Mietpolitik: Die Sugus-Solidarität
Eine Leerkündigung in Zürich sorgt landesweit für Schlagzeilen. Aber sie weckt auch den Widerstand. WOZ-Fotograf und Nachbar Florian Bachmann berichtet über die gegenseitige Unterstützung in der Siedlung und darüber hinaus.

«Gell, du gehörst zu den Glücklichen in den Sugus-Häusern?» Diese Frage wurde mir in der vergangenen Woche immer wieder gestellt. Ja, ich wohne in einem der sechs Häuser, deren Mieter:innen keine Kündigung erhalten haben – glücklich bin ich deswegen nicht.
Zunächst bin ich solidarisch, wie viele andere aus der Siedlung. Einige malten am Samstagnachmittag mit ihren Kindern Transparente. Noch mehr Menschen versammelten sich am Sonntagvormittag für ein gemeinsames Gruppenfoto. Für mich als Fotografen wirkte es von weitem wie die Besichtigung einer Stadtwohnung und von nahem wie eine Zusammenkunft bei einer Beerdigung – beides Situationen, bei denen man froh ist, sie nicht oft erleben zu müssen. Als alle Balkone dann mit Menschen gefüllt waren und alle «Sugus! Sugus! Sugus!» in den Hof riefen, fühlte es sich schon wieder besser an.
Später am Nachmittag traf man sich erneut, um gemeinsam mit über tausend Menschen aus der ganzen Stadt ein Zeichen gegen die Gier von Regina Bachmann und der Immobilienfirma Allgood Property zu setzen. Sechs Tage nachdem die neue Besitzerin im Grundbuch eingetragen war, flatterten allen Mieter:innen der Häuser Neugasse 81, 83 und 85 Kündigungen der Liegenschaftsverwaltung ins Haus. Grund soll eine Totalsanierung sein, um die Häuser angeblich in eine nachhaltige und ökologische Zukunft zu führen.
Seither melden sich Stimmen aus allen Lagern, von den betroffenen Mieter:innen bis zum Hauseigentümerverband, die die Notwendigkeit bestreiten. Wir wohnen seit der Geburt unseres zweiten Kinds im Februar 2017 in einem der Sugus-Häuser. Als Mieter kann ich nur bestätigen: Am nachhaltigsten ist es, unsere Siedlung in Ruhe zu lassen.
Gelebte Verbindlichkeit
Die Kundgebung war herzlich und farbenfroh. Es fühlte sich an, als wäre das gesamte Quartier eine grosse Familie. Warmer Punsch wurde ausgeschenkt, und natürlich gab es Sugus-Bonbons. Unter dem Motto «Sugus bleibt Heimat» wurde eine Petition gestartet, damit die Massenkündigung vor Weihnachten zurückgezogen wird. Rund 25 000 Menschen haben diese bereits unterzeichnet. Die Wohnpolitik beschäftigt Zürich nicht erst seit der Massenkündigung der Sugus-Häuser. Bereits im April fand die Wohndemo «Wohnraum für alle» mit 10 000 Teilnehmer:innen statt.
Auch die Medien griffen das Thema auf. Das Onlinemagazin «Tsüri» begleitet die Wohnungsnot in der Stadt Zürich schon länger intensiv und berichtete als erstes über die Massenkündigungen im Röntgenareal. Inzwischen widmen sich sämtliche Medienhäuser diesem Thema. Schliesslich trug auch der bestehende Austausch innerhalb der Siedlung – über Chatgruppen, E-Mail-Verteiler oder ein Sommerfest – dazu bei, dass diese Solidarität möglich war. Zusammen im Siedlungshof eine Pizza zu essen, erzeugt eine Verbindlichkeit: auch sonst aufeinander zu achten. Ein Beispiel dafür, wie wichtig es ist, Netzwerke und Gemeinschaften zu bilden.
Innerhalb von nur einer Woche wurde die Massenkündigung zu einem Exempel für eine aus den Fugen geratene Wohnpolitik. Entsprechend emotional fallen die Voten von Personen aus, denen gekündigt wurde. Wie zum Beispiel die von Laura: «Es ist einfach unser Zuhause, wir sind so verwurzelt hier. Und das soll jetzt alles so schnell, schnell vorbei sein», sagte sie den Tränen nahe ins Mikrofon von «20 Minuten». Oder die Familiengeschichte von Vili, deren Vater bereits das Gerüst für den Bau der Häuser aufgestellt hatte: Im Vergleich zu Frau Bachmann hat sie jedoch nichts geerbt – nur den Mietvertrag. Statt drei Häusern besitzt sie jetzt ein Kündigungsschreiben.
Feudale Zeiten
Überhaupt: All die merkwürdigen Geschichten rund um die Erbin und ihre Gehilf:innen bei der Allgood Property lesen sich wie die Beschreibung einer Bösewichtin aus einem Drehbuch oder einer üblen Thronfolgerin aus feudalen Zeiten. Aber sicher nicht wie die einer Person, die Lust hat, eine gute Vermieterin zu sein. Und obwohl «Vermieterin» kein geschützter Beruf ist, wird hier ein Fähigkeitszeugnis schmerzlich vermisst. Wer Häuser besitzt, trägt Verantwortung für die Bewohner:innen, das Quartier und die Stadt. Wie soll zum Beispiel der Kindergarten in der Siedlung planen, wenn plötzlich ein Viertel der Kinder innerhalb von drei Monaten wegziehen wird?
Betroffen macht mich, dass die Aufmerksamkeit nicht auch all den anderen Siedlungen und Mieter:innen geschenkt wird, die das Gleiche erleben. Die Liste der Leerkündigungen in der Stadt, die der «Tages-Anzeiger» zusammengetragen hat, ist erschreckend: In der Nähe des Letziparks verlieren 735 Mietende ihre Wohnungen, in Schwamendingen sind es 450, in Seebach erhielten 250 Haushalte Kündigungen, und im Heuried betrifft es 100 Wohnungen. Wer nach den Verantwortlichen für diese Entwicklung sucht, für den hatte SP-Politikerin Jacqueline Badran an der Kundgebung den richtigen Rat: «Follow the money.»
Die Besitzverhältnisse in Zürich sprechen immer noch eine deutliche Sprache: Nur rund 7,6 Prozent des Wohnraums gehören der Stadt – im Vergleich zum Vorzeigebeispiel Wien, wo knapp 30 Prozent aller Mietwohnungen in Gemeindebesitz sind. Es wäre also nicht vermessen, wenn die Stadt diese Häuser kauft. Oder wenn sich aus der Mieter:innenbewegung wie in Berlin ein Zusammenschluss unter dem Motto «Zürich enteignen» formiert.