Theatertreffen: Im Sperrfeuer der Gratispolitik
Das Berliner Theatertreffen fühlt immer im Mai dem Betrieb den Puls. Diagnose: Herzflimmern. An wichtigen Häusern werden Experimente abgebrochen, die Reaktion geht in Stellung.
Das erste Berliner Theatertreffen fand im Mai 1964 statt, knapp zwei Jahre nach dem Bau der Mauer. Im Westteil der Stadt, in den Sektoren der alliierten Streitkräfte, spielte die Kultur mit ihren Muskeln. Das Festival war ein repräsentatives Schaufenster des Westens. Ein paar Jahre später lud die Jury sogar Inszenierungen aus der DDR ein, was die politische Dimension noch verstärkte, da die Osttheater damals nicht in den Westen reisen durften.
Ein halbes Jahrhundert später ist die alte Mauer längst weg, doch der politische Hintergrund des Festivals kehrt geisterhaft wieder. Viele der zehn eingeladenen Inszenierungen versuchen offensiv, die Probleme dieser Tage in den Blick zu bekommen. Rechtsdrall, Rassismus, Sexismus, Trump. Die meisten der Arbeiten aus Zürich, Basel, München, Hamburg, Wien und Berlin begegnen der Wut der Tage aber ihrerseits mit pochenden Schläfen. Statt künstlerische Komplexität sah man oft überlange Rituale der Gewissheit, im Theater auf der richtigen Seite zu stehen. Politisch richtig, ja, aber auch künstlerisch und kulturpolitisch auf Linie gebracht.
Der Hohn der alten Recken
Denn seit dem Streit um die Berliner Volksbühne (siehe WOZ Nr. 1/2018 ) durchtrennt eine neue Mauer den Theaterbetrieb. Der belgische Kurator und Museumsdirektor Chris Dercon, der nach 25 Jahren auf Frank Castorf folgte, wurde noch in der laufenden Spielzeit als Intendant entlassen. Anfang April sprach er beim Berliner Kultursenat vor, weil er mehr Geld wollte, um die nächste Spielzeit mit mehr Eigenproduktionen füllen zu können. Kultursenator Klaus Lederer hatte nur darauf gewartet, ihn loszuwerden, das war eine Art Wahlversprechen.
Was dabei auch wegrutschte, war der Ton. Ehemalige Volksbühnenrecken nannten diejenigen, die dort arbeiteten, «Verräter», verhöhnten Dercons Namen in allen möglichen Formen – was alles gerne gedruckt und gesendet wurde. Durchgesetzt hat sich auch die Rede vom finanziellen Desaster, die so nicht stimmt. Dercon hat die Volksbühne nicht «ruiniert». Zwei Tage nach der Entlassung musste der Kultursenat dies in einer Erklärung korrigieren. Interessiert hat das kaum jemanden mehr.
Während des Theatertreffens hat die Volksbühne noch einmal die Münchner Inszenierung der Hausregisseurin Susanne Kennedy gezeigt, «Die Selbstmordschwestern» nach dem Roman von Jeffrey Eugenides. Beim Gespräch danach sassen manche von denen, die auf der Facebook-Seite der Volksbühne über Wochen den Troll gegeben hatten, im Publikum, ihr Geschrei von «deutscher Sprache» und «wir wollen echte Menschen auf der Bühne» markierte die Rückkehr der Schiessbudenfigur der konservativen AbonnentInnen, jetzt unter linker Flagge.
Das Experiment ist gescheitert, der Fremde hat die Stadt verlassen, die Freude ist gross. Die Leere danach auch: Worin besteht nun das Selbstverständnis des Betriebs? Wird sich der ganze Hass nun nach innen richten?
In der Leere nach dem Sieg eröffnete das Theatertreffen ausgerechnet mit «Faust» in der Regie von Frank Castorf, der sich geweigert hatte, sein Vermächtnis beim Feind Dercon in der Berliner Volksbühne zu zeigen, wo es im Frühjahr 2017 noch Premiere gefeiert hatte. Dercon hätte den «Faust» in seinem Theater begrüsst. Das Stück wurde also ins Haus der Berliner Festspiele verlegt, das Budget, gespeist mit Bundesgeldern, um 500 000 Euro überschritten. Ob diese Eitelkeit Castorfs eine halbe Million an Steuergeldern wert sei, fragten sich viele. Dieses symbolische wie finanzielle Gewicht wünscht man keiner Inszenierung ans Bein, zumal einer derart beeindruckenden. Die Zusatzgelder der Lottostiftung, die einsprang, der gekränkte Regiegott, die Nostalgie des Publikums nach der alten Volksbühnenzeit: alles Nebenschauplätze, wie sich bei der Aufführung zeigt, als sich in die Euphorie auch das Bewusstsein der rückwärtsgewandten Verklärung schleicht.
Die Jury des Theatertreffens, die aus sieben KritikerInnen besteht, lädt jeweils Einzelpositionen ein, und doch ergibt das immer auch ein Tableau, das etwas über die Machtverhältnisse der Diskurse und Ästhetiken verrät. Was diesmal auffällt: Viele Produktionen eint die Angst, falsch verstanden zu werden. Die Regisseurin Karin Henkel lässt bei ihrem Zürcher Antikenprojekt «Beute Frauen Krieg» keine Zweifel aufkommen, dass Frauen die Opfer der Kriegsgeschichte sind. Männer sind Schweine, jetzt reden die Opfer! Wusste man das nicht schon vorher, zumal im Fall der Trojanischen Kriege? Ist das Feminismus auf der Höhe der Zeit oder nicht doch der kleinste gemeinsame Nenner? Und muss uns Elfriede Jelinek in der Hamburger Fassung von «Am Königsweg» in einem stark gekürzten Text von nur dreieinhalb Stunden wirklich nochmals näherbringen, dass Donald Trump ein infantiler Charakter sei?
Und überall diese Angst
Regisseur Falk Richter tut viel dafür, die Gratispolitik der jelinekschen Textschlaufen mit einzigartigen Performances in ein lustiges Spektakel zu übersetzen: Die Kreuzberger Comedienne Idil Baydar disst mit ihrer deutschtürkischen Kunstfigur Jilet Ayse die «Kartoffeln», also die Deutschen im Publikum; und als Trump-Figur kriegt der Soloperformer Benny Claessens Raum für sich und seine schillernden Spiele, die oft seine körperliche Abweichung von der Schauspielernorm und sein sexuelles Begehren ausstellen und damit das Publikum des Voyeurismus überführen wollen – spektakulär, wie dem virtuosen Menschenfänger Claessens dieser Trick immer wieder gelingt. In diesem Sperrfeuer der Texte und Performances ist aber spätestens in zwei Stunden das Böse dingfest gemacht.
Es gibt Fragen, die beim Theatertreffen ständig wiederkehren: Warum bis zum Ende bleiben? Warum diese dauernde Intensität, als hätte man Angst vor dem Aufhören, vor der Stille, vor dem Zuhören selbst? Warum dem Lärm mit Lärm begegnen? Fast nichts ist cool im Sinne von abwartend, unterspielend. Wenig wagt ein bisschen Komplexität.
Zum Nicken verdammt
Die beiden eingeladenen Inszenierungen von den Münchner Kammerspielen, dem nach der Volksbühne zweiten Reformhaus des Theaters, arbeiten auf den ersten Blick anders: Bertolt Brechts «Trommeln in der Nacht» und das unter «Schwarzkopie» gehandelte Reenactment von «Mittelreich» nach dem Roman von Sepp Bierbichler. Anta Helena Recke besetzt Anna-Sophie Mahlers bereits vor zwei Jahren eingeladene Inszenierung von «Mittelreich» ausschliesslich mit schwarzen SchauspielerInnen (siehe WOZ Nr. 49/2017 ). Das ist eine schöne konzeptionelle Geste, die besonders am Anfang knallt: Wenn alle auf Stühlen an der Bühnenrampe sitzen und ruhig ins Publikum schauen, ergibt das ein Bild, das man im Theater sonst nie sieht. Wer sich nicht zum ersten Mal mit Diversität in der Kunst beschäftigt, wird aber allmählich zum reinen Nicken verdammt. Dass nach der Münchner Premiere auch rassistische Kritiken erschienen, zeigt gleichwohl, wie wichtig solche Gesten im Theaterbetrieb sind.
Regisseur Christopher Rüping fährt mit seinem Münchner Brecht alle Theatermittel auf, um das Theater als politische Anstalt zu befragen, und spielt sogar, je nach Abend, zwei verschiedene Schlüsse. Überaus schlüssig alles, aber in der Virtuosität der Mittel auch sehr berechenbar.
Der Überschuss kommt, wer hätte das gedacht, an diesem Festival aus der Schweiz. Ulrich Rasches Inszenierung von Georg Büchners «Woyzeck» aus dem Theater Basel schafft es, den auch 160 Jahre nach seiner Entstehung noch immer sperrigen Text plastisch und abstrakt zugleich zu gestalten. Die Bühne ist eine grosse instabile Scheibe, die sich unablässig dreht, hebt und senkt. Zur live gespielten, rhythmisch strengen Minimal Music von Monika Roscher treten die SpielerInnen immer in ein Verhältnis: Mal sprechen sie den Text ohne Puls, fast tempo rubato, mal setzen sie sich zwischen den Beat, auch als Chor. Oder sie setzen sich mitten drauf, dass einem Hören und Sehen vergeht wie Woyzeck, dem Hauptmann und dem Doktor in einer Trioszene, die das Menschenexperiment im Faschismus als böses Faszinosum nicht einfach nur zeigt und vorführt, sondern auch als Wirkung herstellt.
Nie blicken sich die Figuren an, immer fixieren sie einen Punkt im Zuschauerraum – die Trümmer der Geschichte. Irre, wie sich der Text so sinngemäss in Musik und Körper übersetzen lässt. Irre, wie die SpielerInnen alles in die Sprache und in den Körper legen können, ohne sich dabei selbst preisgeben zu müssen. Rasche hat einen Abend geschaffen, der jede Diskussion um Kunst kontra Welthaltigkeit als biedere Gesinnungsdiskussion aussehen lässt, als Glaubensfrage von autoritären SpiesserInnen.
Das könnte eine mögliche Zukunft des Theaters sein, zumal eine, die nicht nur in Berlin möglich wäre, sondern auch in Basel oder Dresden, wo Rasche in dieser Spielzeit gearbeitet hat. Doch die Gegenwart meldete sich am Schluss des Theatertreffens zurück, in Form einer erwartbaren Regression. Die für ihre notorischen Verteufelungen des Gegenwartstheaters bekannte Alfred-Kerr-Stiftung beauftragte den Fernsehschauspieler und Exvolksbühnenstar Fabian Hinrichs als Juror, um einen Nachwuchsdarstellerpreis zu verleihen. Hinrichs wählte Benny Claessens, für ihn der einzige «künstlerische Schauspieler». Alle andern seien preussische Soldaten im Dienste von Regieoffizieren.
SchauspielerInnen auf dem Sockel
Hinrichs’ Diagnose, zu viele Inszenierungen würden nur auf der richtigen Seite stehen wollen, ist nachvollziehbar. Doch die raunende Feier des Schauspielers als Zentrum der Theaterkunst, die dann bei JournalistInnen, aber auch bei Kollegen wie Herbert Fritsch einsetzte, ist reaktionär. Sie setzt schon wieder eine enge Norm, was Theater sei und was nicht. Man soll SchauspielerInnen nicht Narzissmus vorwerfen, das wäre ein Ruf nach unbefleckter Empfängnis – Claessens und Hinrichs sind beides Spitzenstürmer, Solospieler, grenzgeniale Einzelgänger und werden auch so eingesetzt. Dass man aber zu einem neuen, genaueren, sogar kollektiven Ausdruck finden kann, wenn man die eigene Person in die zweite Reihe stellt, zeigte gerade der Basler «Woyzeck».
Es ist kein Zufall, dass der gebieterische Ruf nach dem «echten Schauspieler» nach dem Sieg über Dercon geäussert wird und auch nach dem angekündigten Abgang von Matthias Lilienthal als Intendant der Münchner Kammerspiele. Die Experimente in den grossen Theaterzentren werden abgebrochen. Die Peripherie muss es jetzt richten. Sonst droht ängstliches Theater. Oder Theater, das Solonummern für Ensemblekunst hält und sein Gewerbe dabei verkennt.