Debatte: «Migration bietet eine Vogelschau auf die Welt»

Nr. 51 –

Auch 2024 zählten Asyl und Migration zu den dominierenden Themen in der Politik. Warum eigentlich? Ein Gespräch mit dem Historiker Kijan Espahangizi.

Portaitfoto von Kijan Espahangizi
«Über die Migrationsdebatte kann man alles Mögliche verhandeln – von der Rente bis zum Geschlechterverhältnis, von Religion bis Autobahn»: Kijan Espahangizi.

WOZ: Kijan Espahangizi, ob in der Schweiz, in der EU oder in den USA: Im zu Ende gehenden Jahr wurde vielerorts vehement über Migrationspolitik gestritten. In Ihrem Buch «Der Migration-Integration-Komplex» vertreten Sie die These, wir würden politische Debatten in diesen Bereich «outsourcen». Was passiert da genau?

Kijan Espahangizi: Das Thema Migration hat sich in den letzten Jahrzehnten vom Rand ins Zentrum gesellschaftlicher Auseinandersetzungen bewegt. Das ist erstaunlich und hat nur bedingt mit der realen Einwanderung zu tun. Entscheidend ist, dass bei dem Thema parallel immer auch grundsätzliche Fragen verhandelt werden: Wer gehört zur Gesellschaft? Auf welchen Werten und Institutionen soll unsere Gesellschaft beruhen? Indem man das als Migrationsthema diskutiert, findet eine mentale Auslagerung aus der Gesellschaft statt.

Man knüpft also alle diese Fragen an eine Gruppe, die politisch nicht mitreden kann: die Ausländer:innen?

Genau. Das erlaubt es, die Debatten mit einer gewissen Vehemenz zu führen. Dieser verknotete Migrationsdiskurs, in dem wir gleichzeitig über das Fremde und das Eigene diskutieren, führt in Widersprüche und verschärft Konflikte – das generiert wiederum medialen Umsatz. Für Politik und Medien ist es attraktiv, sich auf polarisierte Diskursroutinen beziehen zu können: Migration als Bedrohung oder Bereicherung. Dabei ist die Realität selten schwarz-weiss. Es ist wichtig zu verstehen, dass dies zwei Seiten desselben obsessiven Migrationskomplexes sind, dessen Geschichte ich untersuche und in dem auch die Linke feststeckt.

Der Migrationsforscher

Kijan Espahangizi (46) ist Privatdozent am Historischen Seminar der Universität Zürich und dort verantwortlich für die Lehrer:innenausbildung Sek I und II. Aufgewachsen ist er in Köln in einer deutsch-iranischen Familie. Er kam 2006 fürs Doktorat in die Schweiz, wo er sich mit der Migrationsgeschichte des Landes zu beschäftigen begann. Er ist Initiator des postmigrantischen «Think & Act Tanks» Institut Neue Schweiz (Ines) und selbst längst eingebürgert.

2022 ist sein Buch «Der Migration-Integration-Komplex. Wissenschaft und Politik in einem (Nicht-)Einwanderungsland, 1960–2010» bei Konstanz University Press erschienen, es ist als Download frei verfügbar. Darin legt Espahangizi eine politische Wissensgeschichte der Migration und der Integration vor und beschreibt, wie die Begriffe Wissenschaft und Politik beziehungsweise zivilgesellschaftliches und staatliches Handeln prägten.

Mittlerweile hat fast alles mit Migration zu tun: Sogar das Nein zum Ausbau der Autobahnen im November soll ein «Plebiszit über die Zuwanderung» gewesen sein.

Die Migrationsdebatte führt nicht nur zu wiederkehrenden Empörungsspiralen, sie ist auch expansiv. Man kann alles Mögliche darüber verhandeln – von der Rente bis zum Geschlechterverhältnis, von Religion bis Autobahn. Dass eine solche Debatte zu gefährlichen Sollbruchstellen führen kann, wissen wir nicht erst seit dem Brexit.

Ihr Buch ist eine politische Wissensgeschichte über Migration und beginnt in den sechziger Jahren. Können Sie die Karriere dieses Begriffs seither nachzeichnen?

Wir leben heute in einer Welt, die man sich ohne Migration gar nicht mehr vorstellen kann. Ich habe mich gefragt: Warum? Der erste begriffshistorische Befund meiner Forschung war schon deshalb erstaunlich: Wenn man bis in die achtziger Jahre auf der Strasse Leute gefragt hätte, was Migration bedeutet, hätten sie wenn, dann an Vogelkunde gedacht.

Wobei in der Schweiz schon früher über Einwanderung diskutiert wurde – zuvor etwa unter dem Kampfbegriff «Überfremdung». Ist da nicht einfach ein altes Wort durch ein neues ersetzt worden?

Sicher baut der Diskurs auf vorherigen auf. Ein zentrales Ergebnis meines Buches ist aber: Es gab eine Perspektivenverschiebung von der nationalstaatlichen zur globalen Ebene. Man stellt ab den siebziger Jahren immer mehr fest, dass grenzüberschreitende Bevölkerungsbewegungen nur verstanden werden können, wenn sie im globalen Zusammenhang gedacht werden, ökonomisch, sozial und demografisch. Der neue Migrationsdiskurs ist sowohl Ausdruck wie Motor einer allgemeinen Globalisierung im Denken. Ein- und Auswanderung, beide Wörter haben Vorsilben: Es geht hinein und hinaus aus dem nationalen Container. Der Begriff «Migration» hat keine Vorsilbe. Er bietet eine Vogelschau auf die Welt.

Woher stammt der Begriff?

Geprägt wurde er in den Sozialwissenschaften, wobei er rasch von verschiedensten gesellschaftlichen Akteuren aufgegriffen wurde, aus unterschiedlichen Gründen: Starke Resonanz erfuhr der Begriff im humanitären Bereich. Den Hilfswerken ermöglichte er, Entwicklungspolitik und Flüchtlingsbetreuung zusammenzudenken. In der Linken wollte man ab den siebziger Jahren den globalen Kapitalismus besser begreifen. «Migration» meinte hier internationales Arbeitskräftenachschubsystem und soziale Bewegung zugleich. Der Begriff hielt aber auch ins neoliberale Denken Einzug: Auch hier erschien «Migration» als eigendynamische Kraft, die nationale Verkrustungen aufbricht.

In Ihrer Aufzählung fehlen aber diejenigen, die heute den Begriff vor allem verwenden: die Rechtspopulist:innen.

Die Rechte hat den Begriff ebenfalls aufgegriffen, richtig. In den achtziger Jahren, nach der Ära der «Gastarbeit», erfindet sich die Rechte neu. Migration wird hier als neues globalisiertes Feindbild interessant. Das sieht man zum Beispiel 1992 in der berühmten Rede von SVP-Politiker Christoph Blocher an der Albisgüetli-Tagung kurz vor dem EWR-Nein. Die Feindbilder darin waren die EU und «Migration» – damals noch in Anführungsstrichen. Letztlich hatte aber auch der Staat ein Interesse an dem Begriff: Er stellte eine Klammer zwischen Politikfeldern her, die lange getrennt gedacht worden waren. Angesichts heutiger Migrationsbehörden können wir uns das gar nicht mehr vorstellen: Aus staatlicher Sicht hatte Asyl bis dahin nichts mit ausländischen Arbeitskräften zu tun.

Wie änderte sich das?

Das Asylrecht war zuvor – bis auf die Aufnahme von Kontingenten wie den Ungarnflüchtlingen – auf eine kleine Zahl von Fällen beschränkt. In den achtziger Jahren reichten dann immer mehr Personen aus nichteuropäischen Ländern auf eigene Faust in der Schweiz einen Asylantrag ein. Damit hatte niemand gerechnet. Genauso wie niemand vorhergesehen hatte, dass aus «Gastarbeit» Einwanderung werden würde. Weil die meisten westeuropäischen Länder in den siebziger Jahren Einwanderung über den Arbeitsmarkt eingeschränkt hatten, blieb vor allem der Weg über das Asyl. Das war letztlich ein historischer Zufall, der aber neue Realitäten und Konflikte produzierte. Die einen sagten: Das sind keine Asylsuchenden, sondern Wirtschaftsflüchtlinge. Die neu entstehende Asylbewegung forderte hingegen eine Ausweitung des Flüchtlingsbegriffs. Heute sterben Tausende Menschen im Mittelmeer, und wir stecken politisch fest. Dabei könnte es neben der EU-Personenfreizügigkeit und dem Asylrecht auch andere Zugänge geben.

Gab es in der Geschichte Vorschläge für einen solchen «dritten Weg»?

Mitte der neunziger Jahre gab es ein gewisses Fenster. Da wurde im Auftrag der Politik ein Punktesystem der Einwanderung diskutiert. Mehrere Frauenorganisationen schlugen ein Modell des sozialen Ausgleichs vor, mit Punkten nicht nur für Hochqualifizierte, sondern auch für Care-Arbeit, etwa bei Frauen aus dem Globalen Süden. Solche Konzepte liegen in der Schublade und wären neu zu entdecken.

Im von Ihnen untersuchten Zeitraum wird neben «Migration» auch ein zweiter Begriff wirkmächtig: «Integration». Zunächst nutzte ihn die Zivilgesellschaft, um die Idee der Assimilation zu kritisieren. Ab den Neunzigern diente er den Behörden unter der Parole «fördern und fordern» zur Disziplinierung. Heute scheint «Integration» kaum mehr diskutiert zu werden – es geht nur noch um Ausschluss.

Der Begriff «Integration» wird tatsächlich seit einigen Jahren in linken und humanitären Kontexten vermehrt kritisiert. Man spricht lieber von Vielfalt, Antirassismus und Inklusion. Aus historischer Sicht ist das erstaunlich. Integrationspolitik ist keine Erfindung der Rechten.

Benutzen Sie selbst den Begriff weiterhin?

Definitiv. Ich möchte das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Als in den sechziger Jahren klar wurde, dass ein Teil der «Gastarbeiter» nicht zurückgehen würde, entstand eine Auseinandersetzung darüber, wie sie Teil der Gesellschaft werden. Einerseits gab es die Schweizermacherfraktion, die assimilatorische Unterordnung einforderte, was eine lange Tradition hat. Andererseits entstand eine neue Antwort, die sich in der Mitenand-Initiative organisierte, einer landesweiten Bewegung von Einheimischen und Ausländer:innen. Die Initiative scheiterte 1981 zwar krachend an der Urne, hatte aber eine längerfristige Wirkung.

Nämlich?

Durch das Mitenand-Netzwerk verbreitete sich nach und nach die Vorstellung von Integration als struktureller Teilhabe und Öffnung der Gesellschaft. Der Marsch durch die Institutionen dauerte aber noch bis Ende der neunziger Jahre. Erst seitdem ist der Schweizer Staat gesetzlich verpflichtet, Geld in die Hand zu nehmen und Integration zu fördern. Heute werden mit diesem Budget Projekte gefördert, auch wenn nicht Integration draufsteht, sondern Inklusion, Vielfalt oder Antirassismus. Klar ist: Integrationsförderung ist eine historisch erkämpfte, institutionalisierte Struktur. Wenn man nur über Wörter streitet, verliert man diese politische Errungenschaft aus dem Blick.

Dennoch wird heute unter dem Begriff «Integration» wieder vor allem Anpassung verstanden.

Alle Begriffe werden ambivalenter, wenn sie sich erfolgreich verbreiten: In der heutigen Integrationspolitik steckt eben sowohl die Mitenand-Initiative als auch die alte Fremdenpolizei. Ich finde den Begriff daher weiter wichtig, auch für die Linke: Wenn man die Frage nach den normativen Grundlagen einer Gesellschaft nicht adressiert, überlässt man das den Rechten. Wer nur «Vielfalt» sagt, aber nicht, wie diese zusammenfindet, löst keine Probleme. Man muss sich auch unangenehmen Diskussionen stellen.

Welchen Diskussionen zum Beispiel?

Am Ende des Tages funktioniert eine Gesellschaft nur dann, wenn es auch eine hinreichend geteilte normative Grundlage gibt. Das heisst nicht, dass alle Raclette essen müssen. Aber wir leben zum Beispiel in einem säkularen, demokratischen Staat. Für die Scharia als Rechtsordnung und Geschlechtermodell sollte da ebenso wenig Platz sein wie für ein faschistisches Staatsverständnis.

Ist das tatsächlich ein Problem der Migrant:innen? Es kommen uns auch einige Schweizer:innen in den Sinn, die sich mal mit den demokratischen Grundlagen unseres Staates beschäftigen müssten.

Ich habe nichts gegen eine Integrationsdebatte für alle. Aber angesichts der gefährlichen Dynamik in der Migrationsdebatte sollte auch die Linke selbstkritisch über die Bücher. Nur weil es hausgemachte Probleme gibt, heisst das nicht, dass man nicht über Herausforderungen der Einwanderung sprechen sollte.

Sehr wesentlich für Teilhabe ist Mitbestimmung. Vor einem Monat ist die Demokratie-Initiative zustande gekommen. Sie fordert eine radikale Vereinfachung von Einbürgerungen. Was denken Sie dazu?

Ich bin sehr froh, dass die Initiative zustande gekommen ist, auch wenn mich im Wortlaut nicht alles überzeugt. Integration gelingt in der Schweiz relativ gut – ausser bei der Einbürgerung. Das ist gefährlich. Im Moment haben über 25 Prozent der Wohnbevölkerung kein Schweizer Bürgerrecht. In den Städten sind es schon mehr. Irgendwann sind wir bei vierzig, wenn wir nichts tun. Wir müssen mehr einbürgern. Dazu braucht es einen Perspektivenwechsel: Es geht eigentlich nicht um Ausländer, sondern um die Zukunft des Landes. Wir müssen uns ernsthaft die Frage stellen, ab wie viel Prozent unsere Demokratie kippt.

Wie kann die Initiative Erfolg haben?

Sie müsste sich noch viel mehr aus der eigenen Blase rausbewegen. Die Schweizer Armee könnte ohne Secondos dichtmachen. Wir müssen mehr Menschen überzeugen, die zwar der Einwanderung skeptischer gegenüberstehen, aber durchaus realistisch und pragmatisch sind. Denn eine Sache teilen wir alle.

Welche denn?

Dass wir alle unsere Heimaten verlieren. Wir Eingewanderten ebenso wie die Einheimischen. Die Welt wandelt sich rasant, selbst wenn man am selben Ort bleibt. Das ist eine Grunderfahrung der Moderne, die oft auch schmerzt. Warum nicht von geteilten Erfahrungen statt Ideologien ausgehen, um unseren Migrationskomplex zu überwinden und eine gemeinsame Zukunft zu gestalten?