Frankreich: Rechtsruck? Welcher Rechtsruck?

Nr. 45 –

Der Zuspruch für Le Pen und Co. zeigt, dass die Französ:innen mit den Jahren immer reaktionärer geworden sind? Vincent Tiberj stellt die Sache vom Kopf auf die Füsse.

Soziologe Vincent Tiberj steht auf einer Terrasse
Die in Dauerschleife verhandelten Kulturkämpfe bilden nicht ab, was die Leute wirklich umtreibt: Der Soziologe Vincent Tiberj. Foto: Pierre-Emmanuel Charon

Trump, Bolsonaro, Meloni, Le Pen, Höcke: Namen, die für den «cultural backlash» stehen, der die Gegenwart fest im Griff zu haben scheint. In Frankreich allerdings hat der Soziologe Vincent Tiberj, Professor an der Hochschule Sciences Po Bordeaux, aufhorchen lassen – mit einer äusserst abwegig klingenden These: Tiberj zufolge soll die Idee, dass die französische Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten immer weiter nach rechts gewandert sei, ein grosser Irrtum sein.

«La droitisation française: mythe et réalités» heisst sein neues Buch: Der französische Rechtsruck, ein Mythos? Da dürfte man stutzen, immerhin ist von einem Land die Rede, in dem Islamfeindlichkeit schürende Medien – mit schwerreichen Financiers im Rücken – die Debatten prägen und Demagog:innen wie der Publizist Éric Zemmour zu nationaler Berühmtheit aufgestiegen sind. Und in dem vor allem die grösste Rechtsaussenpartei, das Rassemblement National, mittlerweile derart erstarkt ist, dass es nur noch eine Frage der Zeit zu sein scheint, bis die Le-Pen-Clique an die Macht gelangt.

Wandel der Werte

Und doch schreibt Tiberj zu Beginn seiner Studie, dass er für sein Land ausdrücklich bestreite, «dass es einen allgemeinen Rechtsruck gibt, und vor allem, dass es einen Rechtsruck ‹von unten›, das heisst bei den Bürgern, gibt».

Um das zu belegen, hat der Soziologe den Wandel der Einstellungen der Französ:innen über die vergangenen vier Jahrzehnte untersucht. Dafür konstruierte er Langzeitindizes, die die Entwicklung sozioökonomischer und kultureller Wertvorstellungen abbilden: Wie haben sich die Positionen zur Frage verändert, ob der Staat in die Wirtschaft eingreifen soll? Was denkt man heute im Vergleich zu früher über Einwander:innen? Über Religionen wie das Judentum und den Islam? Oder über homosexuelle Partnerschaften?

Die Ergebnisse dieser Untersuchung seien ­«beeindruckend», so der Sozialforscher: Sie belegen, dass die Französ:innen heute eindeutig progressiver eingestellt sind als zu Zeiten François Mitterrands. Hatten beispielsweise 1984 34 Prozent der Befragten ein Wahlrecht für Ausländer:innen befürwortet, so waren es 2022 58 Prozent. Im selben Jahr gaben 76 Prozent an, dass Migrant:innen «eine Quelle der kulturellen Bereicherung» seien: 1992 waren es nur 44 Prozent gewesen. Ein ähnliches Bild ergibt sich in Fragen der Sexualität: 1981 betrachteten nur 29 Prozent gleichgeschlechtliche Beziehungen als «eine akzeptable Form, seine Sexualität auszuleben», 1995 waren es dagegen bereits 62 Prozent, 2023 über 80 Prozent.

Tiberj erklärt diese Entwicklung mit den liberaleren Ansichten nachrückender Generationen (die so auch auf die älteren Jahrgänge einwirken) sowie dem immer grösser werdenden Anteil der Bevölkerung, der Zugang zu besseren Bildungsabschlüssen hat. «Im Vergleich zum 20. Jahrhundert ist der biologische Rassismus mittlerweile marginalisiert, der Antisemitismus zurückgegangen (aber nicht verschwunden), und die Vielfalt der Herkünfte und Religionen wird besser verstanden und anerkannt», resümiert der Soziologe. Und selbst wenn sich Ressentiments heute anders artikulierten – Rechte hantieren heute etwa eher mit dem Begriff der «Kultur» statt demjenigen der «Rasse» –, lasse sich eindeutig festhalten: «Die Akzeptanz für Minderheiten ist heute grösser als noch vor zwanzig Jahren.»

Dieser Befund ist nicht nur kontraintuitiv, er relativiert vor allem auch den Eindruck, der sich angesichts der schier endlosen Reihe rechter Wahlerfolge aufdrängt: dass nämlich eine autoritäre Welle mit unwiderstehlicher Macht von einer liberalen Demokratie zur nächsten schwappt, weil die Massen es halt so wollen. Offensichtlich ist es aber zumindest in Frankreich mitnichten so, dass einfach mehr und mehr Leute rechte Ideologien nachbeten würden. Und dennoch findet das Rassemblement National heute weitaus grösseren Zuspruch bei den Wähler:innen als in den achtziger Jahren. Wie geht das zusammen?

Tiberj erklärt diesen Widerspruch damit, dass er zwar die Existenz eines Rechtsrucks «von unten» bestreitet, sehr wohl aber einen Rechtsruck «von oben» ausmacht. Politische Debatten seien inzwischen von Kulturkämpfen dominiert und drehten sich um Reizwörter («Wokeness», «Gender Studies») oder die angeblichen Gefahren für den weltlichen Staat durch Muslim:innen. Diese Kulturalisierung des Politischen – die ja kein auf Frankreich beschränktes Phänomen ist – könne man emblematisch daran ablesen, dass sich die Partei der französischen Konservativen 2015 in «Les Républicains» umbenannt hat: Der Begriff der Republik wird hier von rechts in Beschlag genommen, aber im Sinne eines Bekenntnisses zur nationalen Identität, die man von inneren Feinden bedroht wähnt.

Wen kümmern die Woken

Auch hierzu wissen Studien Unerwartetes zu berichten, etwa dass 2022 ganze 65 Prozent der Französ:innen angaben, noch nie von «wokéisme» gehört zu haben. Das fortwährende reaktionäre Grundrauschen des Gegenwartsdiskurses findet offenbar weniger Resonanz, als man meinen könnte, zumal aus der zitierten Erhebung noch lange nicht im Umkehrschluss folgt, dass sich ein Drittel der Befragten für das Treiben der politisch Überkorrekten interessierten oder gar eine klare Haltung dazu hätten. Wenn also rechte Politikerinnen oder Kommentatoren darauf verweisen, dass man die «Sorgen der Bevölkerung» ernst nehmen müsse, stellt sich angesichts solcher Diskrepanzen die Frage, inwieweit in Dauerschleife verhandelte Kontroversen abbilden, was die Leute wirklich umtreibt. Dies erinnert an den auf deutsche Verhältnisse gemünzten Befund von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey von der Uni Basel, dass der Kampf gegen das Gendern «nicht unbedingt an den Stammtischen» geführt werde, «sondern in den Feuilletons».

Trotzdem spielen Wahlkampagnen, die von Diskussionen über das Kopftuch oder angebliche linke Denkverbote dominiert werden, der Rechten in die Hände. Tiberj zitiert eine weitere bemerkenswerte Studie aus dem Jahr 1978, als noch mehr als zwei Drittel der Bevölkerung angaben, dass die französische Gesellschaft vom «Klassenkampf» geprägt sei. Bis in die neunziger Jahre seien beim Wahlentscheid die Wirtschaftsthemen ausschlaggebend gewesen. Seither aber definierten sich immer weniger als Teil eines grösseren Ganzen (was etwa den Gewerkschaften Probleme bereitet), zugleich seien die Existenznöte der «kleinen Leute» weitgehend aus der öffentlichen Debatte verschwunden.

All dies kulminiert in dem, was der Soziologe «la grande démission» nennt: Viele gehen überhaupt nicht mehr wählen, zumal Wahlen in Frankreich zunehmend technischen Charakter haben, indem es bloss um eine Stimme fürs «kleinere Übel» geht. Das gilt insbesondere für Arbeiter:innen, Angestellte, Arme, aber auch Akademiker:innen sowie immer mehr junge Menschen. Reaktionäre Positionen seien dadurch an den Urnen überrepräsentiert, so Tiberj.

Die französische Demokratie ist also in der Krise, aber nicht wegen einer zunehmenden Entpolitisierung der Bürger:innen – im Gegenteil müsse man heute, schreibt der Soziologe, von einem neuen Nichtwähler:innentypus sprechen, der nicht aus Ignoranz Wahlen fernbleibt, sondern gerade weil er gut über das politische Geschehen informiert ist. Stattdessen gilt es, den Blick auf die gesellschaftlichen Eliten zu richten: die Meinungsmacher:innen und diejenigen mit Spitzenposten in Politik und Wirtschaft.

Wenn Frankreich in Richtung Autoritarismus abzudriften droht, dann nicht etwa, weil das Land eine Demokratie ohne Demokrat:innen wäre. Ist die Vermutung nicht naheliegend, dass es sich anderswo ganz ähnlich verhält?

Buchcover von «La droitisation française, mythe et réalités»
Vincent Tiberj: «La droitisation française, mythe et réalités». Presses universitaires de France. Paris 2024. 335 Seiten.