Literatur: Alter Sack am Pranger

Nr. 47 –

Der französische Jurist Abel Quentin hat eine zeitgeistige Cancel-Culture-Satire geschrieben, in der sich ein weisser Historiker einen Shitstorm einhandelt. Doppelbödiger, als es klingt.

Die französische Literatur hat ein neues Lieblingsmotiv entdeckt: die Spurensuche nach fiktiven Schwarzen Schriftstellern, die irgendwann eine seltsame Abzweigung genommen haben und dabei vom kulturellen Radar verschwunden sind. Bei Mohamed Mbougar Sarr war es ein literarisches Phantom namens T. C. Elimane, das einen aufstrebenden jungen Schriftsteller in den Bann schlug. In seinem Roman «Die geheimste Erinnerung der Menschen», 2021 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet und 2023 auf Deutsch erschienen, erzählt Sarr das als atemberaubende Schnitzeljagd: Wer war T. C. Elimane, dieser vergessene Wegbereiter der postkolonialen Literatur, der nach einem fulminanten ersten Roman von 1938 scheinbar spurlos verschwand? War er Plagiator oder Seelenfresser, vielleicht sogar ein Mörder oder einfach nur ein «unglücklicher Exilant unter vielen»?

Zum Opfer gemacht

Um einen vergessenen Dichter kreist auch Abel Quentins Roman «Der Seher von Étampes», ebenfalls schon 2021 mit dem Prix de Flore ausgezeichnet und nun auf Deutsch erschienen. Hier ist es ein abgehalfterter französischer Historiker namens Jean Roscoff, der bei einem Kleinverlag einen Essay zu Ehren eines vergessenen Lyrikers herausbringt; dieser hatte seiner existenzialistischen Pariser Clique einst den Rücken gekehrt, um in der Provinz Minnelieder zu dichten – ehe er mit 32 Jahren bei einem Autounfall ums Leben kam. Eine schöngeistige Liebhaberei für ein Nischenpublikum, sollte man meinen – doch bald hat Roscoff einen ausgewachsenen Shitstorm am Hals. Denn dass dieser Dichter, den er hier posthum würdigt, nicht einfach nur Kommunist war, sondern eben auch Afroamerikaner: Das war ihm, dem altlinken weissen Historiker, in dem ganzen Buch knapp eine beiläufige Erwähnung wert.

Böses Erwachen für den überzeugten antirassistischen Aktivisten von einst: Wegen dieses blinden Flecks in seinem Buch soll Roscoff jetzt ein Rassist sein, ein «Sofafaschist» gar?

Die Satire, die sich daraus entwickelt, ist vielleicht etwas absehbar dem medialen Zeitgeist entlanggeschrieben. Alles läuft hier nach den anekdotischen Mustern des einschlägig bekannten Cancel-Culture-Narrativs ab, bis hin zu einer Presseschau, die auf einer ganzen Seite die Schlagzeilen zu der fiktiven Kontroverse versammelt. Wobei Abel Quentin, im Hauptberuf Strafverteidiger, die Figurenrede seines Ich-Erzählers doch so imprägniert, dass klar wird: Dieser Roscoff mag das Opfer einer selbstgerechten Meute sein, aber er selber ist mindestens so selbstgerecht wie diese «Neuen Mächte», die ihn jetzt an den Pranger stellen.

Wirklich sympathisch wird er einem nie, dieser sture Bock, der routiniert einräumt, dass er nun mal ein egozentrisches altes Arschloch mit Alkoholproblem sei. Ganz frei von Selbsterkenntnis ist er also auch nicht, und manchmal gelingt es ihm so, ein wenig Mitleid zu heischen. «Ich beherrschte die Worte meiner Zeit nicht mehr», heisst es an einer Stelle. «Schlimmer noch: Ich kannte sie nicht einmal.» Von kultureller Aneignung hat Roscoff jedenfalls noch nie gehört, und nur entfernt will er mitbekommen haben, dass an seiner Uni seit geraumer Zeit schon Fächer wie Black Studies oder Gender Studies unterrichtet werden. Hat er also ein wenig Sympathie verdient, weil er wenigstens merkt, dass er nicht mehr auf der Höhe der Zeit ist?

Im Gewirr der Zeichen

«Die Welt», notiert Roscoff, «war ein einziges Gewirr unverständlicher Zeichen. Ich passte einfach nicht hinein.» Kurz darauf sitzt er mit seiner lesbischen Tochter beim Essen und enerviert sich über die Militanz der jungen Woken, die «jede einzelne Schicht der eigenen identitären Grundausstattung sezieren» wollen. Das habe doch etwas von Masturbation, denkt Roscoff für sich – und lenkt das Gespräch mit seiner Tochter dann umgehend «auf mein Lieblingsterrain», wie er selber sagt, «mich». Identitätspolitik ist Masturbation, denkt der Mann und befriedigt dann sich selber: eine saubere Demontage auf engstem Raum, was Quentin hier mit seinem Protagonisten anstellt.

«Der Seher von Étampes» ist ein intellektueller Pageturner, der im Epilog noch mit einem grandiosen letzten Twist aufwartet. Bei Mohamed Mbougar Sarr kommt die finale Wendung rund um das Phantom namens T. C. Elimane nicht so überraschend, aber sein Buch ist das schillerndere von beiden. «Die geheimste Erinnerung der Menschen» ist ein Roman wie ein Vexierbild und ein literarischer Thriller, der obsessiv um Fragen von Identität und Herkunft kreist: In welche Muster soll man sich einschreiben, welchen widersetzt man sich? Lässt sich die frankofone Literatur überhaupt von ihren Rändern her erobern? Oder wird ein junger senegalesischer Autor wie der Ich-Erzähler (oder wie Sarr selber) unweigerlich von den Schatten kolonialer Herrschaft heimgesucht, vielleicht sogar gerade dann, wenn er sich diesen zu entziehen meint?

Letztlich erzählen beide Männer von wichtigtuerischen Männern, die dem Geist grosser Männer nachspüren: Bei Abel Quentin ist es ein impotenter alter Sack, der grotesk scheitert; bei Mohamed Mbougar Sarr ein präpotenter junger Schriftsteller, der dabei zu eigener Grösse findet.

Buchcover von «Der Seher von Étampes»
Abel Quentin: «Der Seher von Étampes». Roman. Aus dem Französischen von Laura Strack. Verlag Matthes & Seitz. Berlin 2024. 350 Seiten.