Flüchtlingspolitik: Die Gefahr beginnt in den Dünen
Nie gab es auf der Fluchtroute zwischen Frankreich und Grossbritannien mehr Todesfälle als 2024. Die lückenlose Überwachung der Strände erzeugt zunehmend Not und Verzweiflung.

Blaulicht von sechs Kastenwagen flackert über der Küstenstrasse zwischen Blériot-Plage und Sangatte. Im Kegel der Polizeischeinwerfer erkennt man Silhouetten oben auf dem Dünenkamm. Die meisten, nicht alle, tragen Rettungswesten, deren Orange aus der Dunkelheit hervorsticht. Langsam werden sie von den Beamt:innen die Dünen hinuntergeführt. Dann bewegt sich die eigenartige Prozession im Schritttempo die Strasse entlang: etwa fünfzig Geflüchtete, die eben noch mit einem Boot über den Ärmelkanal nach England wollten, umringt von der Bereitschaftspolizei CRS, die diesen Versuch verhinderte.
Es ist Ende November, wenige Kilometer westlich von Calais – und der Polizeieinsatz eine reine Machtdemonstration: Nach einigen Hundert Metern biegt der Zug ab und kommt an einem Feldweg zum Stehen. Die Polizist:innen entfernen sich. Eine Frau in Rettungsweste erklärt, die Polizei habe sie am Strand abgefangen, mit Tränengas zurückgedrängt und das Schlauchboot mit einem Messer aufgeschlitzt. Sie reibt sich die brennenden Augen. Dann setzt sich die Gruppe wieder in Bewegung. «Wir gehen zurück in den ‹Jungle›», sagt die Frau, bevor sie in der Dunkelheit verschwindet.
Jungles, die provisorischen Camps von Geflüchteten, die hinüber nach Grossbritannien wollen, gibt es an der nordfranzösischen Kanalküste seit einem Vierteljahrhundert. Lange fanden die klandestinen Überfahrten versteckt auf oder unter Lkws statt, die von Calais oder Dunkerque per Fähre nach Dover fuhren oder durch den Eurotunnel. Seit sechs Jahren sind Boote das Hauptverkehrsmittel. Netzwerke von Schleusern organisieren die Überfahrten mit erheblichem Profit. Mehr als 34 000 Personen erreichten 2024 bis Mitte Dezember auf diese Weise die englische Küste – die zweithöchste Zahl seit dem Rekordjahr 2022, als es über 45 000 waren.
Geändert hat sich in diesem Jahr die Zahl der Todesopfer. «Mindestens 73 Migrant:innen kamen bis Mitte Dezember bei Havarien ums Leben», berichtet Célestin Pichaud, Koordinator bei der NGO Utopia 56, die an der Kanalküste im Einsatz ist. «Das sind mehr als in den letzten fünf Jahren zusammen.» Dass die aus China importierten Schlauchboote von miserabler Qualität sind, viele Passagier:innen nicht schwimmen können und längst nicht alle eine Rettungsweste haben, sind Gründe dafür, dass Geflüchtete im Ärmelkanal sterben. Abgesehen von der gewaltsamen Abschottungspolitik der europäischen Staaten, die keine sicheren Fluchtrouten vorsieht. All dies war in den letzten Jahren nicht anders.
Immer mehr Havarien
Deutlich verschärft hat sich die Lage dieses Jahr durch eine Reihe miteinander verknüpfter Faktoren: Da ist die immer lückenlosere Überwachung der Küste, nicht nur um die Fährhäfen Calais und Dunkerque, sondern über mehr als hundert Kilometer hinweg, von der belgischen Grenze bis zur Hafenstadt Boulogne-sur-Mer. Dem entgegen stehen die wirtschaftlichen Interessen der Schleuser, die pro Passagier:in zwischen 1200 und 2500 Euro verdienen. Je mehr Boote von der Polizei abgefangen und zerstört werden, desto voller beladen werden die übrigen. Durchschnittlich sind nun etwa sechzig Menschen an Bord, gegenüber vierzig im letzten Jahr. In den letzten Monaten waren es mehrfach um die achtzig.
«Hinzu kommt, dass die Polizeigewalt an den Stränden zunimmt, genauso wie der regelmässige Einsatz von Tränengas», so Utopia-56-Koordinator Pichaud. «Durch die Angst vor der Polizei entsteht beim Ablegen grosse Hast, sodass manche übervollen Schlauchboote ohne Bodenplatte ablegen, was sie noch instabiler macht.» Die zunehmend chaotischen Umstände der Abfahrten hätten bewirkt, dass seit dem Sommer mehrere Passagier:innen nicht ertrunken, sondern erstickt oder erdrückt worden seien. «Ausserdem kam es zuletzt immer mehr zu Havarien innerhalb von nur 300 Metern vom Strand», sagt Pichaud. Bis Oktober waren solche für die Hälfte der Todesopfer verantwortlich.
Als Konsequenz dieser enorm erschwerten Bedingungen verlagert sich das Geschehen zunehmend auf Strände südlich von Boulogne-sur-Mer – zum Beispiel nach Hardelot-Plage. «Von Calais aus ist es fast unmöglich geworden abzulegen. Also kommen die Migrant:innen hierher. Bei gutem Wetter gab es zuletzt fast täglich Abfahrten», berichtet Samir Khechib. Er unterstützt als Freiwilliger der NGO Osmose 62 Geflüchtete in der Region – etwa eine Gruppe, die Ende Oktober in den Dünen ausserhalb des Ortes campierte, um auf günstige Bedingungen für die Überfahrt zu warten. Die Überwachung sei in diesem Teil der Küste weniger lückenlos, doch gebe es eine Kehrseite, so Khechib: «Die Überfahrt dauert von hier aus viel länger als von Calais. Aber die Menschen gehen das Risiko ein.»
Auch für Hardelot-Plage gilt derweil, dass die Gefahren zunehmend in Strandnähe liegen. Khechib zeigt auf seinem Telefon Aufnahmen eines übervollen Bootes, das Ende Oktober vom Strand ablegt. Eine Reihe von Personen versuchen, im Wasser stehend, vergeblich, an Bord zu kommen. Eine andere Aufnahme zeigt den Helikopter, der sie schliesslich retten musste. «Es spielten sich surreale und dramatische Szenen ab, da es an der gesamten Küste zu zahlreichen Abfahrten kam», berichtete die NGO an diesem Tag auf ihrer Facebook-Seite. «Sobald es ein günstiges Wetterfenster gibt, stürzen sich Hunderte von Geflüchteten ins Wasser und sind bereit, jedes Risiko einzugehen.»
Schiessereien unter Schleusern
Zu dieser Risikobereitschaft trägt auch die Situation vor der Abfahrt bei: die Entbehrungen des Lebens unter den Brücken von Calais, in einem dünnen Zelt in einem windgepeitschten Küstenwäldchen oder im Jungle ausserhalb von Dunkerque, dem grössten der informellen Camps. Gerade dort lauert eine weitere Gefahr: Die Schleuser, die das Camp organisieren, tragen ihre Konkurrenz in der Gegend auch mit Waffen aus. Bereits vergangenen Herbst berichtete ein Bewohner, er höre nachts des Öfteren Schiessereien.
Dass die Netzwerke der Schleuser die Abhängigkeit der Geflüchteten auf brutalste Weise ausnutzen, zeigte sich einmal mehr Anfang Dezember: Die WOZ konnte mit einem Mann sprechen, der zu einigen Bootspassagieren gehörte, die in der Nacht zuvor mitten auf dem Kanal von Schleusern ins Wasser geworfen wurden, da das Boot zu sinken drohte. Er wurde gerettet und an Land gebracht. Der Mann war schwer traumatisiert und konnte über seine Erlebnisse nur mühsam berichten. Um seine Identität zu schützen, war es ihm wichtig, dass sein Name sowie Details zum Treffen in diesem Artikel unerwähnt bleiben.
Den Tod gesehen
Laut der NGO Utopia 56 ist dies nicht der erste derartige Fall. So sei es schon vorgekommen, dass Passagier:innen, die sich eine Überfahrt nicht hätten leisten können und versucht hätten, in der Hektik des Aufbruchs ungesehen an Bord zu kommen, ins Meer geworfen worden seien. Auch Osmose 62 bestätigt, dass Schleuser schon früher zu solchen Massnahmen gegriffen hätten – allerdings meist in Ufernähe und nicht mitten auf dem Meer. Der schwer traumatisierte Mann sagt, er habe in jener Nacht den Tod gesehen. Trotzdem ist er weiterhin entschlossen, Grossbritannien zu erreichen.
Am Tag nach der eingangs erwähnten gescheiterten Überfahrt kreisen zwei Drohnen über den Dünen. So lassen sich auch die vielen einsamen, teils schwer zugänglichen Strände an der Küste ständig überwachen. Das Schlauchboot, etwa neun mal zwei Meter lang, das am Dünenrand liegt, weist einen Messerschnitt auf. Im Sand davor enden mehrere Spuren von Dünenbuggys, die die Polizei bei diesen Operationen einsetzt. Zwischen den zurückgelassenen Kleidern und Essensverpackungen finden sich zwei Schubkarrenschläuche, offenbar als Ersatz für eine Schwimmweste gedacht. Im Sand liegen mehrere abgefeuerte Tränengaskartuschen.