Schweizer Geschichte: Mehr als ein Globi der Kolonialmächte

Nr. 49 –

Sicher keine Heldensage: Die Ausstellung «kolonial» im Landesmuseum zeigt die Verstrickungen der Schweiz als brisantes Forschungsgebiet mit vielen weiteren Anknüpfungspunkten.

ein Schweizer Verwalter mit seinem Sohn auf einer Tabakplantage auf Sumatra, 1921
Den niederländischen Herren zu Diensten: Ein Schweizer Verwalter mit seinem Sohn auf einer Tabakplantage auf Sumatra, 1921. Foto: Privatbesitz

Seit Wochen thront das überdimensionale Abbild eines Tropenhelms am Turm des Landesmuseums direkt beim Zürcher Hauptbahnhof. Eine militärisch anmutende Kopfbedeckung als prägnantes Symbol für den Kolonialismus – als Erinnerung an 500 Jahre «Herrschaftsbeziehung zwischen den europäischen Mächten und den von ihnen unterworfenen aussereuropäischen Gesellschaften», wie es am Eingang zu der mit dem Turmplakat beworbenen Ausstellung heisst.

Der leuchtend weisse Helm bot Schutz und Schirm. Zugleich war er uniformes Abgrenzungsaccessoire für weisse Europäer:innen, die in den Ländern des Globalen Südens ganz selbstverständlich als Herrenmenschen auftraten, sich bedienten und bedienen liessen und als Sklav:innenbesitzer, Menschenhändler und Kriegstreiber oft tödliche Gewalt ausübten. Ihre «Fremdherrschaft» wurde «gestützt durch lokale Kooperationen», wie gleich auf einer der ersten Tafeln der Schau nachzulesen ist. Als wollte man dem möglichen Vorwurf, die Verantwortung werde hier wieder allein den Europäer:innen zugewiesen, von Anfang an den Wind aus den Segeln nehmen. (Der Vorwurf kam dann trotzdem: aus den pauschal gegen die postkoloniale Forschung gerichteten rechten Kanonen.)

«Überall ein bisschen»

Die Schweiz besass keine eigenen Kolonien, operierte jedoch eifrig in den Fussstapfen der europäischen Kolonialmächte. Sie war also – wie fast immer in ihrer Geschichte – durch Kapitalströme und Personalien direkt wie indirekt an den globalen Verwerfungen und Feldzügen beteiligt. Inmitten solcher Verstrickungen trug die Schweiz stets den Schild ihrer politischen Neutralität vor sich her, hinter dem die eigene Weste vermeintlich weiss blieb.

Zur Eröffnung der «kolonial»-Ausstellung wurde denn auch betont: Die offizielle Schweiz hat die einheimische Beteiligung am Kolonialismus lange verdrängt und kleingeredet. Gern kaprizierte man sich etwa auf die Verharmlosung der Schweiz als «Zaungast der Geschichte», wie Elisabeth Baume-Schneider in ihrer Vernissagerede in Erinnerung rief. Ein «ehrlicheres Selbstbild» sei vonnöten, schliesslich sei die Schweiz «überall ein bisschen» in den Kolonialismus involviert gewesen, zitierte die Bundesrätin die Historiker:innen Manda Beck und Andreas Zangger. Und «überall ein bisschen», das sei «in der Summe ziemlich viel».

Ziemlich viel öffentliches Interesse an dieser Aufarbeitung scheint ebenfalls vorhanden. An zwei zufällig gewählten Tagen ist der Publikumsaufmarsch im Landesmuseum gross. Auch die Begleitveranstaltungen sind gut besucht. Die so sichtbare wie mächtige Institution setzt mit dieser Ausstellung ein wichtiges Zeichen. Weitere Zürcher Museen flankieren diese Setzung, indem sie mit etwas spezifischerem Fokus auf die eigenen Fachgebiete blicken: die ETH auf ihre naturhistorischen Sammlungen und Forschungsgeschichten; das Völkerkundemuseum, indem es zusammen mit dem Museum Rietberg ein Update zur bereits etablierten Zusammenarbeit mit Benin über geraubte Bronzen und neue Formen von Restitution liefert (Besprechung folgt in WOZ Nr. 50/24).

Who’s who der bürgerlichen Schweiz

Die Hauptschau im Landesmuseum greift weiter aus – unter der Überschrift «Versklavung» etwa ins Leben von Jacques-Louis de Pourtalès, einem Kaufmann aus Neuchâtel. Mit seiner Firma Pourtalès et Cie war er ab Mitte des 18. Jahrhunderts führend im sogenannten Dreieckshandel mit Indiennes. Diese farbigen Stoffe wurden in Fabriken rund um Neuchâtel hergestellt und an der afrikanischen Westküste gegen Versklavte eingetauscht. Mit deren Verkauf an Plantagenbesitzer in Übersee erstand de Pourtalès wiederum Waren wie Baumwolle und Tabak, um sie in Europa gewinnbringend abzusetzen. Auch auf eigenen Plantagen für Zuckerrohr und Kaffee liess er Versklavte arbeiten. Wer de Pourtalès im «Historischen Lexikon» nachschlägt, erfährt von diesen kolonialen Aktionen allerdings nichts. «Der unermüdl., reisefreudige P. besass einen aussergewöhnl. Geschäftssinn», heisst es bloss bewundernd. Der aktuelle Wissensstand scheint noch nicht überall angekommen zu sein.

Entgegen dem, was rechte Historiker:innen mit medialer Unterstützung kleinzureden versuchen, liefert die Ausstellung eine klare und wissenschaftlich fundierte Erkenntnis: Zweifellos hat die Schweizer Beteiligung am Kolonialismus und an der Versklavung von Menschen zum Wohlstand des Landes beigetragen. Jacques-Louis de Pourtalès war 1799 nicht umsonst zum reichsten Schweizer aufgestiegen. Oder wie selbst die NZZ vor Jahren festhielt: Die Liste der im Sklav:innenhandel involvierten Schweizer lese sich wie ein «Who’s who der damaligen bürgerlichen Schweiz». Aber gewiss war die Sklaverei nicht der einzige und wohl auch nicht der wichtigste Faktor für den Schweizer Wohlstand. Die mannigfaltigen Zusammenhänge müssen weiter erforscht werden.

In der Begleitpublikation werden dazu schon mal interessante Fährten gelegt. Der Handel mit Versklavten sei «eine frühe Ausformung der modernen spekulativen Finanzwirtschaft», schreibt etwa die Kulturwissenschaftlerin Jovita dos Santos Pinto in ihrem Essay: Dieser Menschenhandel habe «grosse Kapitalanlagen» erfordert, «hohe Renditen» versprochen, man habe aber auch «erhebliche Verluste» einfahren können. So zieht sich plötzlich ein roter Faden von den Hochrisikogeschäften heutiger Investmentbanker:innen bis zu den Sklav:innenschiffen des 18. Jahrhunderts. Und womöglich betrachteten manche die Kolonien insgesamt als gigantischen Spekulationsraum. Dass viele Schweizer Banken auch ganz konkret aus kolonialen Zusammenhängen heraus gegründet wurden, ist eine Einsicht, die man sich in der Ausstellung und im Begleitband stückweise zusammensuchen muss, das hätte man auch in einem Kapitel gebündelt darstellen können.

Bilder in den Köpfen

Dafür gibts im Landesmuseum viel Aufschlussreiches zu Schweizer:innen als Kolonialwarenhändlern, tagebuchschreibenden Söldnern, Missionarinnen, Eisenbahningenieuren, emsigen Beamten, Grosswildjägern und diskursprägenden Rassentheoretikern. Diese unterschiedlichen kolonialen Aktionsfelder vernetzen und überlagern sich: Im Windschatten von Missionsstationen wurden Firmen gegründet; die metallenen Manillen als koloniales Zahlungsmittel und die Hand- wie Fussschellen für die Versklavten sehen sich zum Verwechseln ähnlich und symbolisieren so eindrücklich die Verbindung von Gewalt, Entmenschlichung und Profit. Auch das – natürlich feiner gebaute – Instrument zur rassistischen Vermessung von Schädeln passt visuell in diese Reihe; ein Zürcher Chirurg liess davon ein sehr erfolgreiches Exemplar patentieren. Es sind gerade auch solche unheimlichen Verkettungen von Exponaten, die hängen bleiben.

Gleichzeitig zieht die Ausstellung immer wieder den Bogen in die Gegenwart, benennt die anhaltenden Folgen der Kolonialzeit. Etwas zugespitzt kann man von einer bis heute wirksamen postkolonialen Legierung aus Reichtum und Rassismus sprechen, gab es doch nicht nur einen florierenden Handel mit Waren, Wertsachen, Kulturgut und Versklavten, sondern parallel dazu auch einen Transfer von rassistischen Bildern – realen und imaginären: Fotografien, Skulpturen und Filme, aber vor allem auch das ganze Stereotype- und Exotikarsenal in den Köpfen. Rassistische Ausbeutung, Entrechtung und andere Herabwürdigungen verzerren die Betroffenen zu eindimensionalen Opfern und Unmenschen. Auch wer nie «in den Kolonien» war, hat(te) entsprechende Vorstellungen im Kopf: Projektionen, getrieben von Ressentiments, Gier, Überlegenheitsfantasien und Abenteuererwartungen.

Unterstützt wurden diese inneren Bilder durch rassistische Werbekampagnen für Waschmittel und sogenannte Kolonialwaren wie Kaffee und Kakao, aber etwa auch durch ein Malheft, das Globi zu den «fremden Völkern» schickt, oder durch Objekte wie das berüchtigte «Kässeli» mit dem sich dankbar verbeugenden Schwarzen Kind, das von Schweizer Kindern mit schwarz geschminkten Gesichtern und Kraushaarperücken als stellvertretenden Bittsteller:innen von Tür zu Tür getragen wurde.

Gegen fremde Herren?

Und wer nun denkt, dass das alles schon sehr lange her sei, erfährt gegen Ende der Ausstellung, welche Rolle die Schweiz bis Anfang der 1990er Jahre im Zusammenhang mit dem Apartheidregime in Südafrika gespielt hat. 1984 erreichte das Handelsvolumen der Schweizer Banken im Unrechtsstaat mit vier Milliarden Franken seinen Höhepunkt. Noch 2003 unterband der Bundesrat den Zugang zu den Südafrikaakten im Bundesarchiv, weil man Sammelklagen gegen Schweizer Unternehmen befürchtete. Seit 2005 liegt ein Untersuchungsbericht vor, der belegt, dass die Schweiz mit ihrem wirtschaftlichen Engagement die Apartheid nicht nur gestützt, sondern sogar verlängert hat: in Missachtung internationaler Boykotte und während derselben Jahrzehnte, als mit dem erwähnten «Kässeli» Almosen «für die armen Kinder in Afrika» gesammelt wurden.

Vielleicht liegt es am Ausstellungsort, vielleicht an den Hinweisen auf den – eher spärlichen – antikolonialen Widerstand in der Schweiz, dass man sich beim Rundgang irgendwann fragt: Warum ist ausgerechnet dieses Land mit seinen allseits bekannten Legenden und Helden im Rücken hier nicht ausnahmsweise auf der richtigen Seite der Geschichte gelandet?

Die einheimische Nationalmythologie pflegt bekanntlich gern die Sage vom wehrhaften kleinen Volk, das Mächtigen mutig die Stirn bietet oder sie schlau überlistet. Vor allem sogenannt fremden Herren und Besatzungsmächten wird in den Schweizer Mythen mit tiefer Abneigung begegnet. Diese fürs eigene Selbstbild sehr wirkmächtigen Erzählungen hätten einen idealen Kompass bereitgestellt, um sich gemeinsam mit den unterdrückten Menschen und Gesellschaften gegen die invasiven fremden Herren zu verbünden. Die aktuellen Ausstellungen in Zürich erzählen von der Schweizer Rolle in den kolonisierten Gebieten allerdings eine ganz andere Geschichte.

«kolonial. Globale Verflechtungen der Schweiz» im Landesmuseum Zürich, bis 19. Januar 2025. Ausstellungskatalog: «kolonial – Globale Verflechtungen der Schweiz». Scheidegger & Spiess. www.landesmuseum.ch

«Koloniale Spuren. Sammlungen im Kontext» im ETH-Hauptgebäude, bis 13. Juli 2025. www.extract.ethz.ch/ausstellung.html