Fall Pelicot: Die Träume von «Herrn Jedermann»
Gewalt an wehrlos gemachten Frauen ist ungeheuer weit verbreitet. Gedanken zu Caroline Darians Buch «Und ich werde dich nie wieder Papa nennen».

Caroline Darian weiss genau, wann sie die «letzten Sekunden eines normalen Lebens» erlebt hat: Als am Montag, 2. November 2020, um 20.25 Uhr ihr Telefon läutet. Mit zitternder Stimme informiert Gisèle Pelicot ihre Tochter, dass ihr Vater Dominique Pelicot verhaftet worden sei. Dass dieser Vater seine Ehefrau über Jahre hinweg immer wieder betäubt hat. Dass er sie auf einer Plattform fremden Männern angeboten hat, die sie dann vergewaltigten. Dass er das alles filmte und fotografierte. In ihrem soeben auf Deutsch erschienenen Buch «Und ich werde dich nie wieder Papa nennen» beschreibt Darian das, was anschliessend mit ihr und ihrer Familie passiert ist, als «Gemetzel».
In Frankreich ist dieser Erfahrungsbericht bereits 2022 erschienen, also zwei Jahre vor dem aufsehenerregenden Prozess, der ab September letzten Jahres in Avignon stattgefunden hat – öffentlich, weil Gisèle Pelicot das so durchgesetzt hatte. Am Ende wurden ihr Exmann sowie alle 51 identifizierten Mittäter (von mutmasslich über 70) schuldig gesprochen. Und Gisèle Pelicot ist dank ihres Muts, öffentlich hinzustehen, und mit ihrem Satz «Die Scham muss die Seite wechseln» heute eine feministische Ikone.
«Wer bist du eigentlich?»
Darians Buch gibt einen erschütternden Einblick in die Zeit direkt nachdem Dominique Pelicots Verbrechen aufflogen. Tagebuchartig erzählt die Tochter, wie die Taten ihres Vaters die Familie zu spalten drohten und ihr Leben in Stücke rissen. Auch deshalb, weil sie aufgrund von Fotos, die ihr Vater von ihr gemacht hat, überzeugt ist, dass er sich auch an ihr vergangen hat. Er streitet das bis heute ab – ihre Mutter will ihm glauben.
Selbstkritisch fragt sich Darian im Buch, ob sie die rückblickend offensichtlichen Signale, dass etwas in der Beziehung der Eltern nicht stimmte, hätte erkennen müssen. Und schmerzhaft erinnert sie sich an den Vater, den sie einmal hatte: wie er Witze macht, wie er beim Autofahren singt, eine Fahrradtour mit ihr unternimmt, wie er Grillgut auf den Rost wirft und ihr zulächelt. Und Darian fragt: «Kann man sich in seinem Vater so gründlich täuschen? Aber wer bist du eigentlich?»
Ja, wer ist dieser Mann, den die Medien gerne als «monstre de Mazan» bezeichnen? Tatsächlich sind seine Taten unfassbar grauenhaft, man möchte sagen monströs und krank. Doch das greift zu kurz. Denn er war ein in diese Gesellschaft integrierter Mann, der ein normales Leben zu führen schien – wie auch die 51 identifizierten und verurteilten Mittäter: alles Männer aus dem alltäglichen Umfeld des Opfers, darunter ein Nachbar der Familie, ein Mitarbeiter eines Supermarkts, in dem Dominique Pelicot verhaftet wurde, ein Journalist, ein DJ, mehrere Lkw-Fahrer, ein Feuerwehrmann – Brüder, Söhne, Ehemänner und Familienväter. Die Männer, die über eine Plattform Kontakt mit Dominique Pelicot aufnahmen, auf der er in einem privaten Chat mit dem Namen «A son insu» (Ohne ihr Wissen) seine Frau für Sex anbot, sind heute zwischen 26 und 74 Jahre alt. Dass sie so durchschnittlich und normal erscheinen, macht das Ausmass ihrer Taten so bodenlos: Das Verbrechen von Mazan ist kein Randphänomen, sondern es fand in der Mitte unserer Gesellschaft statt.
Ungezwungen gewalttätig
Blandine Deverlanges von der feministischen Gruppe Les Amazones d’Avignon nennt diese Männer denn auch «Herrn Jedermann». Und sie fragt, wie es möglich war, dass Dominique Pelicot in einem Radius von zehn bis zwanzig Kilometern rund um das kleine Dorf Mazan so viele Männer rekrutieren konnte, die bereit waren, seine Frau zu vergewaltigen.
In welchem Ausmass dies auch ausserhalb von Mazan passiert, zeigt die im Dezember veröffentlichte Recherche «Das Vergewaltiger-Netzwerk auf Telegram» des Norddeutschen Rundfunks. Die Journalistinnen traten einem Telegram-Chat bei, in dem sich bis zu 100 000 Männer über die von ihnen betäubten Frauen austauschen: Sie geben einander Tipps, mit welcher Dosierung diese am längsten schlafen, sie zeigen intime Fotos der schlafenden Frauen, filmen, wie sie sie sexuell missbrauchen, und setzen live die Wünsche anderer Männer im Chat um. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich über die ausgeübte Gewalt an ihren wehrlos gemachten Opfern austauschen wie andere über Sauerteigrezepte, macht sprachlos. Hinzu kommt: Diese Frauen werden von ihren Nächsten missbraucht, von Partnern, denen sie vertrauen. Die vierzigminütige Dokumentation macht einmal mehr deutlich: Der gefährlichste Ort für eine Frau ist ihr Zuhause.
Willkommen bei der SVP
Die schwer zu ertragende Dokumentation zeigt: Sex mit einer schlafenden Frau scheint der Traum von «Herrn Jedermann» zu sein. Mit der willenlos gemachten Partnerin kann er auch sexuelle Fantasien ausleben, zu denen sie im Wachzustand vielleicht nicht bereit wäre. Es ist die konkrete Umsetzung des rechtsextremen Slogans «Your body, my choice».
Vor diesem Hintergrund wird auch nochmals offensichtlich, wie geschmacklos und misogyn der vor zehn Jahren publizierte Werbefilm der SVP «Welcome to SVP» ist: Nationalrat Thomas Aeschi giesst Zuger Kirsch in ein Glas. Sobald er das Glas ausgetrunken hat, fällt sein Kopf auf die Tischplatte – neben ein Fläschen mit «K.o.-Tropfen». Auf ihrer Wahlparty bot die Partei damals auch einen «K.o.-Tropfen-Shot» an, was die Teilnehmenden witzig fanden.
All dies geschah, nachdem die grüne Politikerin Jolanda Spiess-Hegglin nach der Zuger Landammannfeier im Dezember 2014 einen Filmriss und Unterleibsschmerzen hatte und vermutete, unter Einfluss von K.o.-Tropfen missbraucht worden zu sein. Eine rechtsmedizinische Untersuchung fand in ihrem Intimbereich DNA-Spuren von mindestens zwei Personen: eines SVP-Kantonsrats und eines «männlichen Mischprofils».* K.o.-Tropfen konnten jedoch weder beim Blut- noch beim Urintest nachgewiesen werden – allerdings wurden die Tests über zwanzig Stunden nach der möglichen Tat durchgeführt. Dass dann keine Rückstände von K.o.-Tropfen mehr zu finden sind, ist eine Problem, das vielen mutmasslichen Missbrauchsopfern zum Verhängnis wird.
Kein Offizialdelikt mehr
Mit ihrer respektlosen Aktion machte sich die wählerstärkste Partei der Schweiz nicht nur auf Kosten aller K.o-Tropfen-Opfer lustig, die Partei trug damit auch aktiv zu einer Verharmlosung und Normalisierung solcher Sexualverbrechen bei. Und dieses frauenfeindliche Verhalten ist nicht einfach ein Ausreisser, sondern Programm: So versuchte die SVP noch im Jahr 2003, zu verhindern, dass sexuelle Gewalt in der Ehe (die bis 1992 in der Schweiz nicht strafbar war) als Offizialdelikt gilt. Zum Glück erfolglos.
Wie verbreitet und normalisiert Sex von Männern mit schlafenden Frauen ist, zeigt auch die 2021 in Grossbritannien veröffentlichte Studie über sexualisierte Gewalt mit dem Titel «Ich dachte, das wäre einfach ein Teil des Lebens». 51 Prozent der über 22 000 befragten Frauen gaben an, aufgewacht zu sein, während ihr Partner Sex mit ihnen hatte oder sexuelle Handlungen an ihnen vollzog. Bei 27 Prozent der Befragten war das mehr als dreimal passiert.
Laut der Studie «Wahrnehmung sexuelle Beziehungen und Gewalt», die 2022 im Auftrag von Amnesty International Schweiz durchgeführt wurde, sehen fünfzehn Prozent der befragten Schweizer Männer kein Problem darin, Sex mit einer schlafenden Person zu haben, wenn diese im Wachzustand jeweils einwilligt.
Hinzu kommt, dass Gewalt an schlafenden Frauen regelmässig mit der Begründung verharmlost wird, die Frauen merkten ja gar nicht, was ihnen angetan werde. So sagte der Bürgermeister von Mazan tatsächlich, dass die Vergewaltigungen von Gisèle Pelicot weniger beunruhigend seien als der Fall eines anderen Opfers in einer benachbarten Stadt, das bei Bewusstsein war, als es vergewaltigt wurde.
Kaum Unrechtsbewusstsein
Caroline Darian beschreibt in «Und ich werde dich nie wieder Papa nennen», wie sie beim Lesen der psychologischen Gutachten zu den Tätern die Wut packte. Kein einziger zeigte Reue oder Mitgefühl: «Oft ist ihnen nicht mal bewusst, dass sie gefährliche Verbrecher sind.» Auch zwei Jahre später ist das kaum anders: Über dreissig Mitangeklagte beharrten vor Gericht auf ihrer Unschuld. Sie seien vom Einverständnis des Opfers ausgegangen, behaupteten sie. Sie hätten gedacht, Frau Pelicot spiele nur, sie schlafe. Sie hätten Angst vor Dominique Pelicot gehabt, er habe sie manipuliert. Ein Mitangeklagter sprach den Satz aus, der in vielen Männerköpfen wohl noch immer herumgeistert: «Ein Mann kann mit seiner Frau machen, was er will.»
Alle diese Männer haben eine heimtückisch bewusstlos gemachte Frau vergewaltigt. Doch statt sich schuldig zu bekennen und zu hinterfragen, was sie dieser Frau angetan haben, versuchen sie, sich in der Öffentlichkeit als Opfer darzustellen.
Sie sei allgemein sehr überrascht, wie wenig Männer über ihre eigenen Taten und wie sie dieses Verhalten ändern könnten, nachdenken würden, sagte die französische Autorin Virginie Despentes vor sieben Jahren in einem Interview mit der WOZ (siehe Nr. 17/18): «Denn sie sind ja das ‹Geschlecht der Vergewaltiger›. Normalerweise sind die Vergewaltiger Männer. Warum haben Männer so viel Wut gegenüber Frauen? Könnten sie sich bitte mal hinsetzen und darüber nachdenken? Warum ist es so, dass wir vergewaltigen, wie sehen wir aus, wenn wir das tun, und wie können wir dieses Schema durchbrechen?»
Der Fall Pelicot zeigt einmal mehr: Erschreckend viele Männer wollen sich nicht mit solchen Fragen auseinandersetzen. Die Scham kann erst die Seite wechseln, wenn sie wirklich dazu bereit sind.

* Korrigenda vom 24. Januar 2025: In der gedruckten Ausgabe sowie in der ursprünglichen Onlineversion stand, dass die Rechtsmediziner im «Intimbereich» von Jolanda Spiess-Hegglin «DNA-Spuren zweier Männern» fanden. Korrekt wäre: die DNA-Spuren eines SVP-Kantonsrats und «eines männlichen Mischprofils», also die DNA von mehreren Personen.