Sandra Newman: «Es ist beunruhigend, dass diese Fantasie so attraktiv ist»
Erst kürzlich hat Sandra Newman Orwells Klassiker «1984» einer feministischen Revision unterzogen. Jetzt bringt die US-Autorin in ihrem neuen Roman alle Männer zum Verschwinden und hat damit schon vor der Veröffentlichung einen Shitstorm auf sich gezogen.

WOZ: Sandra Newman, erinnern Sie sich, wie Sie über die Darstellung der Julia in «1984» dachten, als Sie den Roman von George Orwell zum ersten Mal lasen?
Sandra Newman: Nein, an meine erste Lektüre erinnere ich mich nicht wirklich. Ich bin eine von denen, die «1984» schon so jung gelesen haben, dass es mir vorkommt, als hätte ich das Buch bereits gelesen gehabt, als ich zur Welt kam. Die Figur der Julia nahm ich damals wohl einfach so wahr, wie Orwell das vermutlich beabsichtigt hatte: als Projektion des Begehrens der männlichen Hauptfigur, als «love interest» von Winston Smith. Später, als ich das Buch mit neunzehn Jahren zum zweiten Mal las, sah ich das ganz anders.
Wie denn?
Ich hatte grosse Mühe, den Roman überhaupt fertig zu lesen, weil es mich so wütend machte, wie Julia darin dargestellt wird. Immer wieder weist Orwell penetrant darauf hin, dass sie nicht intelligent ist und dass sie kein Interesse an den wirklich wichtigen Dingen des Lebens hat. Klar ist das gefiltert durch die Figur Winston, aber man spürt definitiv auch Orwell dahinter. Nun könnte man den Autor natürlich verteidigen und sagen, dass es ihm eben auch darum gehe, wie Winston über Julia denkt. Aber Julia ist als Figur nie wirklich überzeugend, weil Orwell ihr zu viele unterschiedliche Dinge abverlangt, die nicht so recht zusammenpassen. Was sie tut, dient oft nur dazu, dass sich der männliche Protagonist – oder auch der männliche Leser – angesichts dieser eigentlich starken weiblichen Figur besser fühlt.
Es war aber nicht so, dass Sie schon mit neunzehn das Bedürfnis hatten, eine feministische Revision von «1984» zu schreiben?
Nein, dazu wäre ich damals auch gar nicht imstande gewesen.
Als Sie dann für Ihren eigenen Roman in dieses Universum von Orwells Klassiker eintauchten: Hatte das auch etwas Einschüchterndes? Oder war es eher befreiend?
Es gab gewisse Schwierigkeiten, aber einschüchternd? Nein, eigentlich nicht. Privat lasse ich mich sehr leicht einschüchtern, aber als Schriftstellerin verschwende ich daran keinen Gedanken. Ich bin dann einfach im Reich der Vorstellungskraft, wo ich entscheiden kann, was geschieht. Und dann überrascht es mich immer wieder, wenn ein Buch in die wirkliche Welt gelangt und etwas auslöst, womit ich gar nicht gerechnet hatte. Oft merke ich gar nicht, wenn ich offenbar etwas Provokatives geschrieben habe.
Etwas, was zum Beispiel für einen Shitstorm sorgt – darauf werden wir später noch zurückkommen. Um bei Orwell zu bleiben: Was war speziell schwierig daran, «1984» aus der Sicht der weiblichen Figur nochmals neu zu erzählen?
Orwell erzählt ja weitgehend realistisch, aber an gewissen Stellen bricht er mit dem Realismus, manchmal einfach nur deshalb, weil es ihm als Autor gelegen kommt – vor allem dort, wo es um Julia geht. Er schafft es dann gerade noch, die Dinge so hinzubiegen, wie es ihm passt. Aber das funktioniert nur im Rahmen der konkreten Geschichte, die er erzählen will. Als ich mich daranmachte, in dieser Welt eine andere Geschichte zu erzählen, merkte ich, dass das gar nicht so einfach war, wenn alles noch plausibel sein sollte.
Zum Beispiel?
Etwa in manchen Dialogszenen. Ich hatte mich entschieden, die Dialoge zwischen Julia und Winston eins zu eins von Orwell zu übernehmen. Und an der Stelle, wo Julia – die in meinem Buch viel mehr Mitgefühl zeigt – ihn ermutigt, seine Frau umzubringen: Das war ziemlich schwierig, das so hinzukriegen, dass es trotzdem noch glaubwürdig wirkt.
In Ihrer Version von «1984» kommt es gleich zu Beginn zu einer illegalen Abtreibung. Angesichts des Backlashs gegen Abtreibungsrechte, der heute vielerorts zu beobachten ist, wirkt Orwells Welt bei Ihnen wieder erschreckend gegenwärtig.
Ja, diese aktuellen Bezüge waren mir schon auch bewusst. Aber eigentlich hat sich fast alles in meinem Buch aus Orwells Roman ergeben. Fast alles ist eine Reaktion auf etwas, was er entweder absichtlich ausblendet oder wo sich für mich ein blinder Fleck zeigte. Vielleicht hat er auch einfach Dinge weggelassen, die ihm beim Schreiben irgendwie lästig waren – wie die Tatsache, dass Frauen schwanger werden können, wenn sie nicht verhüten. Julia und Winston haben im Roman immer wieder ungeschützten Sex, aber weder sie noch er machen sich jemals überhaupt Sorgen, dass sie schwanger werden könnte. Dabei leben sie in einer Welt, in der man Julia im Fall einer unehelichen Schwangerschaft vermutlich töten würde. Das scheint aber beide nicht im Geringsten zu kümmern. Der ganze Plot von «Julia» hat sich letztlich aus solchen Leerstellen bei Orwell ergeben – ich habe lediglich die Lücken gefüllt. Ich sehe meinen Roman als eine Art freundliche Auseinandersetzung mit Orwell.
Sie haben auch manches dazuerfunden. Etwa die Pillen, mit denen sich Julia betäubt, als sie von der Gedankenpolizei zur Prostitution gezwungen wird. Eine kleine Hommage an die Glücksdroge in Aldous Huxleys «Brave New World»?
Nein, eigentlich nicht. Ich konnte mir eine Welt, in der die Menschen keinerlei Drogen nehmen, schlicht nicht vorstellen. Ganz egal, in welcher Epoche eine Geschichte angesiedelt ist: Ich finde es schwer vorstellbar, dass sich das nicht doch irgendwo einschleicht.
«1984» habe ich in der Schule gelesen, «Brave New World» genauso. Das muss Anfang der 1990er Jahre gewesen sein, also kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Damals kam uns Huxleys konsumistische Dystopie viel bestechender und auch visionärer vor als Orwells Kritik eines totalitären Überwachungsstaats. Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher.
Man hat lange so getan, als ob das ein Entweder-oder wäre. Aber heute, glaube ich, steuern wir auf einen Punkt zu, wo wir verstehen, dass es auch ein Sowohl-als-auch sein kann. Für eine Weile machte es ja wirklich den Anschein, als ob der Liberalismus überall gewinnen würde, mit allen Vor- und Nachteilen – und jetzt sehen wir, dass das irgendwie doch wieder in Autoritarismus kippen kann. Es sieht so aus, als würden wir heute das Schlechte aus beiden Welten kriegen, von Orwell wie von Huxley – wobei es zumindest in Huxleys Welt durchaus ein paar Aspekte gibt, die man je nachdem auch positiv sehen kann.
Orwells Roman wird heute auch oft für Angriffe gegen «woke» Linke benutzt – etwa wenn Bemühungen um inklusive Sprache als «Newspeak» verhöhnt werden. Wie nehmen Sie das wahr?
Ein Stück weit scheint mir das nachvollziehbar. Wenn man sich von jemandem unterdrückt fühlt, sei das nun in der eigenen Familie oder im eigenen Freundeskreis, und man diese Gefühle zu Orwells Buch in Verbindung setzt: In gewissem Sinn ist das eine zulässige Form der Übertreibung, würde ich sagen. Aber in Tat und Wahrheit warnt uns Orwell nicht vor Sprachvorschriften an Universitäten und auch nicht vor Teenagern, die uns anschreien, weil wir die falschen Wörter benutzen. Bei allen Schauergeschichten, die man so hört: Die überwiegende Mehrheit der Menschen, die sich da engagieren, sind sehr viel toleranter, als sie dargestellt werden. Klar, in jeder Gruppe gibt es Arschlöcher. Aber Orwell warnt uns nicht davor, dass es in jeder Gruppe Arschlöcher gibt. Er warnt uns vor den Gefahren des politischen Totalitarismus, und davon sind diese Phänomene weit entfernt.
Kommen wir zu dem Roman, der gerade auf Deutsch erschienen ist: «Das Verschwinden», wo auf einen Schlag plötzlich alle Männer verschwinden. Ich war auf etwas Dystopisches gefasst – aber dann ist es bei Ihnen überhaupt nicht so, dass die Welt deswegen ins Chaos stürzt.
Das hat auch einige Leute wütend gemacht, dass nach dem Verschwinden der Männer nicht alles zusammenbricht – das sei nicht realistisch. Und ich glaube, das ist tatsächlich ein bisschen unrealistisch. Aber da war keine politische Absicht dahinter, wie mir teilweise unterstellt wurde. Ich wollte einfach, dass sich die ganze Geschichte innerhalb von ein paar Monaten ereignet, und da musste ich halt ein wenig schummeln. Ich wollte mich auch nicht mit den ganzen praktischen Fragen abgeben: Wer besorgt Kanalisationsarbeiten, wie haben sie die Kläranlagen wiederhergestellt? Es gibt genug andere Romane, die dem nachgehen, was das praktisch heisst. Darum ging es mir nicht.
Um was ging es Ihnen denn?
Mir ging es um die Frage: Was wäre, wenn wir aus der Welt tatsächlich einen besseren Ort machen könnten für die Überlebenden, wenn ein Teil der Menschheit einfach nicht mehr da wäre? Und ich dachte, es sei eine bessere Idee, alle Männer auszulöschen statt sonst irgendeine Gruppe. Es wäre wohl noch viel schwerer zu akzeptieren, wenn man das mit irgendeiner anderen Gruppe durchspielen würde.
Die Fantasie einer Welt ohne Männer ist ja nicht neu. Als literarisches Motiv kam sie vor allem in der zweiten feministischen Welle auf, etwa in «Planet der Frauen» von Joanna Russ – einer der Inspirationen, die Sie in der Danksagung in Ihrem Buch erwähnen.
Ja, mein Buch ist in gewisser Weise mein Kommentar zu diesen feministischen Utopien von damals. Ich fühle mich dieser Literatur sehr verbunden, einige dieser Bücher habe ich gelesen, als ich sehr jung war, sie haben mir damals viel bedeutet. Sich als junge Frau eine solche Welt vorstellen zu können, das war psychologisch ungemein wichtig. Aber gleichzeitig finde ich es beunruhigend, dass diese Fantasie offenbar so attraktiv ist – die Idee also, dass sich die schwierigsten politischen Probleme lösen liessen, indem man einfach die Hälfte der Menschheit ausradiert. Es ist ein wenig wie mit den Gated Communities, wo alles Schlechte einfach ausgesperrt wird: Die Leute, die in eine Gated Community ziehen, sind ja nicht verblendet; sie sind wahrscheinlich tatsächlich sicherer dort. Aber sie sind eben nicht einfach nur sicherer – und darum geht es in meinem Roman.
Was sagen Sie zur Kritik, dass das eine biologistische Prämisse sei, wenn alle Menschen mit Y-Chromosom verschwinden? Bekommen Sie das immer noch zu hören?
Der Vorwurf kommt sicher noch irgendwo, bei Amazon oder auf «Goodreads». Aber ich verfolge das nicht. Und das ist doch genau, wovon das Buch handelt: Es geht um binäre Gegensätze, das ist die ganze Prämisse. Wenn alle Männer verschwinden sollen, braucht es eine klare Grenze zwischen Männern und Frauen – eine Grenze, die es im wirklichen Leben gar nicht gibt. Solche strikten Gegensätze – das ist jetzt ein bisschen ein Spoiler – ergeben nur Sinn innerhalb einer Art dämonischer Logik. Das wird im Buch relativ deutlich – dachte ich jedenfalls.
Wir müssen jetzt doch noch über den Shitstorm sprechen, den der Roman noch vor Erscheinen auslöste. Hatten Sie das damals kommen sehen?
Irgendwie schon, aber in der Intensität hatte ich das nicht erwartet. Der Shitstorm beruhte auf Annahmen von Leuten, die das Buch noch gar nicht gelesen hatten. Die kannten nur die Prämisse und warfen mir vor, dass der Roman transphob sei. Nachdem das Buch erschienen war, lösten sich diese Vorwürfe dann aber schnell in Luft auf. Wenn du ein feministisches Buch schreibst, kommt immer irgendjemand und wird dir vorwerfen, dass du das mit dem Feminismus nicht begriffen habest, oder auch, dass Feminismus doch gar nicht mehr nötig sei. Aber es war komisch, ich hatte zu jener Zeit schon den Vertrag für das Orwell-Buch, und in meinem Kopf brachte ich die beiden Sachen unweigerlich zusammen. So kam es, dass ich damals mehr über Cancel Culture nachdachte, als vermutlich gesund ist.
Wie meinen Sie das?
Ich glaube, ich weiss einfach zu viel darüber. Wenn ich mit jemandem über Cancel Culture rede, ist die Hälfte von dem, was ich sage, völlig offensichtlich – und die andere Hälfte ist so obskur und so spezifisch und schwer verständlich, dass nie jemand bis zum Schluss zuhört. Was mir widerfahren ist, ist letztlich einfach ein künstlicher Effekt von Social Media. Die Leute lieben es, dort ihre Wut auf etwas abzulassen, das sie für moralisch falsch halten, und dann verbünden sie sich in ihrer Wut und finden darin auch eine Form von Gemeinschaft. Und weil sie im wahren Leben selber nicht viel Macht haben, ist es den meisten dieser Leute egal, wenn sie ab und zu falschliegen.
Wie in Ihrem Fall. Wer das Buch liest, kommt jedenfalls kaum auf die Idee, es sei transphob.
Auch wenn das damals sehr belastend für mich war, war mein Fall doch ein Ausreisser, weil die Vorwürfe eben nicht zutrafen. Deshalb hat mir das langfristig auch keinen Schaden zugefügt. Zugleich glaube ich, dass die Gefahren stark überzeichnet werden. Nach dem, was ich selber durchgemacht habe, kann ich zwar verstehen, dass das einem Angst machen kann. Aber in gewisser Weise ist es nicht einmal ein politisches Phänomen. Mein Fall ist ja auch nur deshalb breit an die Öffentlichkeit gekommen, weil rechte Medien die Sache aufgriffen. Die lieben es, solche Geschichten aufzublasen und zu bewirtschaften. – Aber jetzt habe ich schon wieder viel zu viel darüber gesprochen.
Was meinen Sie genau, wenn Sie sagen, es gehe hier gar nicht um ein politisches Phänomen?
Es geht hier einfach um bösartiges Geschwätz, das ist eine natürliche Form von menschlichem Sozialverhalten. Das ist eine soziale Konstante, die Menschen haben das immer schon gemacht, in allen Epochen. Und wenn er nicht bösartig ist, kann Klatsch und Tratsch durchaus die Funktion erfüllen, Übeltäter und deren Fehlverhalten dort öffentlich zu machen, wo die Justiz keinen Zugriff hat. Ein Teil dieses Verhaltens wird heute als Cancel Culture gebrandmarkt, und da heisst es dann schnell einmal, das sei «wie bei Orwell». Dabei ist vieles davon einfach normales menschliches Verhalten – tatsächlich «wie bei Orwell» wird es erst, wenn es mit Macht verknüpft ist.
«Das Verschwinden»: Planet der Frauen
Sandra Newman: «Das Verschwinden». Roman. Aus dem Englischen von Milena Adam. Eichborn Verlag. Köln 2023. 304 Seiten. 37 Franken.
Es gibt gute und schlechte Romane, aber die interessantesten sind manchmal die, die sich bis zuletzt einem eindeutigen Urteil entziehen, weil sie beides zugleich sind: irgendwie Murks, aber eben auch genial. «Das Verschwinden» von Sandra Newman ist so ein Buch.
Die Autorin bringt darin gleich zu Beginn per Handstreich die Hälfte der Menschheit zum Verschwinden. Ein Abend im August, die Ich-Erzählerin ist mit Mann und kleinem Sohn am wild Campen, als sie einen Taumel empfindet, wie ein «intensives Nichts». Dann sind Mann und Kind plötzlich fort, wie weggezaubert aus dem Zelt. Als die Frau einige Tage später zurück unter Menschen ist, stellt sie fest, dass auf der ganzen Erde nur noch die Frauen übrig sind. Doch bei aller Trauer und Verzweiflung bei denen, die ihren Mann, ihre Brüder, ihre Söhne verloren haben: Davon geht die Welt hier nicht unter, zumal eine neue Bewegung, die kommensalistische Partei, vielerorts schon begonnen hat, das Gemeinwesen zu organisieren.
Was wie ein dystopischer (oder utopischer) Thesenroman anfängt, schlägt dann laufend Haken in ganz andere Richtungen. Im Zentrum stehen die Lebensgeschichten zweier Outcasts, die beide in ihrer Jugend männlicher Gewalt ausgesetzt waren: Die eine war das Werkzeug bei einer perfiden Form von sexuellem Missbrauch, die andere hat einst in Notwehr zwei Polizisten erschossen – und steigt jetzt als afroamerikanische Galionsfigur der neuen Partei zur Hoffnungsträgerin auf.
Ist das Verschwinden der Männer eine göttliche Lektion oder ein Experiment, eine Strafe oder nichts dergleichen, wie die Frauen in der Partei werweissen? Oder letztlich einfach ein psychotisches Projekt? Wirklich dystopisch sind in diesem Buch jedenfalls nur die immer neuen Videos, die auftauchen – mit Männern, die sich wie ferngesteuert durch eine kaputte Fantasytransitzone bewegen. Deepfakes oder nicht? Zeigen diese Videos die Hölle einer zukünftigen Welt, in der die Männer nicht verschwunden waren?
«Das Verschwinden» ist ein Freak von einem Roman: komplett überfrachtet in dem, was er seinen Figuren aufbürdet, hochambitioniert in den Ideen, die er aufwirft – und zugleich so niederschwellig wie ein Trashroman. Am Ende gilt, was bei der besten spekulativen Fiktion oft der Fall ist: viele Fragen offen, aber der Horizont ist weiter als zuvor.
«Julia»: Kunstfrucht für Big Brother
Sandra Newman: «Julia». Roman. Aus dem Englischen von Karoline Hippe. Eichborn Verlag. Köln 2023. 447 Seiten. 34 Franken.
Es ist der wohl kürzeste Liebesbrief der Literaturgeschichte: «Ich liebe dich» steht auf der Notiz, die Winston Smith, der tragische Held in George Orwells «1984», heimlich von Julia zugesteckt bekommt – und das Verhängnis nimmt seinen Lauf.
Dabei hat Julia den Zettel gar nicht selber geschrieben. Zumindest ist das so in der Version der Geschichte, mit der Sandra Newman den dystopischen Klassiker jetzt um einen weiblichen Blick erweitert. Bei ihr ist Julia die erste Adressatin: Die anonyme Liebeserklärung gilt eigentlich ihr, sie hat den Zettel von einer jüngeren Verehrerin bekommen, die gerade eine heimliche Abtreibung hinter sich hat.
Ein Brief auf Abwegen, der weitere Kreise zieht: Es ist ein sprechendes Detail, das schön zeigt, wie Newman durch den Perspektivenwechsel so manches vertraute Motiv aus Orwells Roman produktiv in Bewegung bringt. Zwar hat ihre Julia zunächst vor allem Sex im Kopf, eine Intellektuelle ist sie auch hier nicht. Aber sie durchschaut den selbstgerechten Winston, wenn dieser seinen Glauben an einen Aufstand an die Unterschicht delegiert: «Das bedeutete doch nur, dass Winston die Proleten für sich kämpfen lassen wollte.» Als Frau unter den Augen von Big Brother ist Julia zudem in ein sehr spezifisches biopolitisches Regime eingebunden, das bei Orwell aussen vor bleibt: sexueller Missbrauch durch einen Parteifunktionär, später Zwangsprostitution im Dienst der Gedankenpolizei. Und es erscheint schlüssig, wenn die Autorin eine Abteilung für künstliche Befruchtung erfindet («Artsem» auf Englisch, in der deutschen Übersetzung «Kunstfrucht»).
So erweitert diese feministische Revision von «1984» tatsächlich den Horizont von Orwells Vision eines totalitären Überwachungsstaats – einer Vision, die heute wieder aktueller ist, als es zeitweise den Anschein machte. Die Idee dazu hatte die Autorin übrigens nicht selber, wie sie in der Danksagung schreibt: Newman hat den Roman auf Anregung ihrer Agentin geschrieben, die für dieselbe Literaturagentur tätig ist wie Orwells Nachlassverwalter. «Julia» ist denn auch mit dem offiziellen Segen des Orwell Estate entstanden. Man kann den Roman also als eine Art autorisierte Fanfiction lesen – und natürlich ist es auch literarisches Marketing, Orwells Klassiker aus weiblicher Sicht für eine neue Generation zu erschliessen.