USA vor den Midterms: Es gibt nicht einfach zwei Amerikas

Nr. 40 –

Die einen wollen faschistoide Restauration, die anderen retten, was ist: Bei den Halbzeitwahlen am 8. November in den USA geht es um viel. «Spaltung» eignet sich aber als Begriff trotzdem nicht.

Wohin bewegen sich die USA? Müssen wir uns darauf einstellen, dass aus den längst wabernden Vorahnungen eines Bürgerkriegs bald Realität wird? Und wie lange lässt sich überhaupt noch von einer Demokratie sprechen, angesichts all der autoritären Gesetze, Wahlbeschränkungen und der atemraubenden Machtkonzentration?

Hier kommt ein Geständnis: Je häufiger ich Fragen solcher Grössenordnung höre und mir selbst stelle – beides hat in diesem Jahr zugenommen –, desto weiter rücke ich von ihnen weg. Ich tue mich schwer, eine Entwicklung auszumachen, weil sich einzelne Linien voneinander entfernen. Zugleich möchte ich den Begriff «Spaltung» kaum noch benutzen, weil er suggeriert, dass es vorher etwas gab, das ganz war. Ähnlich verhält es sich mit der Erzählung von der zunehmenden Polarisierung, weil damit meist die Idee verbunden ist, dass es eine Mitte gibt, die hält. Natürlich kann man dieses Land mit seinen 330 Millionen Einwohner:innen in zwei Lager aufteilen, Demokrat:innen gegen Republikaner:innen, Küsten gegen Heartland, wie auch immer man das dann tut, nur driftet das oft in einen Essenzialismus ab, der eine konstruktive Analyse eher verhindert.

Was in San Francisco Sinn ergibt, stösst in Indiana auf grösseren Widerstand.

Die am 8.  November stattfindenden Wahlen nach der Hälfte der Amtszeit des Präsidenten, die sogenannten Midterms, sind ein guter Anlass, die Gleichzeitigkeiten und Ungleichzeitigkeiten, die dieses Land prägen, im Detail wahrzunehmen. Alle 435 Sitze des Repräsentantenhauses und 35 der 100 Sitze im Senat stehen zur Wahl. In 36 Bundesstaaten wird der Gouverneursposten bestimmt, dazu kommen zahlreiche Kommunalwahlen und themenbezogene Referenden, in denen es beispielsweise um erhöhte Einkommenssteuern, Abtreibungsgesetze oder die Entkriminalisierung von Drogen geht. Insbesondere der Ausgang der Senatswahlen ist von enormer Bedeutung, weil die Demokrat:innen dort ihre knappe Mehrheit ausbauen könnten, was die Umsetzung progressiver Grossprojekte wahrscheinlicher werden liesse. Sollte ihre Mehrheit hingegen verloren gehen, droht für die kommenden Jahre fataler Stillstand.

Gibts überhaupt Sieger:innen?

Während bis vor ein paar Monaten noch sicher schien, dass die Demokrat:innen unter dem Strich mit einer wuchtigen Niederlage rechnen müssen – wie es übrigens für diejenige Partei, die den Präsidenten stellt, bei den Midterms meist der Fall ist –, mag mittlerweile kaum noch jemand vorhersagen, wer als Sieger hervorgeht und ob es überhaupt einen Sieger gibt.

Von Vorteil für die Demokrat:innen ist, dass Joe Biden nach anderthalb Jahren vorsichtigem Stretchen etwas aufgewärmt wirkt, immerhin. Er konnte mit dem «Inflation Reduction Act» endlich ein Klima- und Sozialpaket präsentieren, wenngleich das Resultat spürbar kompromissbehaftet ist und die Inflation weiter die US-amerikanischen Haushalte belastet. Des Weiteren hat Biden eine Schuldenstreichung für Millionen von Uniabsolvent:innen verkündet, eine Idee, die spätestens seit der Occupy-Bewegung 2011 im Raum stand. Auch rhetorisch scheint der Präsident im Herbst 2022 aus der Reserve gelockt – die von Donald Trump angeführte «Make America Great Again»-Bewegung nannte er neulich «semifaschistisch». So deutlich spricht Biden selten.

Zum vielleicht wichtigsten Faktor bei den Midterms könnte jedoch die im Sommer getroffene Entscheidung des Supreme Court werden, das Abtreibungsrecht zu kippen. Das Ende von «Roe v. Wade» hat nicht nur unterstrichen, welche Macht die christliche Rechte in den USA hat, sondern auch, was für eine Art von Gesellschaft ihr vorschwebt: nationalistisch, theokratisch, patriarchal. Verfolgt man Umfragen und die Zahl der Wahlregistrierungen, mobilisiert das Thema Abtreibungen wie kaum ein anderes. Die Midterms sind also auch deshalb so offen, weil Wähler:innen ihren Frust gegen «die Partei an der Macht» nicht nur bei den Demokrat:innen auslassen können, sondern auch bei den Republikaner:innen, die für eine konservative Mehrheit am Obersten Gericht gesorgt haben.

Wenn ich mich mit der Erzählung von der gespaltenen Gesellschaft etwas zurückhalte, möchte ich damit nicht die Unterschiede zwischen den zwei Parteien relativieren. Während sich die Republikaner:innen grösstenteils einem ultrarechten Projekt verschrieben haben, unter dem vor allem Frauen, queere, arme und nichtweisse Menschen leiden, versuchen die Demokrat:innen, liberale Antworten innerhalb eines Systems zu finden, das ihnen sukzessive aus den Händen gleitet. Die einen wollen faschistoide Restauration, die anderen retten, was ist.

Millionen von Nichtwähler:innen

Der Kontrast zwischen den Parteien bedeutet aber eben nicht, dass man die US-amerikanische Bevölkerung in zwei entsprechende Gruppen aufteilen und darauf reduzieren sollte. Es gibt Arbeiter:innen, die republikanisch wählen, aber unter den von dieser Partei verabschiedeten Gesetzen leiden. Es gibt Linke, die demokratisch wählen, aber das mit viel Schmerz. Neben Millionen von Wechselwähler:innen gibt es noch viel mehr Nichtwähler:innen, und wenn die Demokrat:innen eine Zukunft haben möchten, gilt es, gerade in diesen Gruppen Resonanz zu finden.

Nehmen wir den Bundesstaat Nevada im Südwesten, der seit 2017 mit Catherine Cortez Masto die erste hispanische Senatorin in der Geschichte der USA stellt. Bei den nun anstehenden Wahlen könnte Masto ihren Posten wieder verlieren – unter anderem deshalb, weil rund ein Drittel der Hispanics zuletzt die Republikaner:innen gewählt hat. Für die Demokratische Partei, die diese stark wachsende Bevölkerungsgruppe lange Zeit wie einen Monolith, der sowieso demokratisch wählt, behandelt hat, stellt sich die dringende Frage, wie man in den verschiedenen hispanischen Communitys Vertrauen aufbauen kann. Nevada ist diesbezüglich besonders interessant, weil es der derzeit einzige Bundesstaat ist, in dem die Partei von linken Politiker:innen geführt wird.

Schauen wir nach Ohio, lange Zeit ein Swing State, wo die Republikanische Partei allerdings seit Jahren die Oberhand hat, was vor allem an ihrer Dominanz in den ländlichen Gegenden liegt. Bei den Midterms will der ehemalige Finanzinvestor und Bestsellerautor J. D. Vance für die Republikaner:innen in den Senat ziehen; er gehört zum Trump-Lager und vertritt einen Pseudopopulismus, der sich kaum durch Politik im Sinne der Arbeiter:innenklasse auszeichnet, sondern vielmehr von Ressentiments und Verschwörungsideologien lebt. Vance ist einer von rund 200 republikanischen Kandidat:innen, die die Lüge von der gestohlenen Wahl 2020 verbreiten. Für die Demokrat:innen gilt es in Staaten wie Ohio einerseits, diese Angriffe abzuwehren, und andererseits, den Wähler:innen ein glaubwürdiges ökonomisches Programm anzubieten. Sie müssen also durch Basisarbeit das nachholen, was sie Jahrzehnte ignoriert haben.

Wohin bewegt sich dieses Land? Es kommt darauf an, wohin man schaut. In manchen Wahlkreisen wird sich die Zahl sozialistischer Abgeordneter vergrössern, in anderen werden die Republikaner:innen ihre Macht zementieren. Die Konstellationen und Voraussetzungen sind so verschieden, dass auch Programme und Kommunikationsstrategien progressiver Kandidat:innen variieren müssen. Forderungen, die für eine linke Kandidatin in der Metropolregion San Francisco Sinn ergeben, stossen auf dem Land in Indiana auf grösseren Widerstand. Es lohnt sich also, genau hinzuschauen, wie die Demokrat:innen die Demokratie retten wollen, auf regionale Verschiebungen, darauf, was funktioniert und was nicht.