Graphic Novel: Ist das eine Made oder ein Mensch?

Nr. 48 –

Cecilia Vårhed ist eine aufregende Newcomerin der schwedischen Comicszene. Ihr Debüt erzählt von neurotischen Zwanzigjährigen, die sich in Stockholm durchschlagen. Das ist stellenweise poetisch und melancholisch, vor allem aber köstlich absurd.

Ausschnitt aus Cecilia Vårheds «Hohle Parole»
Ein Alltag zwischen Jobcenter und Drogentest, Sozial­phobie und Polyamorie:
Ausschnitt aus Cecilia Vårheds «Hohle Parole».
© Edition Moderne

Der Flirt endet so abrupt, wie er begonnen hat. Während des Vorspiels möchte sie «böse Feministin», gar «Feminazi» genannt oder zumindest für ihre schlecht geschriebenen Gedichte heruntergemacht werden. Das findet bei ihrem Gegenüber keinen Anklang, er möge «Kleinmädchenspiele». Man sei doch gleich alt, entrüstet sich Darling, die Hauptfigur aus Cecilia Vårheds Comicdebüt. Und später, als sich die Figur mit einem Freund im Park trifft, um das missglückte Date zu rekapitulieren, spricht sie es aus, das wiederkehrende Wort: Was für ein scheiss «Normalo», dieser Typ!

«Hohle Parole» dreht sich um eine Handvoll Zwanzigjährige, die genau das auf keinen Fall sein möchten: Normalos. Dabei hätten die Protagonist:innen – allesamt mit einer guten Portion neurotischen Persönlichkeitsakzentuierungen versehen – diesbezüglich nicht allzu viel zu befürchten.

Liebe hinter der Paywall

Über mehrseitige Episoden hinweg skizziert Vårhed mal in einladenden Pastellfarben, dann wieder in düsterem Schwarzweiss einen Alltag zwischen Jobcenter und Drogentest, zwischen Hyperaktivität und Lethargie, Sozialphobie und Polyamorie.

«Die ganze Bande hat mit sich zu kämpfen, aber jeder Charakter auf seine Art und Weise», so beschreibt Vårhed ihre Figuren beim Zoom-Gespräch, während sie an einem Tisch in ihrem kleinen Apartment sitzt, das sie mit ihrem Freund im Stockholmer Stadtteil Årsta bewohnt. Hier hat sie sich eine Ecke eingerichtet mit allem, was sie zum Zeichnen benötigt: eine Unmenge an Stiften, geordnet in verschiedenen Töpfen, vor ihr ein iPad. Die 28-Jährige begann in Form von einzelnen Comicstrips an «Hohle Parole» zu arbeiten, da war sie selbst noch keine zwanzig Jahre alt und studierte Creative Writing. Die Wahl ihres ersten Studiengangs erklärt sie nüchtern: Sie habe damals auf Kredit einen teuren Barkeeperkurs besucht und musste den irgendwie zurückzahlen. Das Studium sollte ein staatliches Stipendium einbringen.

Portraitfoto von Cecilia Vårhed
Cecilia Vårhed, Comiczeichnerin. Foto: Elisabeth Vassiliou

Was den Protagonist:innen in «Hohle Parole» widerfahre, sei oft aus der Luft gegriffen, vieles fusse aber durchaus auf ihren Beobachtungen, so die Autorin. «Damals war alles ein wenig abgefuckt», fasst sie die spätpubertäre Phase ihres Lebens zusammen. Mit dem Comic habe sie Themen wie Einsamkeit anschneiden und gleichzeitig den Soundtrack der Geschichte verändern können. Vårheds Zeichnungen sind seit 2016 in verschiedenen Anthologien veröffentlicht worden, zwei Jahre dauerte die Arbeit an ihrem ersten Buch. Letztes Jahr ist es in Schweden herausgekommen, vor kurzem erschien «Hohle Parole» in der Edition Moderne auf Deutsch. Zurzeit absolviert Vårhed einen Master in Graphic Design und Illustration. Und sie arbeitet an der Supermarktkasse. Sie finde es gut, etwas zu tun, das ein wenig «down to earth» sei. Ihr falle auf, dass Comicautor:innen nicht davon sprächen, womit sie ihr Geld verdienten, obwohl kaum jemand vom Verkauf der eigenen Bücher leben könne: «Viele sind lieber komplett pleite, als einen Normalojob zu haben.» Und da ist es wieder, dieses Wort: Normalo.

Das Minus auf dem Kontostand mausert sich auch in «Hohle Parole» zur verlässlichen Konstante. Da ist etwa Alfons, chronisch pleite und aussehend wie eine Ente – duale Geschlechterzuschreibungen finden sich in diesem Comic ebenso selten wie klare Abgrenzungen von Tier, Mensch und intergalaktischen Wesen. Alfons jedenfalls kämpft gegen eine Depression, vor allem aber gegen eine Diagnose derselben. Sehnsuchtsvoll fragt er in einer Szene ein Cam Girl, ob sie für einmal die Paywall deaktivieren könne, er habe ihr letzte Woche hohe Beträge überwiesen. Die Antwort, sie kommt postwendend: «No can do.» Alfons ist zu diesem Zeitpunkt aber schon längst in sein Gegenüber am Bildschirm verliebt.

In einem Kapitel ihrer Graphic Novel beschreibt die Zeichnerin, wie zwei ihrer Protagonist:innen in einer Wohnung über einer sektenartigen Gruppierung leben und Alfons in der Hoffnung auf seelische Heilung an einer Séance teilnimmt. Ersteres habe sie auch so erlebt, sagt Vårhed. Ehemalige Vermieter von ihr hätten eine Heilungsgruppe gegründet und körperliche oder psychische Leiden ihrer Patient:innen auf deren frühere Leben zurückgeführt: «Natürlich verkauften sie teure Produkte und Behandlungen, die Abhilfe schaffen.» Dazu gehörten auch Exorzismen. «Seltsam» sei es gewesen, wenn rituelle Gesänge, Gurgeln oder Schreie aus dem Untergeschoss in ihre Wohngemeinschaft gedrungen seien. «Dafür war die Bleibe für Stockholm recht günstig.»

Heute seien ihr die Dialoge in ihrem Debüt manchmal etwas unangenehm, sagt Vårhed und lacht, um einen Moment später fast exakt dasselbe zu sagen wie eine Figur aus ihrem Comic: «Teenager sind halt einfach unglaublich frustrierend.» Und ja, es gibt sie, diese klebrigen Dauerloops der Selbstbezogenheit in «Hohle Parole». Nur führt Vårhed die jugendliche Egozentrik ihrer Protagonist:innen dermassen ad absurdum, dass sie köstlich unterhält. Dann etwa, wenn Darling in einer Phase der gefühlten Totalisolation Passant:innen anspricht, um sich in ihrer Wahrnehmung bestätigen zu lassen, dass sie von ihrem Umfeld im Stich gelassen wird: «Wenn man nur mit Leuten befreundet ist, auf die man sich nicht verlassen kann, dann hat man doch keine Trust Issues? Dann liegt man doch einfach richtig?» Letztlich benennt Vårhed aber auch realpolitische Gegebenheiten. Dass die Freund:innen auf dem Arbeitsamt zermürbt werden oder keine Chance haben, eine bezahlbare Wohnung zu finden, dürfte ziemlich nah an die Lebensrealität vieler junger Menschen in Stockholm herankommen.

Die Anziehung von Vårheds Debüt liegt aber in einem sich ständig wandelnden Zeichnungsstil, der Emotionen in Endlosschleife einzufangen weiss. Je nachdem, ob Darling traurig, verängstigt oder wütend ist, mutiert ihr Gesicht entweder zur albtraumhaften, detailreichen Fratze oder reduziert sich zu wenigen Punkten und Strichen. Verzerrungen, Verdopplungen, aber auch aktionsbasierte Sequenzen, wie man sie aus Mangas kennt, reihen sich in «Hohle Parole» aneinander. Immer wieder driftet nicht nur die Form, sondern auch die Geschichte vom Realistischen ins Fantastische und wieder zurück. Nachdem eine Figur an einer Kostümparty Sex mit einem Vampir hatte und nun über Lichtempfindlichkeit klagt, wird beides in Betracht gezogen: eine Verwandlung zum Blutsauger oder halt doch «nur» eine Ansteckung mit Chlamydien. Und wenn «Love Warrior», die von einem Planeten kommt, auf dem die Liebe durch kriegerische Handlungen erkämpft wird, auf die Erde flüchtet, um dann ausgerechnet in einer polyamoren Beziehung am eigenen Selbstwertgefühl zu scheitern, ist das schon fast rührend poetisch.

Ein Auftritt von Seinfeld

Vårhed lässt ihren Zeichnungen Raum. Da wird auch mal eine halbe Seite einzig ein Zug im strömenden Regen gezeigt oder ein nächtlicher Ausblick auf eine Burger-King-Filiale und einen Supermarkt. Über den Gebäuden macht ein telefonierender Mond gelangweilt eine Kaugummiblase.

Auch an bizarren Referenzen auf die neunziger Jahre hat die Zeichnerin nicht gespart. Sie tauchen etwa in Form des US-Komödianten und Schauspielers Jerry Seinfeld auf, der sich in einer Episode durchgehend fragt, ob sein Kind eine Made oder ein Mensch sei. Damit schafft Vårhed ein abstruses Äquivalent zu den tatsächlichen Nonsenspointen, für die der heute siebzigjährige Seinfeld bekannt ist. Sinnbefreite Serien wie «Seinfeld» hätten, so Vårhed, ihre Jugend geprägt: «Auch wenn sie dumm und sexistisch sind, können sie in mir ein seltsames Gefühl der Geborgenheit auslösen.»

Cover von «Hohle Parole»
Cecilia Vårhed: «Hohle Parole». Aus dem Schwedischen von Katharina Erben. Edition Moderne. Zürich 2024. 232 Seiten.