Licht im Tunnel: Wahrhaftig erbaulich
Michelle Steinbeck über ein zweifelhaftes Genre

Zu Beginn meiner Trauerzeit spürte ich ein mir bisher fremdes Verlangen. Ich wünschte mir etwas, was ich noch bis vor kurzem als weltfremden Kitsch abgetan, ja abschätzig belächelt hatte: erbauliche Literatur. Jetzt kam mir das plötzlich sehr nötig vor: eine schöne, überzeugende Lektüre, die zeigt, dass die Welt nicht nur Untergang ist und das Leben aus mehr als einer Abfolge von Tragödien und Schmerz besteht. Aber konnte es so etwas geben?
Die Bücher, die nach unserer Rückkehr aus dem Spital in der Wohnung herumlagen, schienen mir nun mindestens mitschuldig an unserem Unglück – bildeten sie doch alle auf ihre Weise die Grauen der Welt ab: Gewalt, Unterdrückung, Katastrophen. Das letzte Buch, das ich wenige Tage vor der Geburt zu lesen begonnen hatte, war «Beloved» von Toni Morrison. Darin lebt eine Mutter, eine ehemalige Sklavin, mit dem gewalttätigen Geist ihres toten Babys.
Auch mein eigener Roman, an dem ich die letzten Jahre gearbeitet hatte, erschien mir nun als schlechtes Omen. Eine Frau, die mit der Urne ihrer Mutter durch Italien reist? Es fühlte sich seltsam vertraut an, als wir etwas später mit der Asche unseres Kindes im Gepäck die erste Trauerreise ans Meer antraten. Und wie ein grausamer Witz.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich den Gedanken an erbauliche Literatur bereits aufgegeben. In diesen Ferien las ich Elsa Morantes «La Storia» über eine verwitwete Lehrerin, die im faschistischen Rom und während des Krieges ihre zwei Söhne durchzubringen versucht. Wohl suchte ich Trost in einem anderen schweren Schicksal und in der kernigen Moral, die solche Geschichten oft abschliesst: Was dich nicht umbringt, macht dich stärker. (Ich will nicht spoilern, aber die Lehrerin in «La Storia» bestätigt das nicht.) Aus ähnlichen Gründen bestellte ich den Zeitreiseroman «Die verschissene Zeit» von Barbi Marković – dazu gab es keinen passenderen Titel für meine Situation, und ich war aus naheliegenden Gründen sehr interessiert an der geschilderten Zeitmaschine.
Nun, lineare Monate später, unverhofft der Triumph: Ich habe sie gefunden! Erbauliche Literatur gibt es doch. Sie wartete schon länger im Bücherregal, in Form von Stefanie Sargnagels erstem Roman, «Dicht». Da flüchtet eine junge Sargnagel vor der sinnlosen Ödnis des Gymnasiums in das wahre Leben der Parkbänke. Die verchillten Nachmittage und Nächte in Gesellschaft verschiedener Aussenseiter:innen sind zumindest in Romanform höchst erbaulich. Nicht nur, weil das sehr lustig zu lesen ist oder wegen Sätzen von schlichter Wahrheit wie «Damals wusste ich nicht, dass Frauen alles besser können».
«Dicht» ist auch ein Buch, das den Blick verändert: auf Leistung, auf Norm und vor allem auf Menschen, die weder dem einen noch dem anderen zu entsprechen scheinen. Ein Buch, das die eigene Stumpfheit und Angepasstheit vor Augen führt und irgendwie sogar Auswege zeigt: indem es die abtrainierte Neugier auf merkwürdige Menschen und die eingeschlafene Lust an zufälligen und (zeit-)verschwenderischen Begegnungen weckt.
Als Nächstes hole ich mir «leg di aschtändig a» von Sebastian Steffen. Darin wandern zwei Brüder durch die Berge Richtung Meer, im Rucksack die Asche ihrer Mutter. Wenn das nicht erbaulich ist … ist es sicher trotzdem gut.
Michelle Steinbeck ist Autorin und trauernde Mutter. Sie freut sich, dass sie wieder lesen kann, und empfiehlt alle im Text erwähnten Bücher, auch das eigene, «Favorita».