USA: Hegemonie ist mehr als bloss ein «Vibe»
Die Analyse der Präsidentschaftswahl belegt keinesfalls, dass die Arbeiter:innenklasse einfach zu den Republikaner:innen übergelaufen wäre. Trotzdem fragt sich, ob Trumps Sieg den Grundstein für eine neue politische Ordnung in den USA legt.

Es war nicht knapp. Die erneute Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten mag zwar nicht gerade als Erdrutschsieg in die Geschichte eingehen. Trotzdem ist es ein entscheidender Sieg. 2020 lag die Differenz zwischen den Kandidaten beider Parteien noch in sieben Swing States unter drei Prozent, sechs dieser Staaten gingen damals an Joe Biden. Dieses Mal gewann Trump alle sieben. In fast jedem der Tausenden Wahlbezirke des Landes verbesserte er sein Ergebnis.
Dieses Resultat passt schlecht zur Rhetorik der Demokratischen Partei, mit der sie alle möglichen Kompromisse gerechtfertigt hat, um eine möglichst breite Front gegen den Faschismus zu schmieden. Wenn man sich anschaut, welche Klassen eingebunden wurden, glich diese Strategie schon auf dem Papier mehr derjenigen der Union sacrée – der französischen Variante des parteipolitischen Burgfriedens im Ersten Weltkrieg – denn derjenigen des antifaschistischen Front populaire. Kamala Harris schien mit ihrer Kampagne etwas Ähnliches anzustreben wie Richard Nixon 1972 mit seinem Projekt für eine «neue Mehrheit».
Homöopathische Dosen Nationalismus
Zwar fehlt den Demokrat:innen von heute die Grossspurigkeit und die Wendigkeit von «Tricky Dick». Und doch schwebte ihnen wie damals Nixon die Bildung einer Koalition vor, die den Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO, den Business Roundtable sowie die Neokonservativen zusammenbringen sollte. Wie Nixon wollte sich Biden die Bereitschaft im Inland, die Kosten für die Aufrechterhaltung der aussenpolitischen Vorherrschaft der USA weiterhin zu tragen, damit sichern, dass er der Wirtschaft Nationalismus in homöopathischen Dosen verabreichte. Beide Regierungen kompensierten das Zurückfahren ihres militärischen Engagements in der Welt (damals in Vietnam, heute in Afghanistan), indem sie noch umfangreicher auf brutale Regionalfürsten setzten (damals der Schah, heute Muhammad Bin Salman).
Um allerdings eine breite zentristische Mehrheit hinter sich vereinen zu können, braucht es einen Gegner, der sich zum absoluten Aussenseiter gegenüber dem nationalen Mainstream stilisieren lässt. Nixon gelang dies, obwohl sein demokratischer Konkurrent George McGovern ein Pastorensohn aus South Dakota und noch dazu ein Kriegsheld war. McGovern wollte tatsächlich eine radikale Neuordnung der US-Gesellschaft: Sein Programm sah die Kürzung des Verteidigungshaushalts um ein Drittel sowie eine umfassende Umverteilung mittels hoher Steuern auf Erbschaften und Kapitaleinkünfte vor. Selbst eingeschworene Demokrat:innen sprachen damals offen darüber, ein Bankkonto in der Schweiz eröffnen und Nixon wählen zu wollen.
Nun ist Donald Trump nicht George McGovern, und der Versuch der heutigen Demokrat:innen, ihn als politischen Fremdkörper darzustellen, scheiterte gerade, weil an Trump nicht im Entferntesten etwas unamerikanisch ist. Seine politische DNA verbindet ihn über damalige ultranationalistische «echt Americans» wie Roy Cohn und Pat Buchanan direkt mit Nixon. Es wäre sehr naiv, vermeintliche K.-o.-Kriterien wie Trumps Rassismus und Sexismus für unvereinbar mit dem US-Mainstream zu halten. Der Slogan «Make America Great Again» ist nicht zufällig von Ronald Reagan entlehnt, also einem Politiker, der hungernde Arme verspottete, afrikanische Diplomaten mit Affen verglich und behauptete, Mitglieder der Waffen-SS seien im Zweiten Weltkrieg genauso «Opfer» gewesen wie KZ-Häftlinge. Die Vorstellung, man könne Trump an den Rand drängen, indem man einst von Reagan ernannte Leute dazu bringt, eine Wahlempfehlung für Harris auszusprechen, hat nie wirklich Sinn ergeben.
Die Demokrat:innen hatten eine «Koalition aller demokratischen Kräfte» schmieden wollen – dass sie nicht nur bei den Elektorenstimmen unterlagen, sondern auch die absolute Mehrheit der Wähler:innenstimmen verloren, traf sie völlig unvorbereitet. Der harte Kern der Parteiideolog:innen reagiert nun mit einer abrupten Abkehr vom Hurrapatriotismus hin zum Antiamerikanismus. So schrieb etwa die Schriftstellerin Rebecca Solnit: «Unser Fehler war, zu glauben, dass wir in einem besseren Land leben, als wir es tatsächlich tun.» Die «New York Times» wiederum sprach von der «Eroberung des Landes nicht mit Gewalt, sondern per Freifahrtschein».
Parteipolitische Entkoppelung
Trumps demokratischer Sieg hat nicht nur die Widerstandserzählung ausgehebelt. Ebenso erschütterte die Klassenzusammensetzung der Mehrheit, die er gewonnen hat, auch die Narrative rund um «Bidenomics», mit denen sich die Demokrat:innen selbst belobhudelt hatten. Im Verlauf des Sommers, als Bidens Altersschwäche Schlagzeilen machte, griff eine Mitarbeiterin der Regierung zum letzten Strohhalm und verwies auf deren wirtschaftliche Bilanz. Die US-Ökonomie «ist gegenwärtig in geradezu perfektem Zustand», twitterte sie. «Während wir die schwierigste politische Phase für die Demokratische Partei durchlaufen, die ich je erlebt habe – hier der Hinweis, nicht zu vergessen, dass diese Regierung eine gänzlich neue Art der Wirtschaftspolitik auf die Beine gestellt hat. Diese Politik wirkt Wunder, und egal was geschieht, sie sollte fortgesetzt werden.»
Damals bezog sich die Formulierung «egal was geschieht» auf die Frage, ob Biden nicht doch noch durch Harris ersetzt werden würde. Inzwischen hat sie eine tiefere Bedeutung erlangt: Zwei Drittel der Wähler:innen haben bei Nachwahlbefragungen angegeben, die wirtschaftliche Lage sei «nicht gut» oder gar «schlecht» – und jene Wähler:innen, für die der Zustand der Wirtschaft das wichtigste Kriterium bei ihrer Entscheidung war, haben in grosser Mehrheit für Trump gestimmt.
Hinterher meinte der Parteilinke Bernie Sanders, dass «es nicht überraschend ist, dass eine Demokratische Partei, die die Arbeiter:innenklasse aufgegeben hat, nun damit konfrontiert wurde, von der Arbeiter:innenklasse aufgegeben worden zu sein». Andere wiederum bestritten, dass die Demokrat:innen die Arbeiter:innenklasse aufgegeben hätten, räumten aber ein, dass die Arbeiter:innenklasse die Partei hinter sich gelassen habe. Sei es, weil sie aktiv den Faschismus herbeisehne oder, etwas wohlwollender, weil sie Opfer einer Desinformationskampagne hinsichtlich der realen wirtschaftlichen Zustände des Landes geworden sei.
Ich glaube nicht, dass man mit Sicherheit sagen kann, Harris habe wegen der Wirtschaft verloren – und noch viel weniger, ob sie oder sonst ein:e Demokrat:in mit einer anderen wirtschaftspolitischen Rhetorik gewonnen hätte. Trotzdem ist es schlicht nicht seriös zu behaupten, die Arbeiter:innen, die gegen Harris gestimmt haben, hätten die objektiven ökonomischen Realitäten verkannt. Wie selbst Bidens demnächst aus dem Amt scheidender Kreis an Wirtschaftsberater:innen im vergangenen Monat festgestellt hat, «ist der Anteil des wirtschaftlichen Gesamteinkommens, der an Arbeiter:innen geht, infolge der pandemiebedingten Inflation eingebrochen» – und zwar noch unter das Niveau von Trumps erster Regierungszeit.
Vermutlich lässt das Wahlresultat vor allem den Schluss zu, dass die Arbeiter:innenklasse als Klasse gar nichts getan hat. Das Wahlergebnis ist ein Beleg für deren politische Entkoppelung, und nicht für eine Neuorientierung: Die Wähler:innen mit einem Haushaltseinkommen unter 100 000 Dollar waren unter dem Strich in zwei Hälften gespalten.
Nach beiden Seiten abgesichert
Wie sah es auf der Seite der Besserverdienenden aus? Harris gewann bei Wähler:innen mit einem Haushaltseinkommen von über 100 000 Dollar hinzu, bei einer Gruppe also, zu der mehr als ein Drittel aller Haushalte zählt. In vergleichbarer Grössenordnung setzte sie sich auch bei jenen durch, die mehr als 200 000 Dollar im Jahr verdienen und damit etwas mehr als zehn Prozent aller Haushalte ausmachen. Diese Gruppe entspricht auch grob jenen zehn Prozent amerikanischer Haushalte, die 93 Prozent des Aktienmarkts besitzen und vom Boom unter Biden klar profitierten. Laut einer Studie der Ökonomen Thomas Ferguson und Servaas Storm gingen 59 Prozent des gesamten Zuwachses an Haushaltsvermögen seit 2019 an ebendiese zehn Prozent. Dieses enorme Wohlstandswachstum wiederum lieferte das Muster für einen hochgradig ungleich verteilten Konsumboom, bei dem die wohlhabendsten zehn Prozent der US-Haushalte für 36,6 Prozent des Gesamtanstiegs des Konsums zwischen 2020 und 2023 verantwortlich waren. Addiert man dazu noch die nächstvermögenden zehn Prozent, dann zeichnete der vermögendste Fünftel aller Haushalte verantwortlich für über die Hälfte des Konsumanstiegs.
Aus marxistischer Perspektive ist festzuhalten, dass «Klasse» ein Verhältnis ist und nicht bloss am Einkommen und noch viel weniger am Bildungsabschluss festzumachen ist. In diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich, dass sich Trump die Unterstützung wichtiger Fraktionen des US-Kapitals sichern konnte. Deren Erwägungen haben eher wenig damit zu tun, wie viel Geld sie noch verdienen können (sie haben ohnehin schon mehr, als sie zählen können, egal welche Partei gerade regiert). Sie folgen vielmehr einem Machtkalkül. Im Sommer berichtete die «New York Times», dass «Bauunternehmen ohne gewerkschaftlich organisierte Belegschaft wütend sind wegen neuer Vorschriften, die bei Grossprojekten auf Bundesebene eine Übereinkunft zwischen Auftragnehmer:innen und Gewerkschaften verlangen». Die Lobby für Kryptowährungen, die im Auftrag einer gänzlich von politischem Wohlwollen abhängigen Industrie tätig ist, gab 2024 fast genauso viel Geld für Bundeswahlen aus wie alle anderen Unternehmenslobbygruppen zusammen.
Diese Kräfte werden in der öffentlichen Wahrnehmung eher mit Trump assoziiert, dabei werden sie auch innerhalb der Demokratischen Partei von Leuten wie David Shor vertreten, einem Politanalysten, der einmal meinte, dass «es schlau von Obama war, sich bei der Techbranche einzuschmeicheln», und «ein enormer Fehler» der Demokrat:innen, davon wieder abzurücken. Der «New York Times» zufolge stellte Harris’ Wahlkampfteam Shors Beratungsfirma ein 700 Millionen Dollar schweres Budget zur Verfügung, das grösstenteils von der Techbranche eingeworben worden war. Die meisten Gelder der Kryptobranche gingen zwar an die Republikaner:innen. Aber für die Demokrat:innen war immerhin noch genug übrig, um den Senator Chuck Schumer bei einem «Crypto4Harris»-Event verkünden zu lassen, dass «wir alle an die Zukunft von Krypto glauben». Ein Grossteil der Gesellschaft mag tatsächlich polarisiert sein – in der wirtschaftlichen Führungsetage sichert man sich derweil für alle Eventualitäten ab.
Das Dilemma des Kapitals
Trotzdem ist vom Standpunkt des Kapitals aus betrachtet keine der beiden politischen Alternativen ideal. Im Verlauf des Sommers traf sich der Business Roundtable, der sich aus 200 Führungskräften grosser Konzerne zusammensetzt, mit Vertreter:innen beider Lager. Trump verkündete bei diesem Anlass, er werde den Unternehmenssteuersatz senken und die Ölförderung ausbauen. Bidens Abgesandter wiederum liess verlauten, der Fokus der Demokrat:innen auf «globale Allianzen» sowie die von ihnen gewährleistete Unabhängigkeit der Zentralbank seien verantwortlich für «das weltweite Vertrauen», das «den US-Kapitalismus gedeihen liess».
Selbst Antonio Gramsci hätte nicht anschaulicher den Zwiespalt vorführen können zwischen dem kurzfristigen Interesse des Kapitals, die Profite zu maximieren, und seinem breiter angelegten Interesse, die eigene Hegemonie aufrechtzuerhalten. Schon 2021 beobachtete der Publizist Paul Heideman, dass der Rechtsruck der Republikaner:innen «einige negative Externalitäten für das Kapital verursacht hat, von der Unsicherheit um die nationale Verschuldung bis zur Hinwendung an die Herrschaft einer Minderheit, die die Legitimität eines politischen Systems bedroht, das seit dem 19. Jahrhundert für die Vermögenden ausserordentlich gut funktioniert hat». Das dramatischste Beispiel für den letztgenannten Aspekt war der Angriff auf das US-Kapitol am 6. Januar 2021, der zumindest kurzfristig das organisierte Unternehmertum im Schrecken vereinte.
So gesehen macht es amerikanischen Firmenchefs das Leben leichter, dass Trump die Mehrheit der Wähler:innen hinter sich bringen konnte. Schon früher haben sich die Kapitalist:innen einlullen lassen, auch von Trump, und es ist nicht allzu gewagt zu vermuten, dass sein unvorhersehbarer, personalistischer Stil zu neuen Spannungen zwischen den wichtigen Fraktionen der Wirtschaft führen wird. Die euphorische Reaktion der Wall Street auf seine Wiederwahl legt nahe, dass «der Markt» nicht davon ausgeht, dass es Trump wirklich ernst meint mit den Massendeportationen und den Strafzöllen. Aber selbst wenn er tatsächlich nicht so weit gehen sollte wie angekündigt, wird jeder ernsthafte Schritt in Richtung Wirtschaftsnationalismus für die Geschäftswelt unterschiedliche Wirkungen zeitigen, was wiederum zu politischen Spaltungen führen könnte.
Gräben in der kapitalistischen Klasse
Die grösste Unbekannte ist vermutlich die Zukunft der transatlantischen Beziehungen. Wie einer der Nato-Gründer einmal erklärte, entsprang die Allianz nicht «rein militärischem Kalkül», sondern widerspiegelte vielmehr das breitere Anliegen, «ob unser Gesellschaftsmodell eine Zukunft hat, nachdem die Demokratie in Europa zerstört wurde und unsere Möglichkeiten zur ökonomischen Expansion geschrumpft sind». Selbst im Jahr 1949 war es für die Regierung unter Präsident Harry S. Truman eine Herausforderung, die Vertreter:innen der US-Wirtschaft davon zu überzeugen, dass ihr Wohlergehen von transatlantischen Sicherheitsgarantien abhänge. Es ist nicht ausgeschlossen, dass, sollte diese Debatte neu entflammen, letztlich alle wieder zum Schluss kommen, dass das alte Bekenntnis zum unternehmerischen Internationalismus heute genauso überzeugend ist wie eh und je. Aber allein schon der Umstand, dass man diese Debatte erneut führt, dürfte Gräben innerhalb der kapitalistischen Klasse freilegen.
Der «New York Times»-Kolumnist Jamelle Bouie meinte, dass «die meisten von uns vermutlich in derjenigen politischen Ordnung sterben werden, die aus dieser Wahl hervorgehen wird». Ohne sich damit zu weit aus dem Fenster zu lehnen, lässt sich sagen, dass das nicht stimmt. Die Idee einer «politischen Ordnung» geht auf den Historiker Arthur Schlesinger Jr. und seine Studie über Franklin D. Roosevelts New Deal zurück. Der erste Band trägt den Titel «Die Krise der alten Ordnung». Dem darauffolgenden Band stellte er ein Zitat Machiavellis voran: «Nichts ist schwieriger, weniger erfolgversprechend und gefährlicher als der Versuch, eine neue Ordnung der Dinge zu begründen.»
Das Zeitalter Roosevelts wie auch dasjenige seiner Vorgänger beruhte auf einer stabilen Ausrichtung der Klassen. Die Ordnung des New Deal verdankte sich der Einhegung der organisierten Arbeiter:innenschaft als Juniorpartner derjenigen Branchen, die entweder profitierten von Roosevelts Politik, die Freihandel, Sozialstaat und gewerkschaftliche Legalität kombinierte, oder diese zumindest tolerierten. Selbst dem zersplitterten Zeitalter des Neoliberalismus ging in den siebziger Jahren eine Phase voraus, in der, wie es der Journalist Thomas Edsall formuliert, «das Kapital seine Fähigkeit verfeinerte, als Klasse zu agieren, und seine auseinanderstrebenden Instinkte unterdrückte zugunsten eines gemeinsamen, kooperativen Handelns in der legislativen Arena».
Hegemonie ist mehr als bloss ein «Vibe», eine Stimmung. Vielleicht wird es eines Tages rückblickend möglich sein, 2024 als Etappe im Entstehungsprozess einer neuen politischen Ordnung zu deuten. Aber das wird davon abhängen, was als Nächstes passiert; davon, was Trump mit seinem Sieg anstellt und wie alle anderen auf jene Kräfte im In- und Ausland reagieren, die seine zweite Amtszeit freisetzen wird.
Aus dem amerikanischen Englisch von Daniel Hackbarth.
Der Historiker Tim Barker arbeitet an der Harvard University an einer Dissertation zur Geschichte der politischen Ökonomie. Der vorliegende Text ist zuerst auf dem Blog der «New Left Review» erschienen.