Immobilienspekulation: Nicht mal das Heizöl wurde bestellt

Nr. 13 –

Leerkündigung, Totalsanierung: In Gerlafingen droht einer ganzen MigrantInnensiedlung das Ende, weil eine Zürcher Immobilienfirma Kasse machen will.

Die kompromissloseste Art, Eigentümerinteressen durchzusetzen: Zwei der bedrohten Häuser an der Gerlafinger Geiselfeldstrasse. Foto: «Solothurner Zeitung»

Cengiz Yildiz ist Fan des türkischen Fussballklubs Besiktas. Fürs Interview mit den Medien zieht er voller Stolz das schwarz-weisse Trikot an. Er stammt aus der Türkei, spricht aber perfekt Solothurner Dialekt. Yildiz ist im Gerlafinger MigrantInnenquartier «Klein Istanbul» geboren. In den älteren Mehrfamilienhäusern wohnen MigrantInnen aus der Türkei, aber auch aus Italien. Gleich neben den Häusern liegt ein grosses Familiengartenareal. Viele haben dort ein Gemüsebeet. Der grüne Flecken dient im Sommer als zusätzliches grünes Zimmer. «Klein Istanbul» mag unansehnlich wirken, aber für die BewohnerInnen ist die Siedlung eine Idylle.

Doch diese ist bedroht. «Es ist schwer für mich, alle meine Gefühle hängen hier dran», klagt Yildiz. Bis Ende September muss er seine Wohnung verlassen: Kündigung wegen Totalsanierung. Alle 48 Haushalte der drei Altliegenschaften an der Geiselfeldstrasse haben Ende Februar den blauen Brief erhalten. Brief? Es war nur ein Formular mit Kündigungsanzeige, ohne jedes Begleitschreiben. SchweizerInnen würde man so etwas nie zumuten. Bei MigrantInnen scheint sich selbst minimalster Anstand zu erübrigen. «Es lief mir kalt den Rücken runter», erzählt Yildiz.

Minimalismus war bei den Besitzern der Siedlung seit je Trumpf. Sie liessen die Wohnungen verlottern. «Nie wurde etwas gemacht, wir strichen die Küche immer selber», sagt eine Verwandte von Cengiz Yildiz. Kürzlich fiel während Tagen die Heizung aus. Familien mit Kindern froren und hatten kein warmes Wasser. Der Grund? Metin Sahin weiss es: «Die Verwaltung hat vergessen, neues Heizöl zu bestellen. Der Tank war leer.»

Ehemalige Von-Roll-Häuser

Metin Satin wohnt seit vierzig Jahren an der Geiselfeldstrasse. Er kam als Zehnjähriger mit den Eltern aus der Osttürkei hierher. Alle Nachbarn arbeiteten im Stahlwerk der Von Roll. Die Firma hatte die Wohnblöcke einst für ihre Arbeiter errichtet. Inzwischen sind sie längst veräussert. Von Roll hat mit dem Stahlwerk auch nichts mehr zu tun. Das Werk wurde 1996 verkauft und landete später bei der Schmolz + Bickenbach AG, deren Chefs sich als üble Abzocker einen Namen machten. Heute heisst das Unternehmen «Stahl Gerlafingen» und gehört dem italienischen Beltrame-Konzern.

Längst sind die Unterkünfte zum Spielball von Rendite suchenden Immobilienfirmen geworden. Es gab mehrere Besitzerwechsel. «Wir wussten oft nicht, wohin unsere Miete geht», erzählt Metin Sahin. Es sei nur kassiert worden. Regelmässig flatterte zu Saisonende eine Nachrechnung für die Nebenkosten auf den Tisch. Ob diese immer korrekt war, bezweifelt Clivia Wullimann: «Das müssen wir noch genauer anschauen», kündigt die Anwältin des Mieterinnen- und Mieterverbands an. Sie hat im Auftrag von 26 Partien die Kündigungen als missbräuchlich angefochten. Es kommt nun zu einem Verfahren vor der Schlichtungsstelle.

Wullimann hofft zumindest auf eine Mieterstreckung. «Es ist verantwortungslos, so viele Leute gleichzeitig auf die Strasse zu stellen», kritisiert sie. Das verursache grosse soziale Probleme, da es nirgends so günstige Wohnungen gebe. Die Mieten in «Klein Istanbul» sind tatsächlich tief. Neunhundert Franken für vier Zimmer, wenn auch alt und ohne Komfort. Doch daran stören sich die meisten BewohnerInnen gar nicht.

Am meisten schätzen sie, dass die Familien zusammenleben können. «Meine Mutter wohnt im nächsten Block, ich zusammen mit meinem Sohn in diesem», sagt Metin Sahin. Wo er nun Ersatz finden soll, weiss er nicht. Auch Cengiz Yildiz ist ratlos. Er meint, die Totalsanierung sei unnötig: «Warum kann man nicht einfach die Küchen und Bäder sanieren? Das würde uns genügen.» Doch darum geht es nicht. Die neue Besitzerin, die Narva Properties AG, plant mehr. Sahin will gehört haben, die Mieten würden sich nach der Renovation mehr als verdoppeln.

Strohmänner und Briefkastenfirmen

Das Vorgehen der Narva Properties AG nennt man Leerkündigung. Es ist die kompromissloseste Art, EigentümerInneninteressen durchzusetzen. Die MieterInnenverbände reklamieren, dass Immobilienfirmen immer häufiger so vorgehen würden. Als Alternative zum Rausschmiss fordern sie sozialverträgliche Umbauten, mit Etappierungen, temporären Umplatzierungen und schonenden Mietaufschlägen.

Wäre das in Gerlafingen nicht auch möglich? «Eine Etappierung kostet die Besitzer zu viel», verlautet es aus einem Zürcher Anwaltsbüro, das Narva Properties vertritt. Wieso braucht eine Immobilienfirma eigentlich Anwälte als Mediensprecher?

Recherchen bringen unklare Verhältnisse ans Licht. Die Narva Properties AG ist eine Briefkastenfirma im steuergünstigen Sarnen in Obwalden, 2008 von Christopher Lilliefelth gegründet. Der im Raum Zürich wohnende Unternehmer fiel vorher mit der Firma Mediacomet auf, die für Tamedia und Ringier Themenbeilagen produzierte und nach Betreibungen in sechsstelliger Höhe im Januar 2008 im Konkurs landete. Ein Sprecher der Marti & Marti AG aus Derendingen, welche die Verwaltung der Gerlafinger Wohnblocks besorgte, diese aber letztes Jahr abgab, spricht von Strohmännern. Der Gerlafinger Gemeindepräsident Peter Jordi (SP) war bei den Investoren im Zürcher Anwaltsbüro, weil betroffene MieterInnen bei ihm reklamiert hatten. Er liess sich über die Sanierungspläne informieren. Ein Baugesuch liege noch nicht vor, erklärt er. Die Möglichkeiten der finanzschwachen Gemeinde, Einfluss zu nehmen, seien beschränkt. Jordi verhehlt aber nicht, dass man ein Interesse an der Aufwertung des Quartiers habe.

Kemal Kaya, auch er ein ehemaliger Von-Roll-Arbeiter aus der Türkei, wohnt seit 25 Jahren an der Geiselfeldstrasse. Er hat Operationen am Herz und an der Hüfte hinter sich. Umziehen will der 75-Jährige auf keinen Fall mehr. Er sagt entschlossen: «Ich bleibe hier!»

Ralph Hug vom Pressebüro St. Gallen ist Redaktor des Magazins «Mieten & Wohnen».