Migrationspolitik: Die Geflüchteten der anderen
Kaum ein Land leistet so viel bei der Versorgung Geflüchteter wie der Tschad. Unterwegs mit der deutschen Entwicklungsministerin, die will, dass das so bleibt – und damit auch einen Impuls für die EU setzt.

Lachen. Eine Dreiviertelstunde lang drang kein Ton durch die schwere, mit Intarsien verzierte Holztür, dann dieses Lachen. Ein paar Sekunden später fliegt die Tür auf. Noch sichtlich erheitert kommt die deutsche Entwicklungsministerin Svenja Schulze heraus, gefolgt von Abderaman Koulamallah, dem Aussenminister des Tschad.
«Wir hatten einen sehr guten Austausch», sagt Schulze. «Ich habe meine Anerkennung dafür ausgesprochen, wie der Tschad es schafft, mit so vielen Flüchtlingen umzugehen.» Die Politikerin schwärmt – von «offenen Türen», dem «Zugang» zum Gesundheitssystem, von der Hilfe für Geflüchtete, damit sie selbstständig im Tschad leben können. «Gerne unterstützen wir das», sagt Schulze. «Ich habe für dieses Jahr 57 Millionen Euro zusätzlich zugesagt.»
Lachen. Schon wieder. Dieses Mal ist es die Reaktion auf die Frage, was Aussenminister Koulamallah denn von der europäischen Migrationspolitik halte. «Europa hat seine Politik», sagt er. «Wir haben unsere.» Er wolle, dass Geflüchtete nicht als Last gesehen würden, sondern als wirtschaftliche Chance. Und für den Tschad seien sie das auch. Das Land habe mit seinen 1,2 Millionen Quadratkilometern Fläche und nur sechzehn Millionen Einwohner:innen genug Platz, um Menschen aufzunehmen.
Schwindender Einfluss
Es ist Mitte November, in N’Djamena, der Hauptstadt des Tschad, herrscht zwischen der Ministerin eines der reichsten Staaten und ihrem Kollegen aus einem der ärmsten scheinbar Harmonie. Der Tschad versorgt Geflüchtete, und Europa unterstützt ihn mit Geld dabei – niemand muss sich auf den gefährlichen Weg übers Mittelmeer begeben. Win-win. Oder?
Schulze leitet bei ihrem Besuch im Tschad eine Wiederannäherung ein – nicht nur Deutschlands, sie setzt auch einen Impuls für andere Staaten. Schulze ist Präsidentin der «Sahelallianz». Deutschland, Frankreich und die EU riefen diese Initiative 2017 ins Leben, um die Länder der Sahelzone zu unterstützen, einer Region, die entscheidend ist, wenn es um Migration aus Subsahara-Afrika geht. «Wir werden die Entwicklungszusammenarbeit, also die langfristige Zusammenarbeit, ausbauen», sagt Schulze über ihr Engagement im Tschad.
Die Wiederannäherung kommt im richtigen Moment. Europa hat in der Sahelzone in den vergangenen Jahren an Einfluss verloren. 2020 putschten Militärs in Mali, 2022 in Burkina Faso, 2023 im Niger, der besonders zentral für Fluchtbewegungen ist. Die Junta dort kündigte ein Migrationsabkommen mit der EU auf. Und als wäre diese Entwicklung nicht dramatisch genug, bauten die drei Putschstaaten auch noch ihre Partnerschaft mit Russland aus. Schnell stellte sich die Frage: Auf wen kann die EU in diesem Teil Afrikas noch setzen?
Der Tschad wurde drei Jahrzehnte lang vom ehemaligen Kampfpiloten Idriss Déby regiert. Es war eine brutale Regentschaft. Bis vor kurzem hatte Deutschland hier nicht einmal mehr einen Botschafter, denn der hatte sich allzu kritisch geäussert und wurde des Landes verwiesen. Doch 2021 starb Déby. Und nur ein paar Monate vor Schulzes Besuch kam es im Land zu Präsidentschaftswahlen.
«Wir sehen, dass der Tschad sich hier auf einen Weg gemacht hat, einen Transitionspfad», sagt Schulze. «Die Präsidentschaftswahlen sind gelaufen, jetzt stehen die Parlamentswahlen an, die eben auch frei, transparent, inklusiv sein sollen.» Transition? Freie Wahlen? Entsteht da ein neuer Partner für Europa im Sahel? Vielleicht gar ein Staat, der, wie einst der Niger, dabei helfen kann, Migration zu lenken?
In wessen Interesse?
Der Ort Adré im Osten des Tschad hatte einst 40 000 Einwohner:innen; mittlerweile sind es 240 000. Adré ist eines der grössten Geflüchtetenlager der Welt. Zwei Tage nach ihrem Treffen mit dem Aussenminister sitzt Schulze am Rand der improvisierten Zeltstadt auf einem Teppich. Vor ihr hockt eine Frau in einem dunkelbraunen, gemusterten Gewand. Ihr Körper ist in sich zusammengesunken. Halina Abdela Omar stammt aus dem Nachbarland Sudan – wie die meisten der Geflüchteten hier. «Sie haben meinen Bruder vor meinen Augen ermordet», sagt sie. Mit «sie» meint Omar die Paramilitärs der Rapid Support Forces (RSF), die sich seit eineinhalb Jahren einen Machtkampf mit der sudanesischen Armee liefern.
Bewaffnete Reiter der RSF, die sich vor allem aus Arabern zusammensetzen, zogen auch durch Omars Gemeinde Ardamata. «Sie töten nur Schwarze», sagt die 32-Jährige. Dabei faltet sie ihre Hände, so als würde sie in diesem Moment versuchen, sich selbst Halt zu geben. Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch werfen den RSF «ethnische Säuberungen» vor. Die Miliz setzt auch Hunger als Waffe ein. Im Sudan ist die vielleicht grösste humanitäre Krise dieser Tage ausgebrochen.
Es gibt elf Millionen Binnenvertriebene. Rund drei Millionen Menschen haben den Sudan verlassen, eine Rückkehr ist nicht absehbar. Der Tschad entwickelt sich für viele von ihnen zu einem neuen Zuhause. Allerdings rechnen Migrationsexpert:innen damit, dass sich das ändern könnte, wenn die wachsende Zahl an Sudanes:innen dort keine Perspektiven mehr hat. Und mit Perspektiven ist es im Tschad so eine Sache. Das Land hat selbst kaum genug, um die eigene Bevölkerung zu versorgen. Das Bruttoinlandprodukt lag 2023 bei umgerechnet 12,1 Milliarden Franken. Ein Drittel der Menschen leben in extremer Armut.
Die Gründe dafür, dass das Land trotzdem hilft, sind vielschichtig: Die Grenze zwischen dem Tschad und dem Sudan wurde einst von den Kolonialmächten gezogen. Viele Familien wohnen beidseits der Grenze. Hinzu kommt, dass die Regierung des Tschad in den Menschen aus dem Sudan potenzielle Fachkräfte sieht. Im Tschad kann nur jede:r Dritte lesen und schreiben, im Sudan können es die meisten. Auch Halina Abdela Omar gehört dazu: «Ich würde gern studieren und Lehrerin werden», sagt sie.
Schulze sitzt auf der Rückbank eines weissen Jeeps. Das Fahrzeug ruckelt über eine unbefestigte Piste zwischen Adré und dem nächsten Flughafen. «Wir gucken, wie die Menschen wieder in die Lage versetzt werden können, sich selber zu helfen», sagt die Politikerin. Sie spricht über die «Haguina-Initiative», die im Mittelpunkt ihres Besuchs steht. Dabei verpachtet die Regierung des Tschad 100 000 Hektaren Land für bis zu fünfzehn Jahre kostenlos an Geflüchtete aus dem Sudan und an Teile der eigenen Bevölkerung, jeweils eine Hektare pro Familie. Es handelt sich überwiegend um unfruchtbares Land, das aber entwickelt werden kann. Dabei werden die Sudanesinnen und Tschader auch mit Geld aus Deutschland unterstützt. So können sich die Menschen selbst eine Perspektive schaffen.
Der Jeep kracht durch eines der unzähligen Schlaglöcher, lässt Schulze von links nach rechts schaukeln. Auf die Frage, ob es Priorität für sie habe, dass die Menschen im Tschad bleiben, statt nach Europa aufzubrechen, antwortet sie: «Das ist erst mal im Interesse der Flüchtlinge. Sie wollen hierbleiben.» Schulze fügt hinzu: «Natürlich haben wir in Deutschland auch was davon.»
Dass die Präsidentin der Sahelallianz mit zusätzlichen Millionen Euro kommt, ist ein Signal – auch an andere EU-Staaten. Denn eigentlich stehen alle Zeichen auf mehr Sparsamkeit in der Entwicklungszusammenarbeit. Die extrem rechten Regierungen in Schweden und Finnland wollen gar Mittel abziehen und für die Ausschaffung Geflüchteter verwenden. Vor diesem Hintergrund wirkt die vertiefte Partnerschaft mit dem Tschad geradezu schillernd. Auf den ersten Blick zumindest.
Chancen nur für die Eliten
Am Ende einer schmalen Seitenstrasse in N’Djamena. Dicke Mauern, ein karger Innenhof, ein mehrstöckiges Haus. Im Erdgeschoss sitzt ein Mann, der Zweifel daran sät, ob seine Regierung die richtige Partnerin für Europa sein kann. Den Transitionspfad, den der Tschad laut Ministerin Schulze beschritten hat, kennt er nur zu gut. Der Mann trägt Dreitagebart, ein schwarzes Langarmshirt, eine weisse Hose. Dazu einen braunen Lederslipper am linken Fuss. Sein rechtes Bein fehlt.
Victor Zolossou kam 1999 zur Welt. Er war gut in der Schule, wollte Psychologe werden, doch ihm fehlte das Geld für die Ausbildung. Also fing er an, als Coiffeur zu arbeiten. Zolossou wuchs unter der Herrschaft Idriss Débys auf, jenes Despoten, der 31 Jahre lang an der Macht war. Ein Regime, in dem nur die Eliten Chancen haben: So hat Zolossou es gesehen. Als Déby 2021 starb, keimte in ihm Hoffnung auf.
Vergeblich: Nach dem Tod des Autokraten bestimmte das Militär einen neuen Präsidenten: Mahamat Déby, einen Sohn des alten Herrschers. Déby junior kündigte an, in eineinhalb Jahren zurückzutreten und die Macht an eine zivile Regierung zu übergeben. Als diese Frist am 20. Oktober 2022 verstrichen war, ging Zolossou mit Tausenden anderen Tschader:innen auf die Strasse, um zu protestieren. «Wir waren im 9. Arrondissement, als wir auf schwer bewaffnete Sicherheitskräfte trafen», berichtet Zolossou. «Sie haben einfach in die Menge geschossen.» Zolossou deutet mit dem Finger erst auf die Aussenseite seines Beines, dann auf die Innenseite. Er will zeigen, was mit seinem Bein passiert ist: «Die Kugel ist durchgeschlagen.» Zolossou verlor das Bewusstsein. Als er aufwachte, lag er im Spital. «Da konnte ich mein Bein schon nicht mehr bewegen.»
Als ein Arzt kam, um es zu amputieren, lehnte sich Zolossou dagegen auf. Der junge Mann, der es liebte, Fussball zu spielen, protestierte, bis der Arzt ihm erklärte, dass er sonst sterben würde. Er trennte ihm das Bein knapp unterhalb des Knies ab. Doch das reichte nicht. «Beim zweiten Mal hatte ich gar nicht mehr die Kraft, zu widersprechen.» Dieses Mal wurde direkt unter der Hüfte amputiert. Seither ist Zolossou ein Pflegefall, kann seine Frau und seine Kinder nicht mehr versorgen.
Worte wie Hohn
Laut der Opposition im Tschad gab es an jenem 20. Oktober vor zwei Jahren nicht nur Verletzte wie Zolossou. 300 Menschen wurden getötet. Im Schari, der durch N’Djamena fliesst, trieben Leichen. Weitere 600 Menschen landeten im Wüstengefängnis Koro Toro im Norden. Menschen, die auf dem Weg dorthin starben, wurden von den Lastwagen geworfen. Déby junior setzte die eiserne Herrschaft seines Vaters fort. Für Mai 2024 setzte er jene Wahlen an, die für Schulze Anlass für eine Stärkung der Zusammenarbeit waren. Kurz zuvor erschossen Débys Sicherheitskräfte aber noch einen der wichtigsten Oppositionellen des Landes. Déby gewann.
Nicht nur die Transition wirkt bei genauerer Betrachtung zwiespältig, sondern auch der Umgang des Tschad mit dem Konflikt im Sudan. Die «New York Times» hat dokumentiert, wie das Regime den Krieg anheizt. Der Tschad lässt demnach zu, dass die Vereinigten Arabischen Emirate Waffen durch das Land an die RSF liefern. Die Regierung duldet demnach auch, dass die Emirate von einer Drohnenbasis im Tschad aus Einsätze im Sudan fliegen, um die RSF mit Informationen über das Schlachtfeld zu versorgen.
Für Kritiker:innen des Déby-Regimes ist der Grund für diese Politik, die kaum mit der grosszügigen Aufnahme Geflüchteter zusammenpasst, offensichtlich: Die finanzstarken Emirate haben Déby junior kurz nach dem Ausbruch der Kämpfe im Sudan ein Darlehen in Höhe von eineinhalb Milliarden US-Dollar genehmigt. Die Summe entspricht fast dem gesamten Haushalt des Landes.
Vor der schweren, mit Intarsien verzierten Holztür, durch die eben noch ein Lachen drang. Svenja Schulze, die eine Wiederannäherung an den Tschad einleitet, erwähnt weder den 20. Oktober noch die Waffenlieferungen. Und Aussenminister Koulamallah? Vom Journalisten auf die Waffenlieferungen angesprochen, schwört er auf Gott: «Ich kenne keinen Staat, der Waffen liefert.» Dann fängt er an zu philosophieren: «Der Sudan braucht keine Waffen, er braucht Freiheit und Demokratie.» Worte, die für Menschen wie Victor Zolossou wie Hohn klingen müssen.