Repression in Russland und Belarus: «Verzeihen Sie, verehrtes Gericht»

Nr. 32 –

Verfolgt, inhaftiert, getötet: Nach dem grossen Gefangenenaustausch zwischen Minsk und Moskau auf der einen und westlichen Staaten auf der anderen Seite bleiben Tausende aufgrund ihrer Dissidenz inhaftiert. Neun Schicksale.

Oleg Orlow von der Menschenrechtsorganisation Memorial wird im Februar in einen Moskauer Gerichtssaal geführt
Oleg Orlow von der Menschenrechtsorganisation Memorial wird im Februar in einen Moskauer Gerichtssaal geführt. Nun gehört er zu den Freigelassenen. Foto: Keystone

«Jede Minute des Lebens im Lager ist eine vergiftete Minute.» 
Warlam Schalamow, «Erzählungen aus Kolyma»

Tagelang war spekuliert worden, am 1. August war es so weit: In Minsk und Moskau ordneten die Behörden die Freilassung von sechzehn politischen Häftlingen an, darunter prominente Politiker, Journalist:innen und Menschenrechtler, und liessen diese ins Exil ausfliegen. Im Gegenzug wurden zehn Personen an Russland übergeben, die unter anderem wegen Mord oder Spionage im Gefängnis gesessen hatten. Am Deal beteiligt waren neben Russland, Belarus und den USA auch mehrere europäische Staaten. Nichts zeigt das Wesen des russischen Regimes besser als die Bilder von Wladimir Putin, der seine Verbrecher:innen wie ein Pate mit rotem Teppich und geschmacklosen Blumen willkommen heisst.

So erfreulich die Freilassung der Geiseln, es bleiben doch Tausende in Russland und Belarus inhaftiert – weil sie sich gegen den Einmarsch in die Ukraine ausgesprochen oder gegen die Repressionen im Innern zur Wehr gesetzt haben. Die russische Organisation OVD-Info zählt mindestens 1289 Personen als politische Gefangene, die belarusische Menschenrechtsorganisation Wjasna listet derzeit 1388 Personen. Hinzu kommen die vielen Tausend Ukrainer:innen in russischer (Kriegs-)Gefangenschaft. Die folgenden Geschichten stehen stellvertretend für alle unerzählten Schicksale.

Pawel Kuschnir (39): «Eine Schande für unser Vaterland»

Kurz nachdem der grosse Gefangenenaustausch über die Bühne gegangen ist, spielt sich im Fernen Osten eine Tragödie ab: In einem Untersuchungsgefängnis in Birobidschan verstirbt am Wochenende der Pianist Pawel Kuschnir, nachdem er fünf Tage lang weder Nahrung noch Flüssigkeit zu sich genommen hat.

Kuschnir, der aus dem zentralrussischen Tambow stammt, wird an einem Moskauer Konservatorium ausgebildet, arbeitet anschliessend als Pianist. «Ich liebe Kurt Cobain, für mich ist der Rockstar das Ideal eines Künstlers, selbst spiele ich aber Rachmaninow», fasst er seine musikalischen Vorlieben zusammen. Zum Aktivisten wird Kuschnir bereits in jungen Jahren: Gemeinsam mit Hunderttausenden anderen Russ:innen versammelt er sich 2011/12 auf dem Moskauer Bolotnaja-Platz zum Protest gegen die Fälschungen bei der damaligen Präsidentschaftswahl. Später spricht er sich dezidiert gegen die völkerrechtswidrige Annexion der Krim aus, schreibt ein Buch gegen den Krieg, den Russland anschliessend im Nachbarland entfesselt hat.

Nach dem Angriff auf die gesamte Ukraine verbringt Kuschnir, inzwischen an der Philharmonie in Birobidschan angestellt, seine Freizeit mit dem Aufhängen von Antikriegsflugblättern. Zum Verhängnis wird dem Musiker schliesslich sein persönlicher Youtube-Kanal, auf dem er seit rund einem Jahr – so nennt er selbst es – antifaschistische Botschaften publiziert. Das letzte Video, erschienen vor rund sieben Monaten, beginnt mit dem Satz: «Leben, das ist etwas, was es unter dem Faschismus nie geben wird.» Millionen Russ:innen hätten ihr Leben im Kampf dagegen gelassen, das Putin-Regime aber sei selbst faschistisch, fährt Kuschnir fort. Die Massaker in Butscha nennt er eine «Schande für unser Vaterland».

Im Mai erfolgen die Festnahme und eine Anklage wegen «Aufruf zum Terrorismus» – zu diesem Zeitpunkt hat der Youtube-Kanal bloss fünf Abonnent:innen. Aktuell sammeln Kuschnirs Freund:innen Geld, um die Asche des Verstorbenen in seine Heimatstadt zu überführen und ihn neben seinem Vater beerdigen zu können.

Palina Scharenda-Panasiuk (49): Die «Jeanne d’Arc von Brest»

Ein freies, demokratisches Belarus ist seit Jahren das Ziel von Palina Scharenda-Panasiuk. Die oppositionelle Aktivistin aus der Stadt Brest engagiert sich bei der Bewegung Europäisches Belarus, die sich für einen EU-Beitritt des Landes einsetzt. Als Gewerkschafterin setzt sie sich für die Anliegen der Beschäftigten in der Radioelektronikindustrie ein. 2020 ist sie Teil des Präsidentschaftswahlkampfs von Oppositionsführerin Swjatlana Zichanouskaja und erlebt anschliessend, wie das Regime die auf die Wahlfälschungen folgenden Massenproteste brutal niederknüppelt.

Im Januar 2021 wird Scharenda-Panasiuk – von ihren Unterstützer:innen auch «Jeanne d’Arc von Brest» genannt – verhaftet. Auf eine erste Anklage wegen «Gewalt gegen einen Polizisten» folgen zwei weitere wegen «Beamten- und Präsidentenbeleidigung». Ein halbes Jahr später wird sie zu zwei Jahren Freiheitsentzug verurteilt; später wird das Strafmass zweimal um je ein Jahr verlängert. In Haft verschlechtert sich ihr Gesundheitszustand akut.

Im Mai hätte die Oppositionelle eigentlich aus der Haft entlassen werden müssen; stattdessen fehlte von ihr lange jede Spur: Wie viele politische Gefangene des belarusischen Regimes soll sie sich in «Inkommunikadohaft» befunden haben, ohne Kontakt zu Aussenwelt, Anwält:innen oder Angehörigen. Die Uno stuft diese brutale Art des Freiheitsentzugs als Folter ein. Seit kurzem ist bekannt, dass gegen Scharenda-Panasiuk ein neues Verfahren läuft.

Ramilja Galim (58): «Reist nach Hause!»

«Liebe Baschkiren, tapfer ist nicht, wer alle tötet, die man zu Zielen erklärt hat. Die wahre Tapferkeit besteht darin, zu sagen: Ich bin nicht bereit zu kämpfen! Also reist nach Hause! Und helft euresgleichen, dem Fleischwolf zu entkommen»: Für diesen Videoappell verurteilt ein Lokalgericht in Ufa, der Hauptstadt von Baschkortostan, die Unternehmerin und Aktivistin der baschkirischen Nationalbewegung Ramilja Galim im Dezember 2023 zu fünf Jahren Strafkolonie. Vorgeworfen wird ihr, zur «Gefährdung der Sicherheit des Staates» aufgerufen zu haben. Galims Worte sieht das Gericht als «Aufforderung zum Desertieren».

Nach dem Wirtschaftsstudium gründet Galim im wild wachsenden Kapitalismus der neunziger Jahre mit ihrem Mann die Parfümeriekette Dobryi Denj. 2018 bewirbt sie sich erfolglos für das Bürgermeister:innenamt von Ufa; ein Jahr später scheitert auch der Versuch, sich zum Oberhaupt von Baschkortostan wählen zu lassen. Auf die politische Betätigung folgt das erste Strafverfahren: 2020 verurteilt ein Gericht sie wegen zweier auf Youtube veröffentlichter Videos.

Wie viele andere in Russland, die aus politischen Gründen angeklagt werden, macht auch Galim vor Gericht von ihrem in der Strafprozessordnung verbrieften Recht auf das letzte Wort Gebrauch: Aus Baschkortostan, dem Herzen Russlands, habe sie sich mit der Frage an die Russen gewandt, ob sie bereit seien, Menschen zu töten, sagt sie. «Das Schicksal der Welt hängt von der Antwort darauf ab.» Die Region Baschkortostan ist einer jener Orte im Land, aus denen besonders viele Männer in den Krieg gegen die Ukraine geschickt werden.

Emir-Ussejin Kuku (48): Als Terrorist verurteilt

Enteignet, verhaftet, gefoltert: Seit der Annexion der Krim durch Russland sieht sich die muslimische Minderheit der Krimtatar:innen auf der Halbinsel heftiger Verfolgung ausgesetzt. Bekannt geworden sind unter anderem die Verfahren wegen angeblicher Mitgliedschaft in der islamistischen Organisation Hizb ut-Tahrir, die in Russland als Terrororganisation verboten, in der Ukraine aber zugelassen ist. Die Prozesse dienen dazu, die Selbstorganisation der bereits zu Stalins Zeiten verfolgten und deportierten Minderheit zu unterdrücken.

In diese Kategorie fällt auch der Fall des prominenten Menschenrechtsaktivisten Emir-Ussejin Kuku, der für seine akribische Dokumentation der Menschenrechtsverletzungen bestraft wurde, die die Besetzer:innen auf der Krim begehen. Zu den Schwerpunkten seiner Arbeit gehört die Unterstützung von Opfern des «Verschwindenlassens». 2016 wird Kuku gemeinsam mit fünf weiteren krimtatarischen Männern verhaftet, 2019 verurteilt ihn ein Gericht in der russischen Stadt Rostow am Don zu zwölf Jahren Strafkolonie im strengen Vollzug; die Strafen der Mitangeklagten reichen bis zu neunzehn Jahren. Eine Mitgliedschaft bei Hizb ut-Tahrir hat Kuku stets bestritten.

Walerija Sotowa (20): In die Falle gelockt

Sie sei gleich zurück, soll Walerija Sotowa an jenem Abend im Februar 2023 zu ihrer Mutter gesagt haben. Einige Stunden später stürmen Sicherheitsleute die Wohnung in der russischen Stadt Jaroslawl. Die Tochter sei verhaftet worden, sagen sie. Weshalb, sagen sie nicht. Später taucht ein Video von der Festnahme auf: Darin wird Sotowa aus einem Auto gezerrt, mit dem Gesicht in den Schnee gedrückt, ihr werden Handschellen angelegt. Daneben sind eine Fünfliterflasche mit transparenter Flüssigkeit, ein Lappen, ein Feuerzeug und ein Plastiksack voller leerer Flaschen zu sehen. Sie habe Fotos von Sammelstellen für Materiallieferungen an die russische Armee in der Ukraine gemacht, die Koordinaten geteilt und dafür eine Belohnung erhalten, stottert Sotowa in die Kamera. «Ich wurde verhaftet, weil ich einem Vertreter der ukrainischen Armee namens Andrei geholfen habe.» Später widerruft sie die Aussage, spricht von «starkem psychologischem Druck».

Vor ihrer Festnahme ist Sotowa über längere Zeit mit «Andrei» im Austausch; sie chattet auch mit einer Person, die sich als dessen Freundin ausgibt – und später als FSB-Agentin herausstellt. Vor Gericht tritt diese als Zeugin auf. Im Juni 2023 wird Walerija Sotowa wegen «versuchtem Terrorismus» zu sechs Jahren Strafkolonie verurteilt. Ihre Mutter ist überzeugt, die Behörden hätten sie als Strafe für ihre Antikriegshaltung in eine Falle gelockt. Im vergangenen Oktober wird die Mutter dann selbst festgenommen und zu einer Geldbusse verurteilt: Sie hatte «Ehre der Ukraine» an die Wand eines Kiosks gesprüht und einen Strauss gelber und blauer Chrysanthemen mit der Notiz «Vergib uns, Ukraine» niedergelegt.

Sergei Romanow (30, im Bild), Dmitri Resanowitsch (25), Dmitri Dubowski (38), Igar Alinewitsch (41): «Rebellion lebt von der Hoffnung»

Dass das Lukaschenka-Regime gezielt gegen Linke und Anarchist:innen vorgeht, bekommen die vier jungen Männer früh am eigenen Leib zu spüren. Dmitri Resanowitsch wird schon 2014 an der Grenze zwischen Russland und der Ukraine verhaftet und unter anderem für die «Teilnahme an der Maidan-Revolution» zu einer Geldstrafe und der Ausweisung nach Belarus verurteilt. Dmitri Dubowski wird für «direkte Aktionen» verfolgt und hält sich bis zu seiner Festnahme im Jahr 2020 auf der Flucht in Russland und der Ukraine auf. Igar Alinewitsch verbüsst unter anderem für eine Protestaktion nahe dem Generalstab der belarusischen Armee eine achtjährige Haftstrafe, bevor er nach der vorzeitigen Entlassung nach Polen zieht. Über seine Zeit im Gefängnis schreibt er im Buch «Auf dem Weg nach Magadan». Auch Sergei Romanow verbringt mehrere Jahre in Haft.

2020 werden die vier Aktivisten an der Grenze zur Ukraine verhaftet und für Sabotageakte des «Terrorismus» angeklagt. Während des Verhörs sollen sie gefoltert worden sein. Ende Dezember 2021 folgen die drakonischen Urteile von je rund zwanzig Jahren Haft. Auch sie machen vor Gericht von ihrem Recht auf das letzte Wort Gebrauch. «Verzeihen Sie, verehrtes Gericht, doch das ist die Realität: Nach uns werden andere kommen. Und auch diese riesigen Haftstrafen werden die Revolution, die in den Köpfen der Menschen schon stattgefunden hat, nicht aufhalten können», sagt Resanowitsch. «Die Rebellion lebt von der Hoffnung. Meine Hoffnung als Anarchist ist, dass sich in diesem sozialen Krieg der Wille zur Freiheit als stärker erweisen wird als die Ketten der Sklaverei», erklärt Alinewitsch. In Belarus wird der Fall der vier Anarchisten auch als «Partisanenfall» bezeichnet.