führt er den Krieg noch immer fort?
Weil es kein Zurück mehr gibt: Jedes Zurückweichen wäre Putins persönliche Niederlage. Inzwischen hat er auch sein Umfeld mit Blut an sich gebunden. Es gibt in Russland viele, die vom Krieg profitieren: Leute, die riesige Summen an Geld erhalten, die sie ohne den Krieg nicht bekommen würden – und ich meine nicht einmal nur jene, die selbst kämpfen. Natürlich sind für jemanden aus der Provinz die paar Millionen Rubel, die sie bar auf die Hand bekommen, ein ungekannter Reichtum – Sie in Europa können sich gar nicht vorstellen, aus welcher Armut heraus diese Leute zu Geld kommen. Auch im militärisch-industriellen Komplex wird gerade riesiges Geld gemacht. Und Putin tut alles dafür, dass immer mehr Leute in Russland vom Krieg profitieren.
Sie sagten, es sei Ihnen wichtig gewesen, sich in Russland gegen den Krieg auszusprechen. Nun leben Sie in Deutschland, wo der Krieg gegen die Ukraine stark diskutiert wird und sich einige Akteure immer wieder für Verhandlungen mit Putin aussprechen. Nehmen Sie an diesen Debatten teil?
Seit meiner Freilassung ist meine Stimme wieder hörbar – und ich nehme alle Gelegenheiten wahr, mich zu äussern. Überall, wo ich in Europa auftrete, rede ich von der Notwendigkeit, die Ukraine zu unterstützen, auch militärisch. Dabei spreche ich nicht für Memorial, sondern als Privatperson. Militärische Hilfe für die Ukraine ist auch Hilfe für Russlands Zukunft. Zudem setze ich mich weiterhin für die Menschenrechte in meiner Heimat ein. Und ich bin ja nicht allein: Viele meiner Freundinnen und Kollegen arbeiten im Untergrund weiter.
Andere russische Oppositionelle äussern sich weit weniger deutlich zur Ukraine – was dort, aber auch unter anderen Oppositionellen für heftige Kritik sorgt.
Die Leute um Julija Nawalnaja haben in Berlin vor kurzem einen «Marsch gegen Putin» organisiert. Auch ich habe in einem Video zur Teilnahme aufgerufen – und dazu, alle Meinungsverschiedenheiten für den Moment beiseitezulassen. Die Parolen der Demonstration waren klar: «Nein zum Krieg! Freiheit für alle politischen Gefangenen! Putin zur Verantwortung ziehen!» Und wenn wir «Nein zum Krieg» sagen, meinen wir nicht ein Ende zu jedem Preis. Es heisst vielmehr, der Krieg darf nicht zu Putins Bedingungen enden. Denn das hiesse, die Aggression zu unterstützen: eine Befriedung des Aggressors. Das wäre kein Frieden, sondern bloss ein kurzer Waffenstillstand, auf den ein noch schlimmerer Krieg folgen würde, wenn Russland in ein paar Jahren erneut angreift.
Arbeiten Sie auch sonst mit anderen Oppositionellen zusammen?
Ja, natürlich. Die demokratische Opposition im Exil arbeitet derzeit an Roadmaps für die Zukunft. Stellen wir uns vor, wir bekommen die Gelegenheit, nach Russland zurückzukehren – und ich hoffe, dass sich mir diese Möglichkeit eröffnen wird. Was aber machen wir, wenn es so weit ist? Was fordern wir von jenen, die nach Putin kommen, worüber verhandeln wir mit ihnen? Da ist es überaus wichtig, dass schon eine detaillierte Roadmap existiert, etwa zur Frage, wie man das Justizsystem verändert. Unsere Hauptforderung ist die Befreiung aller politischen Gefangenen – aber wie befreit man sie? Man kann ja nicht einfach mit einer Liste auftauchen, es gibt unzählige Leute, von deren Inhaftierung wir gar nicht wissen. Ich sass in verschiedenen Gefängnissen, und jedes Mal, wenn ich in ein neues kam, erfuhr ich von der Existenz neuer politischer Häftlinge.
Aus einem Unrechts- einen Rechtsstaat zu machen, ist eine riesige Herausforderung.
Dafür braucht es eben eine konkrete Strategie. Natürlich ist die Opposition zerstritten, Einigkeit wird es auch in Zukunft nicht geben – aber die braucht es auch nicht. Was wir aber brauchen, ist ein gemeinsames Verständnis darüber, was wir am Tag nach unserer Rückkehr nach Russland konkret machen.