Theater: «Im Drama haben immer alle recht»
Sibylle Baschung, Chefdramaturgin am Berliner Ensemble, verteidigt Theaterhäuser als Orte, an denen die Welt komplex dargestellt wird und unterschiedliche Perspektiven möglich sein müssen. Ihr Fortbestand sei angesichts der Kulturkürzungen auch eine Frage der Demokratie.

WOZ: Frau Baschung, wünschen Sie sich manchmal, in Ihrer Schweizer Heimat ein Theater zu leiten? Verglichen mit Berliner Häusern lässt man da die Kunst in Ruhe, solange sie die Budgets nicht allzu sehr überschreitet.
Sibylle Baschung: Ist das so?
In Deutschland muss doch jede Institution fürchten, Leute einzuladen, die die israelische Kriegsführung in Gaza kritisieren, weil sie von anderen als Antisemit:innen denunziert werden könnten. Zum Beispiel.
Also noch ist die Kultur frei. Uns wurde noch nie verboten, jemanden einzuladen.
Die neue vom Bundestag beschlossene Antisemitismusresolution bezieht sich auf eine Definition von Antisemitismus, die Kritik an Israel relativ leicht als Antisemitismus wertet. Fällt damit streng genommen nicht die gesamte arabische Perspektive aus den deutschen Institutionen raus?
Natürlich muss Israel kritisierbar sein. Unser Intendant Oliver Reese und ich halten Verbote für keine gute Idee. Man soll der Institution nicht vorschreiben, wen sie einzuladen hat und wen nicht. Da bin ich ganz klar: Theaterhäuser sind dafür da, Räume zu schaffen, in denen unterschiedliche Perspektiven auf einen Konflikt möglich sein müssen. Wir machen Einladungen weniger von der Biografie der jeweiligen Personen abhängig als von dem, was sie zu sagen haben. Das nehmen wir uns raus, solange uns das niemand wirklich verbietet.
Die Chefdramaturgin
Sibylle Baschung (52) wurde in Grenchen geboren und arbeitete während des Studiums als Regieassistentin unter der Schauspielleitung von Stefan Bachmann am Theater Basel, danach als Dramaturgin am Theater Neumarkt in Zürich, bevor sie 2001 ans Schauspiel Frankfurt wechselte. Seit 2017 ist sie Chefdramaturgin am Berliner Ensemble, einer der fünf grossen Schauspielbühnen Berlins.

Rechtlich verbindlich ist nichts, da geht es um Scheren im Kopf und Skandalisierungen. Und ist es nicht so, dass es den grossen Bühnen leichter fällt als den Häusern des freien Theaters oder dem Kunstbetrieb, eine differenzierte Perspektive auf Nahost zu programmieren?
Das stimmt, wir hatten zum Beispiel eine Reihe mit dem Titel «Gaza Talks». Auf unserer grossen Bühne sprach derweil Michel Friedman anders über den Konflikt. Und wir sind auch nicht die Einzigen in Berlin, die das Thema ins Programm nehmen. Die Berliner Festspiele und auch die Schaubühne beispielsweise sind sehr darum bemüht, differenziert über Gaza und über Antisemitismus zu sprechen.
Warum gelingt das dem Theater insgesamt besser als anderen Institutionen?
Es gibt sicher viele Erklärungen dafür, am besten gefällt mir aber der Ansatz von Heiner Müller, der sagte: Im Drama haben immer alle recht, sonst ist es kein Drama. Und das ist das, was wir am Theater machen. Wir schälen Konflikte heraus, die entstehen, wenn verschiedene Perspektiven aufeinanderprallen und sich in Widersprüchlichkeiten verheddern. Das ist klassisch dialektisch gedacht. Und ich glaube, auch das Publikum ist geübt darin, die Welt im Theater komplex dargestellt zu sehen, wenn möglich mit sinnlichen Mitteln. Denn diese Verhandlungen sollen, laut Brecht, ja auch noch Spass machen. Und vielleicht tolerieren die darin Geübten, dass selbst eine Diskussionsveranstaltung komplexer sein darf. Klar gibt es Kritik an Einzelpersonen, die wir einladen, auch intern, und auf Social Media gibt es auch Hass. Man muss bereit sein, das auszuhalten.
Das Berliner Ensemble wurde von Bertolt Brecht gegründet, es ist, historisch gesehen, das antifaschistische Theater schlechthin, eine Paradebühne der DDR, und eins der wichtigsten Häuser wurde das Ensemble auch im neuen Berlin wieder. Gleichzeitig rückt die extreme Rechte in Form der AfD in Richtung Hauptstadt vor. Wie reagiert man da als Theater?
Das betrifft uns nicht nur auf der Ebene eines Bundeslandes, und auch nicht nur als Bundesrepublik, sondern mindestens so stark auch als Europäer:innen. Der DDR-stämmige Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk hat gesagt, unsere Zeit werde in die Geschichtsbücher eingehen als Beginn eines neuen autoritären Zeitalters.
Was heisst das fürs Theater?
Es heisst zunächst einmal, festzuhalten an der Offenheit und den verschiedenen Perspektiven, über die wir schon gesprochen haben. Was heisst festhalten – nein: besser werden. Wir sind noch zu schlecht darin, wir müssen noch diverser werden. Denn da gibt es keine zwei Meinungen: Die AfD greift Kulturinstitutionen an. Im Wahlprogramm steht zum Beispiel, dass die Partei Multikulturalismus als Ideologie ablehne. Für uns ist Diversität, wie für alle Demokrat:innen, eine Beschreibung der Realität und keine Ideologie. Folglich ist es unsere Aufgabe, so man denn die Mittel dazu noch hat, solche Räume zu schützen.
Sparmassaker in der Kultur
Das Land Berlin hat sich verzockt. Die prognostizierten Steuereinnahmen waren viel zu hoch. Dazu kamen die Inflation, die Tarifausgleiche, die gestiegenen Energiekosten, die Folgen von Corona und Krieg. Nun muss Berlin schon für nächstes Jahr drei Milliarden Euro sparen, und so geht es danach gleich weiter. Die aktuelle Regierung aus CDU und SPD ist letztes Jahr an die Macht gekommen. Joe Chialo (CDU) hat den in der Kulturszene ob seiner juristischen Kompetenz und seines Kämpfergeists geschätzten Klaus Lederer (Die Linke) als Kultursenator abgelöst.
Das rächt sich nun beim Sparmassaker: Chialo, ein politischer Quereinsteiger, hatte in der Regierung keinen Stich und wenig Ahnung und muss nun sogar eine noch höhere Summe einsparen als ursprünglich angekündigt: rund 150 Millionen Euro allein fürs kommende Jahr, eher fünfzehn statt zehn Prozent des Budgets. Die Streichliste haben die Koalitionsspitzen unter sich erstellt, ohne Absprache mit den Kulturabteilungen. Es ist ein Scherbenhaufen, einige Institutionen, darunter auch das Berliner Ensemble, fürchten die Insolvenz. Alle paar Tage geht derzeit Berlins Kulturszene auf die Strasse.
Der Intendant des Friedrichstadt-Palasts in Berlin, einer Musical- und Showbühne, hat einmal gesagt, bei ihm seien AfD-Wähler:innen nicht willkommen. Wie ist es am Berliner Ensemble?
Ich finde es nicht schlimm, wenn Leute zu uns kommen, die AfD wählen. Und ich vermute mal, dass da schon einige im Publikum sitzen. Die Frage, die uns umtreibt, ist eher: Was sind das für AfD-Wähler:innen? Wo kommen die her, aus einem eher reichen oder einem eher benachteiligten Berliner Bezirk? Das Thema Niederschwelligkeit ist zentral für ein Haus heute, zumindest für uns. Wie viel kostet es? Gibt es verbilligte Angebote? Wie können wir kommunizieren, dass hier nicht alles kompliziert und schwierig zu verstehen ist? Wir gelten als Hochkulturtempel und arbeiten stetig daran, diesen Ruf zu verändern, um als zugängliches Haus erkannt zu werden.
Die soziale Frage ist das eine. Theater bildet aber auch politische Verhältnisse ab. Wenn ich gelegentlich Gesprächsformate oder Tagungen fürs Theater kuratiere, bekomme ich von potenziellen Gästen rechts von linksliberalen Positionen oft zu hören: Das Theater ist nicht unser Gebiet, da gehen wir nicht hin.
Wir machen keine Parteipolitik. Und bei Diskussionsveranstaltungen befinden wir uns im vorpolitischen Raum, wir laden in der Regel keine Politiker:innen ein, sondern Betroffene, wenn es etwa um Antisemitismus oder Menschenwürde geht.
Oder Frauen im Iran.
Genau, da laden wir Künstler:innen ein. Oder Wissenschaftler:innen und Journalist:innen. Es sind Leute, die von Erfahrungen berichten, oder solche, die einen Konflikt besonders genau und mit ihrem Wissen beschreiben können. Aber es gelingt uns natürlich nicht immer, die Fronten in der Form aufeinanderprallen zu lassen, dass daraus ein Erkenntnisgewinn entsteht oder sogar eine Lösung. Letzteres ist auch nicht unsere Aufgabe.
Wenn wir noch auf die Schweiz schauen von Deutschland aus: Die AfD ist nicht identisch mit der SVP, aber beide vertreten in vielen Bereichen ähnliche Positionen. Kann man als deutsches Theater zum Umgang damit etwas von der Schweiz lernen?
Der Hauptunterschied liegt in den politischen Systemen: eine Konkordanzdemokratie in der Schweiz, eine Konkurrenzdemokratie in Deutschland. Jetzt sehen wir gerade, wie eruptiv dieses System sein kann in Deutschland, wenn die Regierung zerbricht. Man kann zwar auch viel kritisieren an der Schweizer Zauberformel, zum Beispiel, dass grüne Themen unterrepräsentiert sind und dass die Politik scheinbar langsam vorwärtskommt. In der Schweiz ist es halt «bhäbiger».
Ist das gut oder schlecht?
Beides. Als ich noch in der Schweiz gelebt habe – vor über zwanzig Jahren –, konnte man sich den Luxus leisten, zu sagen: Mensch, das dauert doch alles immer viel zu lange, wir brauchen frischen Wind. In der krisenhaften Gegenwart zeigen sich die Vorteile deutlicher, weil das politische System in der Schweiz stabiler erscheint, zumindest von Deutschland aus gesehen. Manche in der CDU haben Angela Merkel stets vorgeworfen, sie würde als Bundeskanzlerin die Position ihrer Partei verwässern. Mein Schweizer Umfeld fand dagegen immer: Sie kümmert sich eben um Sachfragen. Nun haben wir in Deutschland sowohl auf Bundesebene wie auch im Land Berlin instabilere Verhältnisse, das macht es einer Kulturinstitution schwer, wie man aktuell sehen kann.
Ein zentrales Thema des Koalitionsstreits war die sogenannte Schuldenbremse auf Bundesebene, die auch die Haushalte der Länder betrifft. Hinzugekommen ist nun eine brüske Ansage der Berliner Regierung, dass die Kultur in den nächsten beiden Jahren rund zehn Prozent sparen müsse. Und nun werden es wohl sogar zwölf und mehr Prozent sein.
Zehn oder zwölf Prozent klingt auf den ersten Blick gar nicht so heftig. Es sind aber nicht zehn Prozent, sondern wesentlich mehr. Denn von unserm Budget sind 80 bis 85 Prozent gebundene Mittel, also Fixkosten für das Gebäude, den Unterhalt, die Miete und die Personalkosten. Das heisst, wir haben noch ungefähr fünfzehn Prozent, die in die Kunst fliessen. Und da schlagen diese zehn Prozent zu. In unserem Fall würden die zehn Prozent ungefähr zu einer Halbierung des künstlerischen Etats führen. Und für kleinere Institutionen bedeuten sie das Ende. Die sparen schon lange wie verrückt, in der Technik etwa, wenn der Tonmann auch das Licht fährt. Die können das nicht mehr einfach ausschwitzen. Das andere Problem ist die Zeit: Theater treffen auf Jahre hinaus Verabredungen und schliessen Verträge. Bereits ab Januar in der laufenden Saison diese Einsparungen zu stemmen, ist schlicht unmöglich. Das ist nicht mehr Politik, sondern eher: Rette sich, wer kann.
Dieser Rasenmäher verrät, wie wenig selbst die Kulturpolitik von Kunstproduktion versteht. Das ist erschütternd, aber nicht neu. Auch nicht neu: Seit Jahrzehnten versucht der Theaterbetrieb, diese Fixkosten nicht derart hoch zu halten. Geschehen ist aber kaum etwas. Diese Versäumnisse rächen sich nun doppelt hart.
Es geht jetzt um eine grundsätzliche demokratische Frage: Will man Institutionen schützen oder nicht? Und es stimmt nicht, dass sich nichts verändert hat. Auch wir legen ständig Positionen zusammen, kooperieren mit andern Institutionen – wir arbeiten bereits sehr effizient. Wir glauben an die Errungenschaft eines öffentlichen Theaters und wollen sie erhalten. In Berlin ist die Diskussion allerdings komplizierter, weil die wiedervereinte Stadt ein sehr grosses Kulturangebot mit sich gebracht hat, das einzigartig ist.
Wobei die grossen Theater in Berlin kein Publikumsproblem haben, abgesehen von der führungslosen Volksbühne. Schwieriger ist die Struktur, die so viele Mittel bindet und so wenig für die Kunst übrig lässt. Da verdienen Techniker:innen oft viel mehr als Gäste im Schauspiel.
Da lassen sich manchmal Ungleichgewichte beobachten. Aber unsere Kunstform ist eine Menschenkunst, und diese Menschen sollen anständig bezahlt werden. Wir sind nicht überbesetzt. Unser Angebot, das im November eine Auslastung von 99 Prozent hatte, ist Knochenarbeit.
Man könnte weniger produzieren.
Das passiert zum einen bereits. Zum andern werden wir nun dazu gezwungen. Am Berliner Ensemble ist das einfacher, weil wir ein grosses Repertoire haben, das auf viel Publikumsinteresse stösst. Daraus können wir uns eine Weile bedienen. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis durch ein verringertes Angebot auch die Auslastung und somit unsere Einnahmen sinken.
Um das zu verhindern, muss sich das Theater mit der Kulturpolitik zusammentun. Doch hier mangelt es oft an Kompetenz: Vielen Kulturpolitiker:innen muss man ihr Gebiet erst erklären. Als wäre Kulturpolitik eine Resterampe oder das Sprungbrett für einen anderen Job.
Es gibt schon Unterschiede. Aber es ist richtig, dass zum Beispiel ein Verkehrsminister aus der Wirtschaft kommt, wohin er oder sie nach der politischen Laufbahn auch wieder zurückkehrt. Es gibt meines Wissens keine Kulturministerin und keinen Kultursenator, der oder die danach in die künstlerische Produktion zurückkehrt. Und aktuell haben wir es in Berlin mit einem Kultursenator zu tun, der sich nicht für sein Ressort einsetzt – geschweige denn für die Institutionen kämpft. Und wenn es um viel Geld geht, wie aktuell nicht nur im Berliner Haushalt, sondern auch beim Bund, sitzen die Kulturpolitiker:innen bei den Verhandlungen meistens nur am Katzentisch.
Hat das auch damit zu tun, dass in Deutschland die Hierarchien ausgeprägter sind und die Sprache direkter und undiplomatischer ist als in der Schweiz? Und verschafft das Ihnen als Schweizerin einen Vorteil?
Ist das jetzt eine identitätspolitische Frage? Das würde ich natürlich verneinen, dass meine Herkunft meinen Führungsstil prägt (lacht). Oder doch? Im Alltag spüre ich eine andere kulturelle Differenz stärker: Das Vertrauen zur Politik und damit auch zu Führungspersonen ist in Deutschland aus historischen Gründen nicht so gegeben, weder im Osten noch im Westen. Aber ein Theater ist ein komplexer Apparat, und ich treffe hier auf viele Menschen, die komplizierte Prozesse wie ich auch lieber als Schwarm angehen. Und da ist einiges passiert im deutschen Theaterbetrieb, ich kenne fast kein Haus, das nicht daran arbeitet, seine Hierarchien flacher zu gestalten und dem Ruf entgegenzuarbeiten, ein Laden mit feudalherrlicher Führung zu sein.