Krieg in Gaza: Die Verantwortung der Aussenstehenden
In einem aktuellen Bericht wirft Amnesty International Israel vor, gegen die Uno-Völkermordkonvention zu verstossen. Mit dieser Frage befasst sich derzeit auch die internationale Justiz.
«Eigentlich», sagt Janina Dill, Professorin für Globale Sicherheit an der Universität Oxford, «wissen wir, was in Gaza passiert. Wir wissen, wie sich die israelische Armee dort verhält, dass die Kriegsführung mit dem Völkerrecht nicht konform ist.» Nur handelten bisher die Drittstaaten, vor allem jene, die Israel unterstützten, nicht danach.
Warum nicht?
Da sind etwa die grossflächigen Luftangriffe. Die über 43 000 Toten, die mehr als 100 000 Verletzten. Die 1,9 Millionen Vertriebenen, neunzig Prozent der Gesamtbevölkerung. In Nordgaza herrscht die allerhöchste Alarmstufe für Hungersnot – auf der Skala dunkelrot. Die blockierte humanitäre Hilfe. Die Krankheiten, die sich rasant verbreiten, die Polioepidemie. Die Spitäler und Schulen, die Museen und Moscheen, die in Trümmern liegen. Warum also nicht? Es ist wohl diese Frage, die zwei internationale Menschenrechtsorganisationen derzeit Alarm schlagen lässt.
«Hinreichende Belege»
Bereits Mitte November veröffentlichte Human Rights Watch (HRW) einen Bericht, in dem die Organisation die israelischen Behörden für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Gazastreifen verantwortlich macht. Bei den «Evakuierungsanordnungen» handle es sich um «systematische und massenhafte Zwangsvertreibungen», schreibt HRW. «Solche Handlungen kommen einer ethnischen Säuberung gleich.»
Nun doppelt Amnesty International (AI) nach. Am Erscheinungstag dieser WOZ publiziert AI einen detaillierten Bericht zu den Menschenrechtsverletzungen der israelischen Streitkräfte von Oktober 2023 bis Juli 2024. Darin kommt die Organisation zum Schluss: Es gibt hinreichende Belege dafür, dass Israel in Gaza gegen die Uno-Völkermordkonvention verstösst.
Für die Dokumentation befragte AI über 200 Personen, machte Untersuchungen vor Ort und analysierte digitales Beweismaterial wie Satellitenaufnahmen oder Videos in den sozialen Medien. Zudem zog die NGO Berichte und Daten der Uno und weiterer Organisationen heran. Fünfzehn israelische Luftangriffe hat AI im Detail rekonstruiert. Bei diesen habe sich die Behauptung der israelischen Armee, die Hamas und andere bewaffnete Gruppen würden Zivilist:innen als «menschliche Schutzschilde» benutzen, nicht erhärten lassen, hält der Bericht fest. Er stuft das Argument in diesen Fällen als «nicht glaubwürdig» ein.
Die Menschenrechtsorganisation hat zudem 102 Aussagen von hochrangigen Mitgliedern der israelischen Regierung und des Militärs analysiert – und deren Auswirkungen auf das Kriegsgeschehen. Die «entmenschlichende, rassistische und abwertende Rhetorik» habe sich teils direkt in den 62 untersuchten Videos wiederfinden lassen, in denen Soldat:innen etwa dazu aufriefen, Gaza «abzubrennen» oder «auszulöschen».
Der Bericht sei eine forensische Dokumentation, sagt Beat Gerber von Amnesty Schweiz. «Durch das Gesamtbild des Militäreinsatzes, die Handlungsmuster der israelischen Armee und die expliziten Aufrufe zur Zerstörung und Gewalt an der palästinensischen Bevölkerung, die wiederum direkte Folgen im Krieg hatten, sehen wir eine genozidale Absicht als gegeben.»
AI plant einen weiteren Bericht zu den Kriegsverbrechen der Hamas und anderer bewaffneter palästinensischer Gruppen am 7. Oktober 2023 an der Zivilbevölkerung im Süden Israels. Wann dieser publiziert wird, ist noch unklar. Human Rights Watch veröffentlichte im Juli den Bericht «I Can’t Erase All the Blood from My Mind» (Ich bekomme das ganze Blut nicht aus dem Kopf). Darin dokumentiert die NGO schwere Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht durch bewaffnete palästinensische Gruppen am 7. Oktober 2023.
Im Kleinen verhandeln die beiden Organisationen jene grossen juristischen Fragen, mit denen sich zurzeit die internationale Justiz beschäftigt: Vor knapp einem Jahr klagte Südafrika beim Internationalen Gerichtshof (IGH) Israel wegen Völkermord im Gazastreifen an. Der Internationale Strafgerichtshof (ICC) ermittelt derweil seit Monaten wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Vor zwei Wochen erliessen die Richter:innen Haftbefehle gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und Exverteidigungsminister Joav Gallant – unter anderem wegen des Einsatzes von Hunger als Kriegswaffe. Israel hat Rekurs eingelegt. Gegen Mohammed Deif, den aller Wahrscheinlichkeit nach getöteten Chef des militärischen Flügels der Hamas, stellte der ICC ebenfalls einen Haftbefehl aus. Auch ihm werden Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen.
«Im öffentlichen Diskurs wird oft eine Hierarchie zwischen Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen hergestellt», sagt Professorin Janina Dill, «wobei Völkermord das Schlimmste ist.» Rechtlich existiere eine solche Hierarchie nicht: «Es geht zum Teil um die gleichen Taten.» Der zentrale Unterschied: Bei der komplexen Definition von Völkermord ist entscheidend, inwiefern die Absicht für das Verbrechen darin liegt, eine spezifische Gruppe «als solche ganz oder teilweise zu zerstören». Die Hürde, um eine genozidale Absicht nachzuweisen, sei sehr hoch, sagt Dill. «Vor allem, während das Verbrechen passiert.» Gerichte müssten die Frage nach der Absicht sorgfältig prüfen.
Dies heisst aber nicht, dass Drittstaaten nicht dennoch aktiv werden können – oder müssen. Vor 24 Jahren hat die Schweiz die Völkermordkonvention ratifiziert und sich – zusammen mit 152 weiteren Ländern – verpflichtet, Genozide präventiv zu verhindern, wenn ein Risiko dafür besteht. Mit Blick auf Gaza sagt Janina Dill: «Dieses Risiko besteht ganz eindeutig.» Und sie fügt an: «Wenn man darauf wartet, bis die Gerichte einen Völkermord festgestellt haben, wird die Präventionspflicht hinfällig.» Die Professorin rechnet damit, dass ein abschliessendes Urteil zum Krieg in Gaza erst in mehreren Jahren gefällt wird.
Spielräume nutzen
Auch Evelyne Schmid, Professorin für Völkerrecht an der Universität Lausanne, sagt, es stelle sich aktuell die Frage nach der «bystander responsibility» – nach der Verantwortung der Aussenstehenden –, auch für die Schweiz. «Wenn man die eigene, zumindest provisorische, rechtliche Analyse aufschiebt», so Schmid, «wird dies der Funktion des Völkerrechts während laufender Konflikte nicht gerecht.»
Noch sitzt die Schweiz bis Ende Jahr im Uno-Sicherheitsrat und könnte sich dort für ein Waffenembargo starkmachen. Amnesty International fordert zudem: Die Schweiz solle sich «klar und unmissverständlich» bereit erklären, die Haftbefehle des ICC umzusetzen sowie sicherstellen, dass keine militärischen oder Dual-Use-Güter an Israel oder die Hamas geliefert würden.
Auch mit der russischen Invasion in der Ukraine befassen sich der Internationale Gerichtshof im Zusammenhang mit der Genozidkonvention und der Internationale Strafgerichtshof wegen Kriegsverbrechen. Gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin gibt es ebenfalls einen Haftbefehl. 2022 hat die Schweizer Bundesanwaltschaft eine Taskforce eingerichtet, um Beweise für Völkerrechtsverbrechen in der Ukraine zu sammeln.
Eine ähnliche Möglichkeit könnte es auch für den Krieg in Gaza und darüber hinaus geben, sagt Evelyne Schmid. «Die Schweiz und alle Drittstaaten sind gefordert, ihre Spielräume zu nutzen und sich für das Wohl der Zivilbevölkerung auf allen Seiten des Konflikts wirksam einzusetzen.»