Gymiprüfungen: Klasse im Klassenzimmer
Seit dieser Woche sind sie da, die Resultate der Gymiprüfungen in Zürich, die wie in einigen anderen Kantonen auch den entsprechenden Übertritt regeln. Auf den ersten Blick wirkt das Prozedere fair: Alle schreiben die gleiche Prüfung, sie wird einheitlich korrigiert und benotet. Nicht aber auf den zweiten: Denn die vermeintliche Gleichbehandlung aller Schüler:innen ist alles andere als gerecht.
«Begabungsideologie» nannte der französische Soziologe Pierre Bourdieu die wirkmächtige Erzählung, dass schulischer Erfolg nicht gesellschaftlich vererbt werde, sondern auf individuellen Fähigkeiten basiere. Dabei entscheidet nicht «Begabung» über den Zugang zum Gymnasium, sondern soziale Herkunft.
Zwar schaffen immer wieder auch Kinder aus sogenannt bildungsfernen Familien den Sprung ans Gymnasium, die dann gern als Positivbeispiel für die Durchlässigkeit des Schweizer Bildungssystems ins Feld geführt werden. Doch im Grunde bestätigen sie als Ausnahme nur die Regel: Zahlreiche Studien verweisen darauf, dass die überwiegende Mehrheit der Gymnasiast:innen aus sozioökonomisch gut situierten Familien stammen. Und nur knapp eine:r von zehn Gymischüler:innen spricht zu Hause eine Fremdsprache.
Die soziale Herkunft wirkt sich vielschichtig aus: etwa im Mangel an Zeit, Geld oder fachlicher Unterstützung. Eltern mit weniger Schulbildung können ihre Kinder tendenziell weniger bei den Hausaufgaben und der Prüfungsvorbereitung unterstützen. Sie verfügen oft nicht über das Geld für Vorbereitungskurse.
In Kantonen, in denen es keine Prüfungen gibt, sondern die Schulnoten das Selektionskriterium fürs Gymnasium sind, ist das Problem nicht kleiner: Gemäss Studien werden Arbeiter:innenkinder und Kinder mit Migrationsgeschichte bei gleichen Kompetenzen deutlich strenger bewertet als Kinder aus der Mittelschicht, die Lehrer:innen trauen ihnen – oft mit Blick auf familiäre und ökonomische Verhältnisse – weniger zu.
Dazu kommt eine mögliche Zurückhaltung der Eltern. Laut einer Erhebung der Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm würden Eltern aus einfachen sozialen Verhältnissen ihr Kind teilweise vor einem gymnasialen Bildungsweg bewahren wollen, weil sie befürchten, es könnte sich emotional, intellektuell und strategisch von ihnen entfernen. Dieses Verhalten läuft deckungsgleich zu dem, was Bourdieu «Wahl des Schicksals» nannte: Schüler:innen tendieren dazu, nach der Volksschule den Bildungsweg zu wählen, der ihnen aufgrund ihrer sozialen Herkunft zugesprochen wird – von der Gesellschaft, den Lehrer:innen, den Eltern, sich selbst.
Immerhin bieten die meisten Volksschulen heute eine kostenlose Gymivorbereitung an. Ausserschulische Vereine und Programme wie «ChagALL», das sich gezielt an migrantische Jugendliche richtet, begleiten Schüler:innen, die von ihren Eltern nur begrenzt unterstützt werden können, bei der Prüfung und dem Eintritt ins Gymnasium.
Damit werden zwar die Chancen für Schüler:innen mit Migrationsgeschichte und solche aus Arbeiter:innenfamilien erhöht, das Gymnasium besuchen zu können. Doch das Grundübel ist damit nicht behoben: Die Schule ist ein Abbild der Klassengesellschaft – sie reproduziert, legitimiert und stabilisiert diese. Jugendliche, die von Haus aus über wenig ökonomisches und kulturelles Kapital verfügen, absolvieren eher eine Lehre. Viele Lehrabgänger:innen verdienen deutlich weniger als jene Gymnasiast:innen, die auch einen Universitätsabschluss erwerben – ein Lohnunterschied, der wiederum mit der tieferen Ausbildung gerechtfertigt wird.
Der Übertritt ins Gymnasium bedeutet demnach nicht nur eine Überführung von einem Klassenzimmer ins nächste, sondern auch von einer sozialen Klasse in dieselbe soziale Klasse. Damit zementiert gerade die Selektion fürs Gymnasium die sozialen Unterschiede, zu deren Bekämpfung die Schule beitragen könnte.
Kommentare
Kommentar von Igarulo
Do., 21.03.2024 - 10:14
Die Prägungen des Elternhauses sind meist stärker als die Wirkmächte der Schule. Das auszugleichen würde Kosten verursachen, die die bürgerlichen Politiker nicht bereit sind auszugeben. Ein weiterer Schlüssel zum Ausgleich wären die Lehrerinnen. Die sind aber, im Verhältnis zu dem, was sie für die Gesellschaft leisten, ziemlich unterbezahlt, weshalb sie keine Lust haben sich dem Problem, das eigentlich ein politisches ist, zu widmen. Ergo wird sich nichts ändern trotz dem Bemühen von Margrit Stamm.