Licht im Tunnel: Heul doch!
Michelle Steinbeck über allzu Privates

Ich habe hier aufgehört, über meine Trauer zu schreiben. Es war nicht mehr möglich, nachdem meine – zu jener Zeit alternativlose – Offenheit vereinzelt als Einladung zum «journalistischen» Ausweiden meines Zustands verstanden wurde.
Seither beobachte ich, wie Trauer in der Öffentlichkeit verhandelt wird. Die deutsche Autorin Katja Lewina, vormals bekannt für Bücher über Sex und Beziehungen, hat kürzlich ein Buch über Endlichkeit veröffentlicht. Vor drei Jahren ist ihr siebenjähriger Sohn plötzlich an einem Kreislaufkollaps gestorben. Daraufhin erfuhr sie, dass sie eine unheilbare erbliche Herzkrankheit hat, ebenso ihre Tochter. In einer SRF-«Sternstunde» erzählt Lewina all das und wie sie und ihre Familie damit weiterleben. Sie strahlt dabei eine Schönheit, Lebensfreude und Kraft aus, die für viele beeindruckend und ermutigend ist. Andere scheinen sich genau daran zu stören. Die Kommentare auf Youtube durchzieht ein Narrativ, das mich über Tage verfolgt. Erschreckend viele unterstellen der Frau, die sie da auf dem Bildschirm sehen, Gefühlskälte. Sie bemängeln, dass sie nicht in Tränen ausbricht. Abschätzige Behauptung, sie müsse unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln stehen.
Es wird klar: Lewina entspricht nicht dem Bild, das trauernde Mütter erfüllen müssen, um den Voyeurismus solcher Menschen zu befriedigen. Dazu kommt, dass eine Frau mit grandiosem Auftreten, die in ihrer unerschrockenen Art, schambehaftete Themen zu behandeln, Erfolg hat, in unserer Gesellschaft vielen bedrohlich erscheint. Dass so eine sich nun hinstellt und behauptet, an ihren Schicksalsschlägen gewachsen, noch stärker geworden zu sein, enttäuscht die mehr oder weniger bewusste Erwartung, vielleicht sogar den Wunsch, eine gebrochene Frau zu sehen. Statt gesenkten Hauptes Busse zu tun, will sie umso besser weiterleben – «aber mit Karacho!» Wer richtig hinhört, erfährt, dass dazu auch tränenreiche Trauerwellen gehören. Woher kommt der schamlos geäusserte Anspruch, dass die zu Unterhaltungszwecken in der Fernsehaufzeichnung bewiesen werden müssen?
Im Prozess zum Mordfall, der mich dazu brachte, den Roman «Favorita» zu schreiben, verkündete der Verteidiger, es sei merkwürdig, dass die Mutter des Opfers bei ihrer Aussage nicht geweint habe. Daraufhin wurde im Gericht offen darüber spekuliert, ob der oder die Täter:in nicht doch in der Familie des Opfers zu suchen sei. Das Nichtweinen der Mutter machte sie zur Mordverdächtigen.
Auch in der WOZ stolperte ich kürzlich über Formulierungen, mit denen der Autor unvermittelt gewisse Formen von öffentlicher Trauerverarbeitung herabwürdigt. Da wurde Nick Cave, der zwei Söhne verloren hat, hoch angerechnet, dass er weder «auf Social Media seine Trauer ausstellt» noch «der Seelenschau verfiel». Nichtbetroffenen können solche Nuancen wahrscheinlich leicht entgehen. Ich stosse mich einmal mehr unerwartet daran – an den unscharfen Umrissen dieses geisterhaften Tabus, das Trauer ins Heimliche, Peinliche drängt. Dabei wissen gerade trauernde Eltern, wie wichtig es ist, überhaupt von anderen Betroffenen zu erfahren. Das Gefühl, nicht allein zu sein, kann Leben retten; zu sehen, dass ein (gutes) Leben danach möglich ist. Die Trauer dann nicht verstecken oder geeignet performen und verpacken zu müssen, erleichtert das Weiterleben ungemein – für sich und für andere.
Michelle Steinbeck ist Autorin und trauernde Mutter. Katja Lewinas Buch «Was ist schon für immer» erschien 2024 im Dumont-Verlag.