Theater: Jenseits der Herrschaft

Nr. 45 –

Bühnenfoto des Theaterstück «König Lear»
«König Lear». Übersetzt und neu bearbeitet von Thomas Melle. Regie: Anne Lenk. In: Zürich Schauspielhaus. Nächste Vorstellungen: Fr/Mi/Do, 8./13./14. November 2024, jeweils 20 Uhr.

Sind junge Feministinnen weniger anfällig für Korruption als die alten, weissen Machthaber? Anne Lenk verhandelt mit ihrem «König Lear» identitäre Fragen und deckt zugleich die Literaturtradition ab, die das Abopublikum in den letzten Spielzeiten am Zürcher Schauspielhaus angeblich vermisst hatte. Ästhetisch übersetzt sie Shakespeare mit einem psychedelischen Touch auf die Bühne, während die Handlung sich treu nach dem Original vollzieht: Der alternde König Lear bereitet widerwillig die Abgabe seines Erbes an die Töchter vor. Ein Machtkampf beginnt und damit auch die Frage: Wer wird regieren?

Ein überdimensionaler Mund in 3-D-Pop-Art-Ästhetik ersetzt Lears königliches Reiterdenkmal. Grau kämpft gegen Pink, Alt gegen Jung, Männer gegen Frauen – auch Erbin gegen Erbin. Fiebrig ringen die Lager auf der Bühne über drei Stunden um Macht und bestehen dabei die ganze Zeit unmissverständlich auf ihrem Recht. Lear weint den Errungenschaften des Patriarchats nach, die Feministinnen eifern manisch der Befreiung der Gesellschaft entgegen. Woke-Kultur gegen Konservative, möchte man denken. Doch als irgendwann weisse Leichensäcke vor rot brennendem Himmel auf der Bühne erscheinen und der Vater seine toten Töchter zu Boden legt, verschiebt sich der Kontext. Zu gut kennt man die Bilder aus den Medien, zu fest verschliesst man die Augen vor ihnen.

Wer also gewinnt in «König Lear»? Niemand. Niemand zumindest, der oder die sich der hegemonialen Logik von Macht, Einfluss und Herrschaft hingibt. Ob die Figuren, die Kriegsparteien oder das Publikum: Wer in der Frage nach politischer Autorität und gewaltvoller Deutungshoheit verharrt, hat hier nichts zu gewinnen. Genau an diesem Punkt bietet die Inszenierung, fein und subversiv, einen alternativen und surrealen Erzählstrang, der wie eine parallele Realität über dem Abend schwebt: Die Allianzen der Schwestern und die Verweigerung einfacher Binarität unterwandern letztlich die Handlung. Leise und fast unsichtbar, ohne die Macht von oben zu ergreifen, sondern indem die Regeln des korrupten Systems selbst untergraben werden.