Ein Traum der Welt: Künftige Citizens

Nr. 34 –

Annette Hug hört eine radikale Stimme aus New York

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Trump soll mir das Englische nicht verleiden. Als Antidot wirken Verfremdungen, zum Beispiel Bernard Cerquiglinis Buch «La langue anglaise n’existe pas» (Es gibt keine englische Sprache). Der französische Linguist versteht modernes Englisch als Museum eines dialektalen Altfranzösisch, das normannische Eroberer im 11. Jahrhundert über den Ärmelkanal exportiert haben. Gleichzeitig ist es die schnelle, bewegliche Sprache, in der sich globale Gegenwart artikuliert. Man nehme das alte fränkische Wort «stopfon», das verdächtig an deutsches «stopfen» erinnert und auch tatsächlich «ausfüllen mit irgendwas» bedeutet, sich in ein französisches «estoffe» verschleift, was im 16. Jahrhundert die Bedeutung «Textil, Gewebe» annimmt. Übers Niederländische schlage sich diese Engführung im deutschen «Stoff» nieder, steht in Grimms Wörterbuch. Nur im Englischen «stuff» bleibt, um zwei «e» gekürzt, die alte Bedeutung von «estoffe» erhalten: «irgendein Zeug».

Unverzichtbar ist gerade in trumpscher Zeit das englische Wort «citizen», denn anders als «Bürger:in» hat es kein «Bürgertum» im Schlepptau. Besonders deutlich wird das in einem Brief, den Heinrich Blücher am 29. Juli 1948 aus New York an seine Frau, die Philosophin Hannah Arendt, schrieb. Da stellt er einen unerwarteten «brainstorm» dar: «Ich hatte mich von meiner Arbeit brüsk abgewendet in einem Augenblick, wo ich wohl kurz vor einem Durchbruch stand, so brach denn die Arbeit einfach durch mich durch und warf mich über den Haufen.» In einer grossen Schau überblickte er die Geschichte der Philosophie und sah das Philosophieren als Grundtätigkeit jedes «citizen». Obwohl er den Brief deutsch schrieb, wählte er das englische Wort.

Blücher war 1899 in einer Berliner Arbeiter:innenfamilie zur Welt gekommen, brach später ein Lehrerseminar ab, schloss sich am Ende des Ersten Weltkriegs dem Spartakusbund und der Kommunistischen Partei an. An der Berliner Universität besuchte er Abendveranstaltungen. Auf der Flucht vor den Nazis lernte er in Paris Hannah Arendt kennen. Sie heirateten und retteten sich 1941 in die USA. Dort wurde der Autodidakt zum gefragten Dozenten. Das Bard College in Annandale-on-Hudson beschäftigte ihn von 1952 bis 1969 als Professor. Er entwickelte seine Gedanken im Gespräch und im Vortrag, publizierte aber nichts.

1948 war Blücher noch nicht amerikanischer Staatsbürger, sondern Antragsteller. Ausgerechnet dieser Status gab ihm einen Begriff ein, um die Ablehnung jeder Systematisierung einer Philosophie zu bezeichnen. Sein Denken hin zu «zwischenmenschlichen Beziehungen, die schliesslich die ganze Menschheit umfassen», sollte offen bleiben: «Kant war ein Diener, Nietzsche ein Herr, Marx ein Despot und Kierkegaard ein Sklave. Und ich bin ein ‹prospective citizen›.»

Vielleicht gäbe eine deutsche Übersetzung dieser Selbstbezeichnung etwas her für eine demokratische, Lernen und kritisches Denken schätzende Lebensweise. So könnte man das zuschanden gerittene «bildungsbürgerlich» ersetzen. Der neue Begriff würde von der Erfahrung des welt- und bildungshungrigen Arbeiter:innenkinds ausgehen. Wichtiger Bestandteil wäre das «prospective» – denn nicht nur die Einbürgerung ist ungewiss, auch die Republik, in der man voll dazugehören möchte, ist noch nicht geschaffen.

Annette Hug ist Autorin in Zürich. Das «Heinrich Blücher Project» der Universität Leipzig macht Originalaufnahmen und Transkripte eines Kurses von Heinrich Blücher an der New School of Social Research in New York online zugänglich. Sein Briefwechsel mit Hannah Arendt ist im Piper-Verlag greifbar.