Klassenfragen: Von der subversiven Kraft der Tussi
Luxus für alle: Jovana Reisinger macht sich stark für mehr Glamour von unten. Ihr neues Buch ist ein Manifest für das Herumlungern und das Schlemmen.

Die Schriftstellerin und Filmemacherin Jovana Reisinger steht auf dem roten Teppich eines Filmfestivals, wo sich die sogenannte Kulturelite drängt. Es wird genetzwerkt, Zugehörigkeit performt, Kapital zur Schau gestellt, Raum eingenommen. Sehen und gesehen werden. Dazu reicht man vegane Currywurst, als Bruch mit dem bourgeoisen Gehabe und als Bewusstseinsmarker. Zwischen Echtschmuck und Manschettenknöpfen steht die Autorin in Pink, Strass und High Heels, sie liebt den Style von Paris Hilton und anderen It-Girls der nuller Jahre. Auf dem Weg zur Toilette ruft eine andere Frau unüberhörbar in Reisingers Richtung: «Was macht eigentlich die Prostituierte auf dem roten Teppich?» An Slutshaming ist die Schriftstellerin zwar gewöhnt, aber dies ist eher ein Platzverweis. Aus der Welt der Reichen und Schönen. Die Frau möchte ihr sagen: Du, das Arbeiter:innenkind, gehörst hier nicht hin. Erst fühlt sie sich entlarvt, dann herausgefordert.
Daraus entstanden ist Jovana Reisingers viertes Buch: «Pleasure» ist ein Manifest für Genussfähigkeit, für das Herumlungern und das Schlemmen, für das Vergnügliche als Haltung und «lebensbejahende Praxis», weil das gute Leben doch eigentlich allen zustehe. Ein Manifest auch für die Störung und die Aneignung von Codes, die angeblich anderen vorbehalten sind, und von Begriffen, die eigentlich abwerten sollen – für mehr Glamour «von unten».
Austern im Discounter
Wir folgen der Autorin in ihrem Gedankenstrom quer durch die Kategorien Kleidung, Essen, Schlaf – die laut Reisinger verlässlichsten Marker für Klasse, Mangel und Zugehörigkeit. Wir erfahren, wieso eine gefälschte Designerhandtasche das Konzept Luxus ins Wanken bringt, worin die subversive Kraft der Tussi liegt und wieso ein Herrenhemd am Frauenkörper das ultimative Freiheitssymbol ist. Reisinger geht der eigenen Genussfähigkeit und ihrem sozialen Aufstieg nach, von der Kindheit im Wirtshaus der Eltern in Oberösterreich bis in den sechsten Stock des Kadewe, wo sie Champagner trinkt mit ihrem Crush (und dabei feststellt, dass der noch an seiner Genussfähigkeit arbeiten kann). Wir folgen ihr auch ins Bett (im eigenen liegt sie am liebsten allein, mit dem Lover schläft sie in Hotels), zur Austernauslage im Discounter an Weihnachten («Luxus für alle!»), zu Events und ins Restaurant, wo sie Hengameh Yaghoobifarah eine Fake-Prada-Tasche abkauft.
Dabei sprengt Reisinger nicht nur immer wieder Fashionregeln, sondern auch die eine oder andere Genregrenze: «Pleasure» ist ein erzählender Essay, der sich zu Beginn so dicht präsentiert, dass man manchmal Mühe hat, zu folgen, der dann immer leichtfüssiger und anekdotischer wird, in einen Plauderton verfällt, um kurz vor Schluss noch mal kurzfristig die Protagonistin zu wechseln. Auch zwischen den Registern wechselt die Autorin dynamisch hin und her, ihre Sprache bewegt sich irgendwo zwischen Fachjargon, Anglizismus und Österreich. Immer wieder webt sie die Stimmen anderer Schreibender in ihren Text hinein, insbesondere die anderer Schriftstellerinnen, und legt damit ihre eigene Recherchereise offen. Sie sagt oft (vielleicht ein bisschen zu oft): «dazu später mehr», aber zur Etikette des Boss Babe gehöre es eben auch, andere warten zu lassen. Und sie hält ihr Versprechen. Auch wenn sich Reisinger stellenweise in Detailbeschreibungen und Aufzählungen verliert, brilliert sie als Erzählerin in ihrer Königsdisziplin: dem Verweben ihrer persönlichen Erfahrungen mit gesellschaftlichen Diskursen.
Herrin der eigenen Geschichte
Man darf hier ungeniert von der Autorin sprechen, wenn man die Erzählerin meint, denn Jovana Reisinger schreibt «ich» – und scheint auch sich zu meinen. Das war schon ihre Strategie im Buch «Enjoy Schatz» (2022), denn Schriftstellerinnen würden ja ohnehin ständig mit ihren Figuren verwechselt, wozu also der Aufwand. So lässt sie auch die Protagonistin in «Pleasure» bis zur vermeintlichen Deckungsgleichheit mit der eigenen Person verschwimmen. Sie spricht von ihrer Kindheit und von ihrer Scheidung, nennt die Freund:innen beim Vornamen und erzählt, was sie zu welchem Anlass trägt – um dann beiläufig einzuwerfen, dass in einem Buch ja durchaus gelogen werden dürfe. «Sie wissen jetzt alles über mich, bloss meine Geschichte kennen Sie noch nicht», schreibt sie und bringt wieder alles ins Wanken, was wir über die Autorin zu wissen glauben. So erreicht sie ihr Ziel, sich dem zu verschreiben, was sie als den «grössten Luxus schlechthin» erachtet, nämlich «die Herrin der eigenen Geschichte» zu sein.
Im Prolog schreibt Jovana Reisinger, sie brauche «exakt 317 Seiten und keine einzige weniger» für die ausführliche Antwort auf die Frage, wieso es dieses Manifest brauche. Es wäre sicherlich auch schmäler gegangen, dennoch ist ein Buch herausgekommen, das schlau ist und unterhaltsam, schön anzusehen und im besten Sinn manchmal ein bisschen «drüber». Wenn das moderne It-Girl, das die Schriftstellerin als Daseinsform anstrebt, «Glamour und Intellekt zusammenführt», wie sie schreibt, dann zeigt sie mit diesem Buch auch gleich, wie das geht.

Jovana Reisinger liest in: Zürich, Theater Neumarkt, So, 15. Dezember 2024, 18 Uhr.