Wahlkampf in den USA: Ganz normal statt «weird»
Die Ernennung von Tim Walz zum demokratischen Vizekandidaten ist gleich auf mehreren Ebenen erstaunlich. Wie erklärt sich der Hype um den Sechzigjährigen?
Tim Walz wippt nervös von einer Seite zur anderen, fasst sich immer wieder an die Brust, um Dankbarkeit zu zeigen, runzelt die Stirn ob der vielen Komplimente. Vor ihm auf der Bühne steht Kamala Harris. Minutenlang schwärmt sie von Walz’ Laufbahn, seinen Erfolgen als Gouverneur von Minnesota, seinen Werten. Alles Gründe, so Harris, warum Walz nun ihr Stellvertreter sei.
Am Dienstagabend trat das neue Spitzenduo der Demokratischen Partei zum ersten Mal gemeinsam auf. 12 000 Menschen waren in einer ausverkauften Halle in Philadelphia dabei. Dass die Leute bei Wahlkampfveranstaltungen Schilder schwenken und laut jubeln, ist zwar so üblich. Dass hier etwas Besonderes passierte, war jedoch selbst über den Livestream zu spüren. «Danke, dass du die Freude zurückgebracht hast», sagte Walz zu Harris. Was nach Kitsch klingt, war vielmehr ehrliche Erleichterung. Bei den Demokrat:innen herrscht nach langer Zeit mal wieder so etwas wie Euphorie. Viele fühlen sich sogar an die Aufbruchstimmung rund um die Wahl von Barack Obama im Jahr 2008 erinnert.
Zahnlos und schwerfällig
Seitdem Joe Biden am 21. Juli seine Kandidatur zurückzog und Harris nun den Wahlkampf anführt, scheint der Sieg von Donald Trump im November nicht mehr unausweichlich. Die Demokratische Partei hat nach eigenen Angaben rund 200 000 neue freiwillige Wahlkampfhelfer:innen registriert. Über 330 Millionen US-Dollar Spenden sind eingegangen, ein Grossteil von Leuten, die zum ersten Mal etwas an die Demokrat:innen überwiesen haben. Und das Wichtigste: Auch in den Umfragen sieht es nicht mehr düster aus. Landesweit liegen Harris und Trump gleichauf. In Swing States wie Michigan und Wisconsin liegt sie inzwischen vorne. Die Stimmung in den USA hat sich in den vergangenen Wochen in drastischem Tempo gewandelt.
Trump und die Republikanische Partei erscheinen plötzlich zahnlos und schwerfällig. Kaum jemand spricht noch über das Attentat gegen ihn. Die Versuche, Aufmerksamkeit zurückzulenken, kommen verzweifelt daher. Trump stellt den Wechsel von Biden zu Harris als «Putsch» dar; gegenüber Schwarzen Journalist:innen raunt er, dass Harris doch gar nicht richtig Schwarz sei. Aber die Angriffe zielen ins Leere.
«Die schlechte Nachricht ist, dass Kamala Harris nicht das gleiche Gepäck wie Joe Biden mit sich trägt», gab Trumps Vizekandidat J. D. Vance kürzlich gegenüber republikanischen Geldgebern zu. Das Magazin «Politico» berichtet zudem, dass die einflussreiche rechte Organisation The Heritage Foundation intern zerstritten sei. Aus deren Feder stammt das «Project 2025», ein faschistoider Leitfaden für eine zweite Amtszeit Trumps. Trump selbst wiederum hat sich mehrfach in der Öffentlichkeit vom «Project 2025» distanziert – glaubwürdig ist das allerdings nicht. Bei einer Veranstaltung in Atlanta beschwerte sich Trump zuletzt über leere Ränge. Irgendetwas müssen sich die Republikaner:innen bis November einfallen lassen, um wieder Stärke demonstrieren zu können.
Harris hat sich mit ihrem Vize etwas einfallen lassen – die Entscheidung für Tim Walz ist auf mehreren Ebenen erstaunlich. Bis vor wenigen Wochen wussten die wenigsten Menschen in den USA, wer Walz überhaupt ist. Dann gab der Sechzigjährige ein Fernsehinterview, in dem er sagte, dass Trump und Vance nicht nur die Demokratie gefährdeten und die Gesellschaft spalteten, sondern auch «weird» seien – also schräg, sonderbar, unheimlich. Walz meinte damit die Übergriffigkeit der Republikaner:innen, die Abtreibungsverbote, das Verbannen bestimmter Bücher aus Bibliotheken und Schulen, die völlig überholte Sozialpolitik.
Ein Leben vor der Politik
Walz ist seitdem in den Schlagzeilen, «weird» plötzlich eine politische Kategorie. Ohne dieses Interview wäre Harris wohl kaum bei ihm gelandet. Laut Medienberichten habe sie sich in den finalen Gesprächen am Wochenende schlichtweg wohler mit Walz gefühlt als mit Josh Shapiro, dem anderen Anwärter. Eine Rolle wird zudem gespielt haben, dass sich die langjährige Fraktionschefin der Demokrat:innen, Nancy Pelosi, die bereits bei Bidens Rückzug eine zentrale Rolle gespielt hatte, für Walz aussprach.
Bemerkenswert ist die Entscheidung für Walz auch deshalb, weil Harris damit auf die Signale der demokratischen Basis reagiert hat. Vor allem jüngere und linke Wähler:innen sprachen sich deutlich für ihn aus, machten über Social Media enormen Druck auf die Partei. Hätte sich Harris für Shapiro entschieden, wäre die Stimmung nun eine andere. Der Gouverneur von Pennsylvania fiel in diesem Jahr mit repressiven Massnahmen gegen Student:innen auf, die für ein Ende des Krieges in Gaza demonstriert hatten, verglich sie sogar mit dem Ku-Klux-Klan. Man kann davon ausgehen, dass Shapiro den progressiven Vibe gekillt hätte. Walz sei zwar auch kein «Freund der Palästinenser:innen», wie der Journalist Mehdi Hassan kommentierte. Aber er sei, anders als Shapiro, eben auch nicht dafür bekannt, «sie rassistisch zu beleidigen».
Viele progressive Organisationen werden nun leidenschaftlicher in den Wahlkampf ziehen. Und das wiederum könnte für den Ausgang entscheidend sein. Bei der Wahl 2020 war die Mobilisierung durch Graswurzelgruppen in hart umkämpften Staaten wie Arizona und Georgia ein wesentlicher Faktor für Bidens Sieg. Doch wie erklärt sich überhaupt dieser Hype um Walz?
Zunächst einmal ist da sein Ton. Tim Walz fällt dadurch auf, dass er «normal» wirkt. Er spricht zugänglich, ohne sich anzubiedern. Er wirkt in seinen Zielen entschieden, aber nicht stur. Ihm gelingt es, den politischen Gegner anzugreifen, ohne Arroganz auszustrahlen. Und man merkt vor allem, dass dieser Mann ein Leben vor der Politik hatte.
Walz ist in einem kleinen Ort in Nebraska aufgewachsen, half in den Sommerferien auf dem Hof der Familie mit. Als Siebzehnjähriger schloss er sich der Nationalgarde an, der er über zwei Jahrzehnte lang diente. Mitte der neunziger Jahre zog Walz mit seiner Frau nach Minnesota, wo er als Lehrer an einer öffentlichen Schule arbeitete und deren Footballteam trainierte. In dieser Rolle setzte er sich auch für homosexuelle Schüler:innen ein, wie Harris bei der Veranstaltung am Dienstag erzählte. Sie sprach mehrfach von «Coach Walz». Man merkte sofort, dass sie diesen Spitznamen etablieren will.
Spürbar nach links bewegt
2006 ging Walz dann in die Politik. Er trat als Kandidat der Demokrat:innen fürs US-Repräsentantenhaus an und gewann einen Wahlbezirk, der lange Zeit in republikanischer Hand gewesen war. In den zwölf Jahren als Kongressmitglied hielt sich Walz allermeist an die zentristische Parteilinie, fiel weder positiv noch negativ auf. Seit seiner Wahl zum Gouverneur von Minnesota 2019 hat sich seine Politik jedoch spürbar nach links bewegt.
Walz’ Bilanz als Gouverneur ist beeindruckend. Er hat diverse progressive Gesetze unterschrieben, sie zum Teil selbst initiiert. In Minnesota gibt es seit 2023 kostenloses Schulessen, was vor allem armen Kindern hilft und Eltern mehr Zeit verschafft. Walz hat mehrere Massnahmen zum Klimaschutz erlassen, von Investitionen in den öffentlichen Verkehr bis zum Ausbau erneuerbarer Energien. Unter seiner Regierung wurde Marihuana legalisiert. Walz hat zudem das Abtreibungsrecht gestärkt und deutlich gemacht, dass Schwangere aus anderen Bundesstaaten in Minnesota Behandlungen erhalten.
Die Unterschiede zum Vizekandidaten der Republikaner:innen könnten kaum grösser sein. Während Vance «kinderlose Katzenfrauen» beleidigt, sagte Walz neulich in einem Interview, dass er bezahlte Elternzeit – wie es sie in Minnesota bereits gibt – für eine der dringendsten landesweiten Reformen hält. Der eine versteht «Familienpolitik» also über Ausgrenzung, der andere über konkrete Lebensverbesserungen. Die feministische Autorin Moira Donegan schreibt, dass Walz mit seiner «gesunden, wohlwollenden Heiterkeit» ein Männlichkeitsbild darstelle, das im krassen Kontrast zur Vulgarität von Trump und der Gruseligkeit von Vance stehe.
Werkzeug gegen die rechte Gefahr
Könnten die Republikaner:innen am Ende an ihrer «weirdness» scheitern? Zunächst sollte man festhalten, dass Trumps unheimliche Eigenart ein Hauptgrund war, warum er 2016 überhaupt die Wahl gewann. Zig Millionen Amerikaner:innen finden Trump bis heute gut, weil er rüpelig aus dem Bauch heraus spricht, weil er auf der Bühne herumtänzelt, eben anders als so viele andere Politiker:innen ist. Weirdness war also bislang kein Problem, sondern eher eine Stärke. Sollten sich die demokratischen Spitzenkräfte jetzt zu siegessicher als Hüter:innen von Vernunft und guten Sitten inszenieren, könnte ein böses Erwachen wie 2016 drohen.
Doch Walz trifft durchaus einen Nerv, wenn er Trump und Vance als «weird» bezeichnet. Dieses Wort lässt Monster im besten Fall zu Monsterchen schrumpfen. Darin kann man eine Verharmlosung der rechten Gefahr sehen oder eben ein kluges Werkzeug dagegen. Wie das Meinungsforschungsinstitut Data for Progress herausgefunden hat, findet die Mehrheit der Amerikaner:innen viele Politiken und Aussagen der Republikaner:innen jedenfalls tatsächlich seltsam. 79 Prozent der Befragten sagten, dass sie Beleidigungen gegen kinderlose Menschen für «weird» halten, 76 Prozent waren es beim Thema Abtreibungsverbote.
Ob «weird» als Angriffslinie funktioniert, wird wohl vor allem davon abhängig sein, was die Demokrat:innen sonst noch so anbieten. Harris und Walz sind identitätspolitisch zweifellos ein gutes Match. Sie, die Schwarze Frau aus Kalifornien, er, der weisse Mann aus dem Heartland. Am Ende kommt es auf die Balance zwischen Vibes und Programm an.