Literatur: Zwischen Karibik und Stumpenland

Nr. 45 –

Seine biografische Recherche «Tabak und Schokolade» führt Martin R. Dean vom aargauischen Wynental der fünfziger Jahre in die britische Kolonie Trinidad und zurück.

Martin R. Deans Mutter mit ihrem Sohn 1960 bei der Rückkehr in die Schweiz im Hafen von Genua
Martin R. Deans Mutter (Mitte) mit ihrem Sohn (links daneben) 1960 bei der Rückkehr in die Schweiz im Hafen von Genua. Foto: Privatarchiv Dean, aus dem Besprochenen Buch

Eine beklemmende Szene eröffnet das Buch. Sie spielt 1956 in Port Spain auf der karibischen Insel Trinidad, damals Kolonie der britischen Krone: «Eines Nachts, ich war kaum ein Jahr alt, rannte meine zwanzigjährige Mutter mit mir im Arm aus dem Haus, um mich vor meinem Vater zu schützen. Er war wieder betrunken nach Hause gekommen, sie hatten sich gestritten, und er hatte sie geschlagen. Danach hatte er versucht, seine Zigarette auf meiner Haut auszudrücken.» Die Mutter kann sich mit dem Kind vor dem gewalttätigen Mann retten.

Als Achtzehnjährige ist die Tochter von Arbeiter:innen in der Wynentaler Tabakindustrie aus der helvetischen Enge der fünfziger Jahre als Au-pair nach London ausgebüchst und hat sich dort in einen Mann aus einer gut situierten indischstämmigen Familie Trinidads verliebt. Sie kommt schwanger zurück ins aargauische Menziken, wo im Juli 1955 der spätere Autor Martin R. Dean zur Welt kommt. Nur ein paar Monate später übersiedelt die Kleinfamilie nach Port Spain.

Das Fotoalbum als Ausgangspunkt

In «Tabak und Schokolade» geht Dean dem Rätsel seiner Herkunft nach, über die seine Mutter ihr Leben lang schwieg. Erst als sie mit 86 Jahren stirbt, kann der mittlerweile 69-jährige Autor seine Geschichte niederschreiben. Nach ihrem Tod stellt sich heraus, dass der Erzähler praktisch nichts vom stattlichen Erbe erhält. Auch vom Inventar der Mutter bleibt dem Erstgeborenen nichts. Unbeobachtet behändigt er dafür ein rotes Fotoalbum mit Dutzenden Schwarzweissfotos aus den fünfziger und sechziger Jahren. Dieser Schatz wird zum Ausgangspunkt für seine Rekonstruktion der im Vergessen versunkenen Vergangenheit, im Buch sind auch einige Fotografien abgedruckt.

Nach dem gewalttätigen Übergriff seines Vaters finden der kleine Martin und seine Mutter Unterschlupf auf einer Plantage – der Vater verschwindet für Jahrzehnte aus seinem Leben. Nach drei Jahren geht es zu dritt zurück in die Schweiz: Die Mutter hat einen trinidadischen Medizinstudenten im Schlepptau, den sie später heiratet und der zum geachteten, wenngleich fremd und einsam bleibenden Dorfarzt wird. Der Knabe bekommt zwei Halbgeschwister, die im Buch allerdings kaum vorkommen. Das Verhältnis zum Stiefvater ist schwierig, Dean fühlt sich nicht geliebt, seine eigene Herkunft wird praktisch ausgelöscht.

In über sechzig kompakten Kapiteln geht der Autor nun dieser Herkunft auf die Spur, trifft Verwandte in Trinidad, rekonstruiert Geschehenes und verknüpft es mit Erinnerungsbildern und heutigen Gefühlen. Die Stärke von Deans aussergewöhnlichem Roman ist, wie er individuelle Schicksale in ihrer Epoche und im historischen Raum von Indien über die Karibik bis ins Aargauer Wynental exemplarisch und sinnlich poetisch gestaltet.

Das Buch, das für den Schweizer Buchpreis nominiert ist, ist in drei Teile gegliedert: Der erste erzählt unter anderem die Kinderjahre in Trinidad und Menziken. Im aargauischen Dorf erfährt der Erzähler wegen seiner Hautfarbe offenen Rassismus. Die resolute Grossmutter (aus Rügen gekommen, trotz Schweizer Vorfahren als Deutsche stigmatisiert) und der sanfte Grossvater halten zu ihm und seiner Mutter, ohne jedoch direkt aufzumucken. «Sein Widerstand», schreibt Dean über seinen Grossvater, «bestand darin, dass er meine Mutter nie verurteilte, sondern liebte und mich ganz und gar akzeptierte. Mit mir an der Hand durchs Dorf zu spazieren, mich zu den Dorffesten und zu Dorfmusikkonzerten mitzunehmen, mir Süssigkeiten zu kaufen und mich aufs Karussell zu setzen, das war seine Art, dem Dorf die Zunge zu zeigen.»

Der zweite Teil resümiert faktenreich die Geschichte der von den Briten sklavenähnlich gehaltenen indischen Kontraktarbeiter in der karibischen Kolonie, zu denen auch seine Grosseltern gehörten. Er zeichnet deren Aufstieg nach, wie er dem Autor bei seiner Reise nach Port Spain von den zahllosen Verwandten erzählt wird (siehe WOZ Nr. 26/23).

Rätseln über die Mutter

Im Schlussteil des Buchs stehen das von den Tabakindustriellen beherrschte ausländerfeindliche Wynental und der geliebte «Stumpen-Grossvater» im Zentrum. Literarisch brillant erinnert sich Martin R. Dean an die Ausflüge auf dem Moped des Grossvaters – «Ich klebte wie ein Frosch an seinem Rücken und sog seinen Körpergeruch ein, eine Mischung aus Schweiss, Leder und Tabak» – oder das stets rauchgeschwängerte Arbeiterhäuschen. Sehr berührend, behutsam und eindringlich schildert er auch das Sterben der Grossmutter.

Am Ende bleibt das Rätseln über die nie ganz verstandene Mutter: Sie hatte in den letzten Jahren einen alten Freund, einen glühenden Schweizer Nationalisten, bei sich aufgenommen: «Wie kann man mit zwei indisch-karibischen Männern Kinder zeugen und sich danach einen Heiri ins Haus holen. […] Es ist alles so verdreht», schreibt Dean und staunt zum wiederholten Mal darüber, wie die Mutter an ihrem 80. Geburtstag auf die Frage nach der glücklichsten Zeit in ihrem Leben ohne zu zögern antwortet: «Die Jahre in Trinidad.»

Buchcover von «Tabak und Schokolade»
Martin R. Dean: «Tabak und Schokolade». Roman. Atlantis Verlag. Zürich 2024. 220 Seiten.

Der Autor liest im Rahmen der Buchbasel am Sa, 16. November 2024, um 14 Uhr und um 17 Uhr; und in Zürich im Landesmuseum am Di, 19. November 2024, um 19 Uhr. buchbasel.ch, landesmuseum.ch