«Anecken, aber nicht unsolidarisch» Hengameh Yaghoobifarah über popkulturelle Prägungen und queeren Pessimismus.

WOZ: Hengameh Yaghoobifarah, gerade ist Ihr Kolumnenband «Habibitus» erschienen. Was macht für Sie eine gute Kolumne aus?
Hengameh Yaghoobifarah: Ich finde eine Kolumne dann gut, wenn sie es schafft, ein Thema über das Eigentliche hinaus zu besprechen – ob es jetzt um Politik geht oder um Mode. Es ist nice, wenn etwas Abstraktes auf ein greifbares Level gebracht wird und etwas Greifbares auf ein abstraktes. Und es braucht eine Pointe. Aber Kolumnen können so unterschiedlich sein. Sie sind ja auch nicht immer lustig – wobei eine gute Kolumne im besten Fall schon lustig ist.
Rechter Terror, Antisemitismus, Körperpolitiken und die Verwerfungen des Kapitalismus: In Ihren Kolumnen haben Sie ständig über Themen geschrieben, bei denen es absolut nichts zu lachen gibt. Wie behalten Sie da den Humor?
Für viele ist Humor eine Strategie, mit traumatischen oder sehr belastenden Themen umzugehen. Leute, die eine bestimmte Form von Unterdrückung oder Ausbeutung teilen, entwickeln ja auch oft einen eigenen Humor: Es gibt jüdischen Humor, Schwarzen, queeren und trans Humor. Und das hat ja einen Grund. Es geht nicht um Insiderjokes, sondern darum, dass gemeinsames Lachen Erleichterung verschaffen kann. Ich selber konsumiere gerne lustige Memes und Tweets, Humor ist für mich von Politik nicht zu trennen. Ich fände es schwer auszuhalten, ein Buch über politische Themen zu lesen, in dem kein bisschen Humor enthalten ist.

Was ist das Beste am Format Kolumne?
Das Gute daran ist, dass es dich lehrt, die eigenen Gedanken auf den Punkt zu bringen. Nicht drumherum zu reden oder zu versuchen, Tausende Leute abzuholen. Ein grosser Vorteil von Kolumnen liegt auch in ihrer Kürze. Du musst dir halt überlegen, was du erzählen willst und was nicht, zu jedem Thema gibt es schliesslich 20 000 Sachen zu sagen. Aber manchmal braucht es diese 20 000 Sachen nicht, sondern besser eine einzige Betrachtungsweise. Gleichzeitig ist die Kürze natürlich auch ein Nachteil, vor allem bei Themen, die mehr Differenzierung brauchen.
Wenn Sie sagen, man könne nicht Tausende Leute abholen: Haben Sie beim Schreiben ein bestimmtes Publikum im Kopf?
Die Personen, die sich angesprochen fühlen, variieren von Kolumne zu Kolumne, das hängt auch vom Thema ab. Manchmal habe ich mich mit szeneninterner Kritik beschäftigt, dann wieder mit Lifestyle oder Popkultur. Ich musste mich aber auch immer wieder daran erinnern, dass die typische Klientel der «taz» nicht auf Twitter oder in den queeren Szenen Berlins unterwegs ist. Wie nimmt man die mit, ohne den Inhalt des Textes auf reine Erklärarbeit zu reduzieren? Denn in erster Linie schreibe ich Texte, die meine eigenen Peers interessieren, also andere queere, rassifizierte und linke Personen. Mir war es nie ein Anliegen, Leute zu überzeugen oder dass sich Rechte und Konservative abgeholt fühlen. Ich rede auch sonst nicht so viel mit ihnen, also warum soll ich einen Text für sie schreiben? Ich will ja nicht mein Anliegen in die Gesellschaft tragen, sondern einen Diskurs ergänzen oder in einen Dominanzraum hineinreden.
Warum ist Ihnen das Schreiben für die eigenen Peers so wichtig?
Ich will Texte schreiben, die mich auch selbst interessieren. Zudem braucht es viel mehr queere, feministische, linke, antirassistische und antisemitismuskritische Diskursräume. Bei gesellschaftlichen Debatten hast du oft entweder konservative Meinungen oder etwas liberalere – und beide Ansätze sind langweilig, verkürzt und bürgerlich. Bevor ich mit meiner Kolumne anfing, habe ich jahrelang auf queerfeministischen Blogs publiziert. Da war klar, dass meine Texte innerhalb einer politischen Szene spielen. Bei der «taz» war das anders: Die Texte haben dort nicht mehr nur Queerfeminist:innen gelesen oder Leute, die mit Twitter-Debatten etwas anfangen können. Und trotzdem bin ich ja immer noch die gleiche Person, die sich nicht plötzlich mit anderen Themen befasst oder platten Debatten wie «Vegetarismus: Ja oder Nein». Und auch Linke verdienen es, innerhalb der eigenen Bubble streiten zu können.
In Ihren Kolumnen haben Sie auch immer wieder die eigene Peergroup kritisiert und die internen Machtstrukturen angeprangert. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?
Mir war immer wichtig, dass es nicht antilinks daherkommt. Ich würde nie für eine konservative Zeitung wie die «FAZ» innerlinke Debatten austragen und Konservativen die Chance geben, schadenfroh linke Konflikte zu beobachten. Wer in der Öffentlichkeit als politisches Subjekt wahrgenommen wird, kann ohnehin leicht zur Projektionsfläche werden: Leute arbeiten sich an dir ab oder ordnen dich einem politischen Lager zu, dem du gar nicht angehörst. Das fand ich am Kolumnenschreiben immer lästig, ich will ja nicht auf ein Podest gestellt werden. Manchmal war es schon sehr uncool, weil es sich nicht um inhaltliche Kritik handelte, sondern in Misogynie, Trans- und Dickenfeindlichkeit oder Rassismus ausartete. Ich bin es aber gewohnt, vor grossem Publikum über linke Texte zu sprechen – und deshalb gewappnet, Gegenwind zu bekommen. Aber ich habe auch oft produktives, kritisches Feedback bekommen, das mich persönlich weitergebracht hat. Wenn ich schreibe, will ich ja auch, dass Leute sagen, sie sehen das anders. Ich glaube nicht an eine homogene Linke, eigentlich an gar keine homogene Gesellschaft.
Manchmal sind linke Positionen aber auch so weit voneinander entfernt, dass jede Annäherung schwierig ist. Das stelle ich gerade in Bezug auf die Diskussion um den Krieg gegen die Ukraine fest. Auch Sie haben immer wieder empfindliche Themen angesprochen, etwa Antisemitismus innerhalb der Linken. Haben sich daraus gute Diskussionen ergeben?
Auf jeden Fall! Wenn ich ehrlich bin, habe ich in Bezug auf das Thema Antisemitismus selbst eine Entwicklung durchgemacht: Leute haben meine Texte kritisiert, weil ich bestimmte strukturell antisemitische Topoi nicht auf dem Schirm hatte. Wenn du zum dritten Mal hörst, dein Text sei antisemitisch, obwohl dort gar nichts über Jüd:innen steht, fängst du an, dich damit zu befassen, und lässt es dann auch Teil deiner politischen Praxis werden. Klar wäre es cooler, diese Kritik zu formulieren, ohne in Mobbingdynamiken zu verfallen, aber ich finde es auch albern, sich als Opfer zu inszenieren, weil man auf Social Media ruppiger angegangen wird. Ich bin ja auch nicht als Theorienerd geboren, das Lernen gehört zu einer linken Praxis dazu. Ich liebe zum Beispiel Lesekreise: eine viel geilere Art von Wissenstransfer als so ein «Wenn du was nicht weisst, setz dich allein zu Hause hin und google es halt».
Wenn ich mein Umfeld anschaue, stelle ich manchmal fest, dass Leute, die stärker politisch aktiv sind, erschreckend wenig Ahnung von Kultur haben – und umgekehrt. Sie verbinden in Ihrem Schreiben beides. Wie wichtig ist das für Sie?
Mich haben schon immer beide Sachen interessiert. Ich bin als jugendliche Person auf eigene Faust mit linken Themen in Berührung gekommen, habe schon in der Schulzeit angefangen mich zu engagieren – und nicht erst mit Anfang zwanzig, weil ich merkte, ich bin nicht weiss und in meinem Soziologiestudium gibt es etwas zu dem Thema. Ich will das nicht abwerten, aber es macht schon einen krassen Unterschied fürs politische Selbstverständnis, sich als Antifaschist:in zu positionieren, obwohl es dich noch uncooler macht, als du ohnehin schon bist. Als ich anfing zu sagen: «Ich habe ein Problem mit Nazis», habe ich gar nicht gecheckt, dass ich selbst auch Ziel von Nazis bin. Ich dachte, es gehe um Menschen, die viel stärker rassifiziert werden als ich, um obdachlose oder jüdische Menschen. Ich habe mich also nicht aus Eigeninteresse eingesetzt, sondern weil ich darüber nachgedacht habe, in welcher Gesellschaft ich leben möchte.
Und wo kam dann die Kultur ins Spiel?
Ich war schon immer ein krasser Popkulturnerd, habe schon im Kindergartenalter durch meine älteren Cousinen Viva und MTV geschaut, statt Wolfgang Petry zu pumpen. Ich habe viel gelesen, war immer sehr gerne in der Stadtbücherei und sass extrem viel vor dem Fernseher. Politik und Popkultur waren also einfach zwei Leidenschaften, ich habe mich nie gefragt, wie ich das zusammenbringen kann. Deswegen machen mir Diskussionen mit jenen Genoss:innen am meisten Spass, bei denen das ebenfalls so ist. Über Popkultur wurde ich auch politisiert: Das klingt jetzt peinlich, aber mit vierzehn war ich ein Riesenfan der Band Killerpilze. Bei einem ihrer Konzerte haben sie «Kein Bock auf Nazis»-T-Shirts in die Menge geworfen – ich habe keins bekommen, es mir dann aber bestellt. Mit dem T-Shirt wurde eine DVD mit einer Doku über Nazis geliefert, und da ging es auch um Nazis in meiner Region. Das hat mich voll beeinflusst, dagegen wollte ich etwas tun. Man sollte eine Politisierung über Musik, Literatur oder Fernsehen nicht unterschätzen.
Neben Ihren Kolumnen haben Sie auch den Roman «Ministerium der Träume» geschrieben und – zusammen mit der Autorin Fatma Aydemir – die Anthologie «Eure Heimat ist unser Albtraum» herausgegeben. Im Vorwort zu «Habibitus» beschreibt Aydemir Ihr Schreiben als queer. Was bedeutet das für Sie?
Oft wird queeres Schreiben fälschlicherweise auf Sprache reduziert. Natürlich hat es eine gewisse Form, aber es geht auch darum, Formen zu sprengen. Für mich ist es Teil einer Tradition, innerhalb einer vermeintlichen Einigkeit Uneinigkeit zu stiften, sich nicht vor Konflikten zu scheuen und anzuecken, auch innerhalb der Szene, aber das auf eine liebevolle Art und nicht auf eine unsolidarische. Es geht in meinen Texten nicht immer um queere Themen, aber die Perspektive ist immer queer.
Welches Gefühl dominiert, wenn Sie sich an einen Text setzen?
Manchmal ist es Wut oder Frustration, aber auch Hoffnung oder Lust. Ein Zynismus, der viel mit Humor zu tun hat – und manchmal Rache. Wenn ich denke, eine Debatte werde über die Köpfe der Betroffenen hinweg geführt, geht es auch darum zu sagen: «Jetzt spitzen wir die Stifte oder die Fingerspitzen auf der Tastatur und feuern zurück.» Worte sind ja auch Waffen. Ich habe schon das Gefühl, eine Agency zu haben und mich gegen Dinge wehren zu können. Vielleicht dominiert das Wehrhafte deshalb sogar mehr als das Wütende, was ja oft miteinander verwechselt wird. Mir geht es darum, diskursiv eine Grenze zu ziehen und zu sagen: «Wir lassen uns das nicht gefallen.»
Wie andere rassifizierte oder queere Autor:innen werden Sie regelmässig bedroht. Ist das Schreiben für Sie auch Empowerment, eine Art, gegen die eigene Angst und die Angst der Peers anzuschreiben?
Ja, es war oft ermächtigend, aber auch der Versuch, sich aus der Ohnmacht und der Angst rauszuschreiben. Und ehrlich gesagt haben Ereignisse wie die Attentate von Halle oder Hanau mich eher noch mehr in die Ohnmacht getrieben. Du hast das Gefühl, du kannst schreiben, was du willst, aber es wird trotzdem Leute geben, die Waffen haben und an Orte gehen, wo sich vulnerable Menschen aufhalten, und diese dann umbringen. Daran wird sich nichts ändern, auch wenn du 500 weitere Kolumnen schreibst. Ich dachte nicht, dass ich die Welt mit meiner Kolumne verändern kann – aber in solchen Momenten fühlt es sich extrem sinnlos an, wenn du als linke Person Texte schreibst und nicht auf der Strasse bist, um auf einen Ort aufzupassen, der angegriffen wird.
Klar kann man Leuten, die von Terroristen bedroht werden, die Angst nicht durch Texte nehmen, aber immerhin – so ging es mir zumindest beim Lesen – bekommt man ein gutes Gefühl: dass man nicht allein ist mit der Angst.
Natürlich macht es etwas mit mir, wenn mir Leute und vor allem junge queere oder rassifizierte Menschen schreiben, dass meine Texte ihnen Kraft geben. Selbst glaube ich nicht immer an die Kraft meiner Worte. Ich denke immer, ich schreibe meine Meinung auf, und wer will, kann streiten, und wer es fühlt, der fühlt es. Aber Leute zum Weiterkämpfen motiviert zu haben, ist das schönste Lob, das ich bekommen kann. Jede einzelne Nachricht hat mir in Momenten Kraft gegeben, in denen ich selbst nicht weitermachen wollte, weil die Bedrohungen zu krass waren und ich nicht wusste, was hinter den Drohungen an realer Lebensgefahr steckt.
Wie lässt sich mit der Bedrohung überhaupt ein Umgang finden?
Leute reagieren ja immer unterschiedlich. Für mich war mein Supportnetzwerk extrem wichtig, aber auch Therapie oder Gespräche mit Expert:innen sowie der Austausch mit anderen Betroffenen.
Wir sind beide im Deutschland der neunziger Jahre aufgewachsen, in der Zeit der Anschläge von Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda. Auch wenn ich damals noch zu jung war, um zu verstehen, was da passierte, hat mich das rückblickend politisiert. Rechter Terror ist auch ein Thema, über das Sie viel schreiben. Wie stark hat Sie diese Zeit geprägt?
Als Kind hatte ich das so explizit nicht auf dem Schirm, sondern habe eher durch Blicke, Verhaltensweisen oder Gewohnheiten – sowohl die meiner Eltern als auch die von weissen Deutschen – viel Subtext gespürt, den ich später mit dem Wissen über die politische Situation einordnen konnte. Man verdrängt die Anfeindungen aber auch für eine lange Zeit – weil man die Illusion aufrechterhalten will, dass man «genau so ist wie die anderen» und es keinen Grund gibt, anders behandelt zu werden. Das ist ein Schutzmechanismus, der auch mit Scham zu tun hat – sowohl der meiner Eltern als auch der meines jüngeren Ich. Meine Eltern sind schliesslich in der Hoffnung hergekommen, ein friedlicheres Leben zu führen.
Was mir manchmal auffällt: dass in der Generation der Eltern oft auch die Sprache gefehlt hat, die eigenen Rassismuserfahrungen zu beschreiben.
Ich denke schon, dass das mit Vokabular zu tun hat – aber auch mit Gesellschaftsanalyse. Nicht alle, die geflohen sind oder bedroht wurden, sind automatisch links. Vielleicht sehen sie, dass Unrecht passiert – aber um den Zusammenhang herzustellen, braucht es einen bestimmten Werkzeugkasten an linker Analyse. Und dann gibt es auch Migrant:innen, die Rassismus internalisieren und nach unten treten, wenn sie in einer privilegierten Position sind. Ich glaube nicht, dass es eine Generationenfrage ist – auch wenn die Generation, die Deutsch als Muttersprache hat, vielleicht denkt, ihr stünde Anerkennung zu. Es geht aber nicht bloss um Respektpolitiken: Auch in den achtziger und neunziger Jahren gab es migrantische antifaschistische Gruppen mit messerscharfen Gesellschaftsanalysen, von denen sich viele antirassistische oder linke Debatten heute eine grosse Scheibe abschneiden können. Wenn man die Texte der Berliner Antifa Gençlik oder der Frankfurter Gruppe Café Morgenland liest, ist für mich klar, dass es in der Generation meiner Eltern auch stabile linksradikale Leute gab. Das hat sich nicht so easy verbreitet wie heute übers Internet, aber es hat existiert.
Von Hoyerswerda bis Halle oder Hanau ist nicht nur die rechtsextreme Gewalt selbst eine traurige Kontinuität, sondern auch, dass die Aufarbeitung an den Angehörigen und deren Verbündeten hängen bleibt. Ist in den letzten dreissig Jahren dennoch etwas erkämpft worden?
Wenn wir uns anschauen, wie Helmut Kohl und Angela Merkel jeweils den Angehörigen der Opfer von rechter Gewalt gegenübergetreten sind, sieht man auf jeden Fall eine Veränderung. Aber lückenlos aufgeklärt wurden die Verbrechen ja trotzdem nicht, da darf man sich nicht von kosmetischen Sachen blenden lassen. Natürlich ist der gesellschaftliche Umgang etwas besser geworden. Aber wenn du zum Beispiel nach Lübeck gehst, wird die Mehrheit mit dir noch immer nicht gern über den Anschlag auf ein Haus für Asylsuchende in der Hafenstrasse im Jahr 1996 sprechen. Im kollektiven Gedächtnis gibt es nicht die Vorstellung, dass man es heute besser machen möchte. Wenn du Leute in der Fussgängerzone fragst, was sie mit Solingen verbinden, werden die meisten sagen: Besteck. Auch in Hanau beziehungsweise Hessen meinen Politiker:innen, man müsse jetzt mal einen Schlussstrich ziehen.
Es hat sich also nicht viel verändert in der Wahrnehmung solcher Anschläge?
Wenn, dann nur minimal. Auch vor dreissig Jahren gab es im öffentlich-rechtlichen Fernsehen kritische Beiträge zum Thema – die Doku «Von Biedermännern und Brandstiftern» etwa. Und in der 1992 erschienenen Dissertation «BrandSätze» beschrieb der Sprachwissenschaftler Siegfried Jäger, wie Neonazis auf der Strasse ausführen, was Politiker:innen und Bürger:innen der vermeintlichen Mitte bereits in ihrer Rhetorik tun. Drei Tage nachdem 1993 das Asylgesetz verschärft wurde, feierten Neonazis diesen Gewinn in Solingen bei einem Anschlag und ermordeten drei Menschen. Das waren erst die frühen Neunziger. Und trotzdem setzte sich das fort. Was hat sich verändert? Gibt es heute mehr rassifizierte oder marginalisierte Leute in bestimmten Positionen? Ja. Aber das hat nichts daran geändert, dass so etwas wie Hanau passiert. Oder dass die AfD im Bundestag und allen Landtagen sitzt. Wir reden viel darüber, wie queer Berlin sei, dass es so eine linke Stadt ist. Und trotzdem haben wir jetzt eine schwarz-rote Regierung bekommen. Ich habe nicht viel Hoffnung. Aber das bedeutet nicht, dass ich nicht auch Utopien habe.
Bei all der Trostlosigkeit: Was macht Ihnen denn Hoffnung?
Die Jina-Revolution im Iran. Das Regime versucht so brutal, sie niederzuschlagen – und trotzdem ist sie kontinuierlich da. Die Hoffnung, dass dieses faschistische Regime gestürzt wird, Feminist:innen, Frauen und Queers ein besseres Leben haben können, die ethnischen Minderheiten und die Arbeiter:innen – das ist etwas, woran ich mich festhalte.
In einem Ihrer älteren Texte bezeichnen Sie queeren Pessimismus als Motor des Widerstands. Was verstehen Sie darunter?
Wenn wir wollen, dass sich die Dinge kontinuierlich bewegen, dürfen wir nicht zu optimistisch werden, uns auf die Schulter klopfen und sagen, wir hätten schon so viel erreicht. Die Journalistin Manuela Kay sagt ja immer, die Homoehe habe alles zerstört. Man würde antworten: Wie? Man will doch die gleichen Rechte für alle. Aber wenn es um die Abschaffung der Ehe gegangen wäre statt darum, ein paar mehr Leute in diesen exklusiven Club reinzulassen, würde man sich ja vielleicht im bürgerlichen Leben etwas weniger bequem einrichten, sondern mehr auf der Strasse sein und kämpfen. Ich denke schon, dass dieser queere Pessimismus etwas ist, was uns laut hält und nicht zu gemütlich werden lässt – und auch einfach nah an der Welt ist. Wir sind unendlich weit davon entfernt, in einer Welt zu leben, die irgendwie auch nur annähernd für den Grossteil der Menschen lebenswert ist.
Abseits der Dominanzkultur
Es ist eine breite Palette an Themen, mit denen sich Autor:in Hengameh Yaghoobifarah in der «taz»-Kolumne «Habibitus» regelmässig auseinandergesetzt hat: von Rassismus und rechtem Terror über die Eigenschaften von «Durchschnittsalmans» und Fashion bis zu Feminismus und Astrologie. Der gleichnamige Band – der Titel ist eine Wortschöpfung aus dem arabischen Wort «habibi» (Liebling) und dem Habitusbegriff des Soziologen Pierre Bourdieu – bündelt nun die besten Texte aus mehr als sechs Jahren. Und eröffnet Perspektiven abseits der weissen, bürgerlichen Dominanzkultur. Oder wie die Autorin Fatma Aydemir im Vorwort schreibt: «Leben, lieben, lachen trotz Deutschland».
Hengameh Yaghoobifarah (32) studierte Medienkulturwissenschaft und Skandinavistik und lebt als Schriftsteller:in und Journalist:in in Berlin. 2019 ist die Anthologie «Eure Heimat ist unser Albtraum» erschienen, 2021 der Roman «Ministerium der Träume».
Hengameh Yaghoobifarah: «Habibitus». Kolumnen. Verlag Blumenbar. Berlin 2023. 334 Seiten. 35 Franken.
Die Autorin diskutiert und liest an den Solothurner Literaturtagen am Freitag, 19. Mai 2023, um 13 und um 16 Uhr, am Samstag, 20. Mai 2023, um 17 Uhr und am Sonntag, 21. Mai 2023, um 10 Uhr.